NUMMER 107
FREITAG, 13. JULI 1951
Rentenzuiage^Gesefe verabschiedet
Jugendgesetz / Gesetz über Getreidepreise Von unseret Bonner Redaktion
BONN. In seiner bis nach Mitternacht dauernden Mittwochsitzung verabschiedete der Bundestag in dritter Lesung das Rentenzulagegesetz, durch das die Renten der Invaliden-, Angestellten- und Knappschaftsversicherten um 20—25 Prozent erhöht werden. Gleichzeitig wurde in allen drei Lesungen das Gesetz zur zweiten Änderung des Soforthilfegesetzes verabschiedet, wonach den Empfängern der Soforthilfe Rentenzulagen nicht abgezogen werden dürfen. Die SPD lehnte das von den Regierungsparteien gestützte Rentenzulagegesetz ab, weil es nicht den Mindestforderungen der Sozialdemokratie entspreche. Zwei Millionen Sozialrentner, so argumentierte die SPD, würden gar nicht oder völlig unzureichend unterstützt. Im einzelnen sieht das Gesetz folgende Zulagen vor: 5 DM für Renten bis zu 25 DM, 7.50 DM bei Renten von mehr als 25—35 DM, 10 DM bei Renten von mehr als 35—45 DM, 12.50 DM bei Renten von mehr als 45—55 DM; 15 DM bei Renten von mehr als 55—65 DM; 17.50 DM bei Renten von mehr als 65—75 DM; 20 DM bei Renten von mehr als 75—85 DM; 22.50 DM bei Renten von mehr als 85—95 DM monatlich. Die Zulagen steigern sich um 2.50 DM monatlich für jede weitere der in Stufen von 10 DM monatlich fortschreitenden Rentengruppen. Bundesfinanzminister Schäffer erklärte, daß durch dieses Gesetz der Bund um zusätzlich rund eine MifRon DM belastet werde.
Das verabschiedete Jugendschutzgesetz regelt die Teilnahme von Jugendlichen an Tanzveranstaltungen, Kinobesuchen u. a. m. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen darf Jugendlichen unter 16 Jahren bis 22 Uhr unter der Leitung eines Erziehungsberechtigten erlaubt werden. Dasselbe gilt von 22 bis 24 Uhr für Jugendliche bis zu 18 Jahren.
Zu Filmvorführungen dürfen Kinder unter 10 Jahren nur dann zugelassen werden, wenn die Veranstaltung bis spätestens 20 Uhr beendet ist und der Film als jugendfördernd anerkannt wurde. Jugendliche von 10 bis 16 Jahren dürfe ins Kino gehen, wenn die Veranstaltung bis 22 Uhr zu Ende ist. Der Besuch von Variete-, Kabarett- und Revueveranstaltungen sowie von bestimmten Ausstellungen ist allen Jugendlichen unter 16 Jahren nicht erlaubt Das gleiche wird hinsichtlich des Besuchs von öffentlichen Spielsälen sowie für die Teilnahme an Glücksspielen festgesetzt. Das Gesetz bestimmt außerdem, daß Jugendliche unter 16 Jahren in der Öffentlichkeit nicht rauchen dürfen. Der Aufenthalt in Gaststätten ist Jugend, ichen unter 16 Jahren nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten erlaubt. An Jugendliche unter 18 Jahren dürfen Gaststätten keinen Alkohol ausschenken.
Dann wurde gegen die Stimmen der SPD, ■WAV, KPD und des Zentrums sowie eines Teils der FDP-Fraktion das Gesetz über Preise für Getreide inländischer Erzeugnisse verabschiedet. Im Verlauf der Debatte hatte Staatssekretär Hartmann vom Finanzministerium erklärt, daß die Subventionierung des Konsumbrots unter allen Umständen fortgesetzt werde. Das Getreidegesetz bestimmt keine festen Preise, sondern räumt je nach den Preisgebieten eine mögliche Preisdifferenz von 20 DM ein. Diese „von-bis-Preise“ wurden von der Opposition erneut abgelehnt. Das Gesetz gibt der Bundesregierung die Möglichkeit,
Sßdwestfunk vertrag bejaht
TÜBINGEN. Das Kabinett von Württem- berg-Hohenzollem hat auf seiner letzten Sitzung den Abschluß eines Staatsvertrags der Länder Rheinland-Pfalz, Südbaden und Würt- temberg-Hohenzollern über den Südwest- fuhk grundsätzlich bejaht. Die Ausarbeitung der Einzelbestimmungen soll Verhandlungen zwischen den an einem solchen Vertrag beteiligten Kreisen Vorbehalten bleiben. Diese Verhandlungen sollen schon in Kürze stattfinden. Ein Termin wurde jedoch noch nicht genannt.
durch Verordnungen festzulegen, daß für jeden Kauf von Getreide vom Käufer ein Schlußschein auszustellen ist. Auch kann die Regierung im Bedarfsfälle vorschreiben, inwieweit die in Verkehr gebrachten Getreideerzeugnisse bestimmten Betrieben oder Stellen anzubieten sind. Schließlich wird auch noch die Möglichkeit von Rechtsverordnungen über den Bezug von Getreideprodukten durch gewerbliche Unternehmen sowie für den Handel und den Konsum gegeben. Als Anreiz für eine frühzeitige Ablieferung von Brotgetreide sieht das Gesetz Frühdruschprämien vor, die im August bei Roggen 30, bei Weizen 20 DM, im September 25 bzw. 18 und vom 1. Oktober bis 15. November 20 bzw. 16 DM betragen sollen.
Zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition kam es am Mittwoch und Donnerstag bei der Beratung des Gesetzes über die Investitionshilfe der deutschen gewerblichen Wirtschaft. Nachdem der Bundestag in der Nacht zum Donnerstag mit 177:123 Stimmen beschlossen hatte, dieses Gesetz in Ruhe erst nach den Parlamentsferien zu beenden, kündigte Bundeskanzler Adenauer am Donnerstag früh an, falls es
eine Notwendigkeit für die deutsche Wirtschaft sei, werde er gemäß den Bestimmungen der Verfassung den Bundestagspräsidenten ersuchen müssen, eine Sondersitzung in den Parlamentsferien anzusetzen. Als der Bundeskanzler von einer „Ermüdung des Bundestags“ sprach, kam es zu tumultartigen Protesten. Abg. E r 1 e r (SPD) erklärte unserer Bonner Redaktion, es sei einfach eine „Unverfrorenheit“, wenn die Regierung Gesetzentwürfe, für deren Vorlage sie lange Zeit gehabt habe, unter dem Druck von Terminnöten dem Parlament zu einer überstürzten Entscheidung vorlege.
Über das Strafrechtsänderungsgesetz, das vor allem der Bedrohung der Republik durch die extremen Kräfte der Linken und Rechten entgegentreten soll, war schon vor der dritten Lesung im Rechtsausschuß zwischen Regierungsparteien und Oppositionübereinstimmung erzielt worden. In der Debatte machte Abg. Kiesinger (CDU) kein Hehl aus den Grenzen jedes rein strafrechtlichen Schutzes eines Staates. Aber, so erklärte Kiesinger, zur KPD gewandt: „Durch Leute wie Sie sind wir zu diesem Gesetz gezwungen worden. Wir haben lange genug zugesehen, wir müssen handeln.“ Für die SPD sagte Dr. Arndt, kein Gesetz sei dem Parlament so schwer gefallen, wie dieses. Das Parlament werde darüber wachen, daß die Grundrechte der Bürger gewahrt blieben.
Friedensvertragsentwurf für Japan
Friedenskonferenz beginnt am 3. Sept. in San Franzisko / „Souveräne Nation“
WASHINGTON. Die Westmächte veröffentlichten am Donnerstag in Washington und London den Entwurf zu einem Friedensvertrag mit Japan. In ihm wird Japan als souveräne Nation anerkannt, der jede Gelegenheit ge-, geben werden solle, zum gemeinsamen Wohl und zur internationalen Sicherheit beizutragen und den Antrag auf volle Mitgliedschaft in den UN zu stellen.
Der Entwurf enthält folgende Hauptpunkte: Japan verzichtet auf seine Ansprüche auf Formosa, Korea, die früher unter seiner Mandatsverwaltung stehenden Pazifikinseln und verschiedene andere pazifische Gebiete; zuerkannt wird ihm das Recht, sich an kollektiven Sicherheitsvereinbarungen zu beteiligen und bieder multilaterale Abmachungen über die weitere Stationierung ausländischer Streitkräfte in Japan zu treffen; mit Ausnahme einiger Sonderfälle werden die Alliierten auf sämtliche Reparationsforderungen verzichten.
Der Vertragsentwurf, der über 50 Nationen zur Begutachtung vorgelegt wurde, faßt die
anglo-amerikanischen Vorschläge und die Stellungnahmen anderer Nationen zusammen. Das amerikanische Außenministerium gab bekannt, daß der Entwurf allen Staaten, die sich mit Japan im Krieg befanden, offiziell zugeleitet werde zusammen mit einer Einladung zu einer Konferenz, auf der die endgültige Fassung des Vertrags ausgearbeitet und unterzeichnet werden soll. Diese Konferenz werde am 3. September in San Franzisko beginnen.
Der Vertrag tritt in Kraft, wenn die Ratifikationsurkunden von Japan und der Mehrheit der Alliierten hinterlegt worden sind. Nach den Bestimmungen des Vertragsentwurfs ist der Kriegszustand mit Japan in dem Augenblick beendet, in dem dieser Vertrag in Kraft tritt.
Die Schwierigkeit der Frage, welches China zur Unterzeichnung des Friedensvertrags herangezogen werden soll, wurde dadurch umgangen, daß Japan selbst entscheiden soll, mit welcher chinesischen Regierung es den Vertrag abschließen will.
Kleine Weltchronik
TÜBINGEN. Als Vertreter des Landes Würt- temberg-Hohenzollern im Bundeskuratorium für Jugendfragen ist vom Tübinger Kabinett an Stelle von Dr. Zimmerte, welcher unlängst als Senatspräsident zum Spruchsenat für Soforthilfesachen nach Bad Homburg berufen wurde, Regierungsrat Dr. Karl Zimmermann, der gegenwärtige Leiter der Fürsorgeabteilung des Innenministeriums in Tübingen, bestimmt worc'en.
BONN. Bundeskanzler und Außenminister Dr. Adenauer veranstaltete am Mittwoch im Palais Schaumburg das „erste diplomatische Gartenfest der Bundesrepublik“. Über 50 ausländische Diplomaten nahmen teil.
BONN. Das Bundesinnenministerium wies am Mittwoch Pressemeldungen, nach denen eine Verstärkung der Grenzschutzpolizei auf 90 000 Mann geplant sein sollte, als völlig unsinnig zurück.
BONN. Nunmehr haben folgende Länder den Kriegszustand mit Deutschland beendet: Brasilien, Indien, Ägypten, Mexiko, Großbritannien, Australien, die Südafrikanische Union, Italien, Ceylon, Kanada, Luxemburg und die Dominikanische Republik.
LEIPZIG. Das Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts in Leipzig ist mit der über 300 000 Bände umfassenden Bibliothek in das Eigentum der Stadt Leipzig übergegangen. Der im Krieg teil
weise zerstörte Bau ist wieder hergestellt und der sächsischen Justizverwaltung zugeteilt worden.
PARIS. Die 6. Vollversammlung der UNESCO wurde am Mittwochabend in Paris beendet. In der Schlußansprache erklärte der Leiter der Delegation der Bundesrepublik, Prof. Walter Erbe, Tübingen, die Bundesrepublik hoffe, der Sache der Menschlichkeit zu dienen, wenn sie an der allgemeinen Aufgabe mitarbeite. Erbe gab weiter bekannt, daß im Bonner Bundeshaus eine große Demonstration zur Förderung des Gedankens der UNESCO geplant sei.
TOPEKA (Kansas). Gewaltige Regenfälle haben in den letzten 24 Stunden in dem amerikanischen Mittelwest-Staat Kansas zu riesigen Überschwemmungen geführt. Platzregen bis zu 200 Millimeter Niederschlagshöhe verwandelten die Felder und Fluren weithin in Sümpfe. In der Stadt Marion steht das Wasser 3 m hoch in den Straßen. In Topeka selbst wurde mit der Evakuierung von 10 000 Einwohnern begonnen. Weitere Regenfälle sind angekündigt.
WASHINGTON. Nach Berichten von Flüchtlingen hinter dem eisernen Vorhang nimmt die Säuberungswelle in Ungarn immer schärfere Formen an. Bisher sind ungefähr 30 000 Einwohner von Budapest aus der Stadt deportiert worden und auf dem Lande „zum Teil wie Tiere in den Ställen“ untergebracht.
Weder . . . noch
cz. In einer Debatte des Landtags von Nord- rhein-Westfalen über die Bereitschaftspolizei erklärte ein Sprecher „der nationalen Rechten in der FDP-Fraktion“: „Es ist besser, wenn die Polizisten den Badenweiler-Marsch pfeifen, als wenn sie die Internationale singen.“ Wir brauchen hier wohl nicht zu erörtern, vor welche Alternative der „ehrenwerte“ Abgeordnete uns stellt: Lieber Hitler als Stalin. Das wäre ungefähr dasselbe. Wir meinen aber doch: Weder Hitler (respektive Nachfahren!) noch Stalin. Um unsere Hinwendung zum Westen und Ablehnung der östlichen Diktatur zu bekräftigen, bedarf es da der Beschwörung Hitlers in Form des Badenweiler-Marsches? Vielleicht ist dem „Volksvertreter“ gar nicht aufgegangen, was er sagte und wollte er nur seinem marschierfreudigen Herzen Luft machen. Das sei ihm für seine Person unbenommen, aber bitte ohne Badenweiler-Marsch!
Um die Rehabilitierung
Das Anliegen der Amtsverdrängten
TÜBINGEN. (Eig. Ber.) Über Fortschritte des „Verbandes der nichtamtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer“ in seinen Bemühungen um die Rehabilitierung der rund 3000 auch heute noch von Forschung und Lehre femgehaltenen Hochschullehrer referierte dessen geschäftsführender Vorsitzender, Dozent Dr. habil. Herbert G r a b e r t, am Mittwoch in Tübmgen. Der Verband hat inzwischen zu einer festen Gliederung in Hochschulgruppen und Landesverbänden gefunden, in Bonn Verbindung aufgenommen und sieht sich in der Lage, seinen Mitgliedern vom Erlaß eines Hochschulgesetzes im armen Lande Schleswig- Holstein zu berichten, das die Verbandsziele, nämlich völlige Rehabilitierung der durch die Entnazifizierung nicht in die Gruppen I und II eingereihten Hochschullehrer, in jeder Hinsicht befriedigt. Der Verband läßt weiter wissen, daß in Niedersachsen demnächst mit der Veröffentlichung eines entsprechenden Gesetzes zu rechnen sei.
Der Geschäftsführer hat es seit der ersten Pressekonferenz im Frühjahr verstanden, die Verbandsziele zu präzisieren und so zu beschränken, daß sie durchaus als Grundlage einer allseits befriedigenden Regelung angesehen werden können. Vorgeschlagen wird, die erfolgreich entnazifizierten beamteten Hochschullehrer zu emeritieren, in die Personalverzeichnisse ihrerStammhochschulen aufzunehmen und dann von Fall zu Fall sogenannte „Professuren ad personam“ (künftig wegfallende Professuren) einzurichten, um die Rehabilitierten, wenn nötig und möglich, zu beschäftigen. Zur Rettung des ordinariatsreifen Nachwuchses wird die Einrichtung neuer Diäten-Dozenturen vorgeschlagen. Auch für Südwürttemberg rechnet der Verband nach dem Wegfall des Gesetzes aus dem Jahre 48 mit der Notwendigkeit, eine neue Rechtsgrundlage zu schaffen, und wird sich angelegen sein lassen, diesen Anlaß zum Vortrag seiner Wünsche zu benützen.
Triestfrage wieder akut
Italien droht mit Haager Gerichtshof
ROM. Zu der von der italienischen Presse mit neuer Schärfe aufgerollten Triestfrage hat am Mittwoch Ministerpräsident de Ga- s p e r i selbst Stellung genommen und erklärt, Italien werde seine Ansprüche auf Triest und das Freistaatsgebiet notfalls vor den Haager Internationalen Gerichtshof bringen. Italien halte das Übereinkommen der drei Westmächte vom 20. März 1948, das sich für eine spätere Rückgabe Triests an Italien aussprach, auch heute noch für gültig und werde darauf bestehen, daß es nicht geändert werde.
Vom amerikanischen State Department wurde dem italienischen Geschäftsträger versichert, daß die Vereinigten Staaten sich nach wie vor an das Dreierabkommen von 1948 gebunden fühlten. Auch das britische Außenministerium bezeichnete die italienischen Vorwürfe als unbegründet.
Der verschlossene MUND
Roman von Doris Eicke
Alle Hechle Verlegiheut Reutlingen
44]
„Um Gottes willen, Andrea, fassen Sie sich!“ sagte er und stützte sie unauffällig. Sie gewann die Herrschaft über ihre Glieder schnell zurück, aber ihre Lippen waren weiß vor Erregung. Tillmann übernahm ihren Koffer, den sie selbst in ihrer Verfassung einfach vergessen und liegen gelassen hätte.
„Warum sind Sie nicht fortgefahren?“ fragte sie mühsam im Weiterschreiten.
„Ich konnte nicht — und ich wollte es auch nicht. Seit Sie fortfuhren, habe ich jedes Schiff hier anlegen sehen, ich habe nichts getan als gewartet. Einmal mußten Sie ja wiederkommen, um Detlev zu holen.“
„Ja“, wiederholte sie mechanisch, „einmal mußte ich — wiederkommen.“
„Andrea, ich sehe Ihnen an, daß Sie Schweres erlebt haben. Ist es nicht gut, daß ich hier geblieben bin?“
Sie wandte den Kopf nach ihm und schaute ihn an, verzweifelt, angstvoll oder schutzsuchend — er vermochte ihren Blich nicht zu deuten. Nur eines fühlte er genau: sie war enttäuscht und unglücklich von ihrem Mann zurückgekommen. Ihr wehrhafter Schild war zerbrochen, sie trieb schicksalhaft auf ihn zu und wußte das auch. Nur so war ihr maßloses Erschrecken bei seinem Anblick zu erklären.
Er geleitete sie fürsorglich ins Hotel, holte ihre Poßt aus der Portierloge und stieg Seite an Seite mit ihr zum ersten Stock empor. Angesichts ihrer Erschütterung versuchte er gar nicht erst, ein Gespräch anzubahnen. Vor ihrer Zimmertür huschte eine glühende Röte über ihr gesenktes Gesicht. Hier, an dieser
Stelle war es gewesen — hier hatte alles seinen Anfang genommen. Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke, dann schloß er die Zimmertüre auf und stellte den Koffer um die Ecke.
„Werde ich Sie beim Mittagessen sehen?“
„Ich glaube nicht, ich möchte mich ein wenig hinlegen, ich habe heute nacht kaum geschlafen.“
„Soll ich Ihnen das Essen heraufschicken lassen? Durch Fasten wird nichts gebessert.“
„Nein — aber trotzdem — ich kann nicht — ich —.“ Unvermittelt, von seiner Fürsorge gerührt, brach sie ab, begar zu weinen und machte beschämt ein paar Schritte ins Zimmer hinein. Tillmann schaute einen Augenblick mitleidig auf ihre zuckenden Schultern, dann schloß er behutsam die Tür und nahm sie in seine Arme. Es lag etwas Besitzergreifendes in dieser Gebärde. Sie legte ohne Widerstreben, wie ein schutzsuchendes Kind, ihren Kopf an seine Brust und schluchzte noch ein paarmal auf, dann wurde sie unvermittelt ruhiger. Er holte sein Taschentuch heraus und wischte ihr damit die Tränen ab. Als er versuchte, ihr die Nase zu putzen, genau so, wie sie es mit Detlev tat, mußte sie in all ihrem Elend ein wenig lachen. Er nahm ihr den Mantel ab, stellte den Koffer zum öffnen bereit auf den Träger und deckte schließlich sogar das Bett auf, alles mit der selbstverständlichen Vertraulichkeit eines alten Freundes oder sogar eines Ehemannes. Im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos schaute sie diesem Beginnen zu.
„Ich lasse Dich jetzt allein, Du bist übermüdet und mußt schlafen“, sagte er sanft. „Wirst Du es können oder soll ich Dir eine Tablette besorgen?“
„Nein — danke“, flüsterte sie verwirrt.
„Um fünf Uhr komme ich nach Dir sehen, darf ich?“
„Ja -.“
„Träume etwas Gutes — wenn möglich von
mir, oder ist das ganz ausgeschlossen?“ fragte er lächelnd.
„Nein —.“
„Ach Du kleine Stumme! Kannst Du nichts anderes mehr sagen als ja und nein?“
„Ich muß mich erst — zurechtfinden —.“
Er nickte ihr zu, ging und schloß behutsam die Tür hinter sich. Er war noch keine zwei Schritte entfernt, als er hörte, wie sie den Schlüssel im Schloß umdrehte. Eg gefiel ihm gut, wie alles, was sie tat.
Andrea zog langsam ihr Kleid über den Kopf, dann holte sie ihre Toilettensachen aus dem Koffer und begann sich zu waschen. Wieder, wie in jener Nacht, prüfte sie im Spiegel ihr Gesicht, dann sagte sie ernst und schicksalergeben in ihre wissenden Augen hinein: „Jetzt ist es um mich geschehen!“ Hätte er vorhin ihre Schwäche auszunutzen versucht, wäre ihr vielleicht die Kraft zurückgekehrt, sich gegen ihn zu wehren. Daß er aber so liebevoll und zart mit ihr umging, brach ihren Widerstandswillen vollends. Er war ein guter Mensch, und nun mochte kommen, was wollte.
Als Tillmann um fünf Uhr bei ihr klopfte, stand Andrea erfrischt und in besserer seelischer Verfassung vor ihm. Sie hatte sich für ihn schön gemacht. Während er sie sonst nur in sportlichen Kleidchen oder in ihren weiten blauen Schiflerhosen kannte, trug sie jetzt ein duftiges Kleid aus großblumigem Tüll und zierliche weiße Stöckelschuhe. Er legte ihr einen riesigen Strauß roter Rosen in den Arm, so groß, daß sie ihn kaum fassen konnte. Als sie sich mit einem Laut des Entzückens darüber beugte, um ihren Duft einzuatmen, verwandelten sie sich vor ihren schwimmenden Blicken plötzlich geheimnisvoll in die weißen und roten Nelken, die Niels ihr bei ihrer Ankunft in Berlin geschenkt. Entschlossen schüttelte sie die Täuschung ab und reichte Tillmann mit einem warmen, jungmädchenhaften Lächeln die Hand.
„Wie schön Du bist!“ sagte er bewundernd. „Ach“, wehrte sie errötend ab, „mit solchen Rosen im Arm ist jede Frau hübsch.“
Er antwortete nicht, sondern fuhr fort, sie andächtig zu betrachten, big sie verlegen wurde und sich abwandte.
„Wo bringe ich sie nun unter? Das Waschbecken ist doch zu profan.“
„Wir gehen jetzt ins Dorf und holen eine Vase oder zwei, irgend etwas Annehmbares wird sich ja auftreiben lassen. Du brauchst sie jetzt, und nachher schenkst Du Sie einfach dem Zimmermädchen, wenn Du wegfährst.“
„Wie hübsch, wenn jemand einem sogar das Denken abnimmt.“
„Hast Du eg nicht gern, wenn Du ein wenig verwöhnt wirst? Die meisten Frauen sind empfänglich dafür.“
„Doch.“ Sie schaute ihn von untenherauf prüfend und mit gerunzelter Stirne an, dann warf sie auf einmal den Kopf in den Nacken, genau so trotzig, wie sie einmal nachts in der Düne wiederholt hatte, daß Detlev — er — über seine Abreise betrübt gewesen sei. Er faßte sie an beiden Armen und zog sie an sich heran.
„Sag mir, was Du eben gedacht hast, Andrea.“
„Das kann ich nicht.“
„Bitte!“
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Ich heiße Rainer.“
„Rainer —
„Sag mir, wag Du gedacht hast!“
„Ach — nichts.“
„Doch. Du warfst den Kopf zurück und warst ärgerlich. Worüber?“
„Ich weiß es nicht mehr“, wich sie bedrängt aus.
„Dann will ich es Dir sagen: Es hat Dich verstimmt, daß ich sagte, die meisten Frauen wollten gerne verwöhnt werden. Ist es nicht so?“ (Fortsetzung folgt)