NUMMER 106
MITTWOCH, 11. JULI 1951
Bemerkungen zum Tage Bevangruppe: „Kanonen und Butter“
«Noble Geste« ? Britische Labour-Opposition veröffentlicht Programm / Gegen die Aufrüstung
cz. „Diese Maßnahme wird das Prestige der deutschen Bundesrepublik erhöhen und den im Ausland lebenden Deutschen größere Rechte einräumen. Sie beendigt nicht die Befugnisse der Besatzungsmächte in Deutschland, da deren Rechte nach Ansicht Trumans auf Deutschlands bedingungsloser Kapitulation und der von den Alliierten übernommenen Oberhoheit beruhen. Die Beendigung des Kriegszustandes ebnet jedoch den Weg für die Neuaufnahme vertraglicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den freien Nationen.“ So schreibt die „New York Times“
Deutsche werden künftig in den betreffenden Ländern nicht mehr als „feindliche Ausländer“ behandelt, im Wirtschaftsverkehr ergeben sich gleichfalls einige Erleichterungen, aber — sonst ändert sich so gut wie nichts. Es bleibt also praktisch bei dem von Präsident Truman in seinem Schreiben hervorgehobenen und anderwärts ähnlich ausgedrückten „psychologischen Effekt“. Wer kann da mit gutem Gewissen von einem „großen Fortschritt“ sprechen, es sei denn, man geht von der Verlorenheit der Bundesrepublik zwischen den Weltmächten und dem Zwang der Situation, um jeden Preis Sich mit dem Westen zu verbinden, aus. Die reichlich spät kommende „noble Geste“ ist kein Friedensvertrag, sondern nur eine unumgänglich gewordene Anerkennung einer Entwicklung, an deren Ende die Einbeziehung der Bundesrepublik in die westliche Verteidigung steht. Schließlich kann man ja nicht Deutsche in eine Europa-Armee einstellen, solange diese noch als „Feinde“ der neben ihnen stehenden Angehörigen anderer Länder anzusehen sind. Wie vieles wird aber nicht einmal formal „beendet“, was gleichfalls dasselbe Schicksal verdiente. Die „Normalisierung der deutsch-al- lüerten Beziehungen“, wie wiederholt betont wurde, können wir in diesem Formalakt keineswegs sehen. Wir wissen jetzt nur, daß die Wiederbewaffnung Westdeutschlands immer näher rückt, was so wenig beruhigend wirkt wie Demonstrationen ohne Auswirkungen.
Sdiuljzaun aus Paragraphen
hr. Mit dem 6. Mai 1945 trat Deutschland unter fremde Militärverwaltung. Es hatte seine Souveränität an die vier Befehlshaber verloren, entscheidende staatliche Grundlagen waren „demontiert“, und damit konsequenterweise auch die Abschnitte Hoch- und Landesverrat des sonst im ganzen beibehaltenen Deutschen Strafgesetzbuches. Nachdem sich aber unter der Protektion der westlichen Besatzungsmächte in Form der Bundesrepublik ein Staatswesen neu zu bilden begann, empfand man rasch das Bedürfnis, es nach innen und nach außen wieder abzuschirmen. In diesen Tagen berät der Bundestag die vom Kabinett entworfene Strafrechtsnovelle. Konkreter Anlaß war die staatsgefährdende Tätigkeit der KPD und Ihrer Nebenorganisationen. Das kann allerdings in den neutralen Fassungen, die die Rechtsnormen erhalten müssen, nicht zum Ausdruck kommen. Und so ruft die vorgesehene Paragraphengruppe die beiden deutschen Grundprobleme ins Gedächtnis: Die Zweiteilung Deutschlands — denn Hochverrat und zuchthauswürdiges Verbrechen ist im Westen das, was drüben als staatstreue Gesinnung gilt und umgekehrt (die Ostzone erließ ja schon vor Monaten ihr sogenanntes „Friedensschutzgesetz“) — und weiter die fehlende deutsche Souveränität, denn als Landesverräter gilt, wer vorsätzlich ein Staatsgeheimnis preisgibt. Auch hier empfindet man die einseitig gegen Osten gerichtete Spitze. Staatsgeheimnisse gegenüber den westlichen Alliierten, gegenüber Frankreich z. B., sind ja in der Praxis gar nicht denkbar. In Gremien, in denen für die Bundesrepublik wirklich wichtige Fragen besprochen werden, haben die Westmächte ohnehin ihre Beobachter, wenn sie nicht gar, wie bei den Petersberg-Verhandlungen, selbst tonangebend sind.
Der Eifer und der Optimismus des Bonner
LONDON. Die Gruppe von Labour-Politi- kern, die hinter dem zurückgetretenen britischen Arbeitsminister Aneurin B e v a n steht, hat am Montagabend unter dem Titel „Nur ein Weg“ eine „sozialistische Analyse der gegenwärtigen Weltkrise“ veröffentlicht. Die zurückgetretenen Minister Bevan und Wilson weisen in der Einleitung darauf hin, daß die Broschüre eine Diskussionsgrundlage bilden solle.
Die Argumentation der Bevan-Gruppe gipfelt in der Feststellung: Der Sozialismus muß dem Kommunismus durch Hebung des Lebensstandards der ärmeren Bevölkerung in aller Welt begegnen. Die Parole darf nicht Kanonen oder Butter heißen, sondern muß lauten: „Kanonen und Butter“.
Auf außenpolitischem Gebiet verlangt die Denkschrift eine verstärkte britische Initiative gegenüber den Vereinigten Staaten, Förderung der Bemühungen um eine Waffenruhe im Nahen Osten, Unterstützung der atlantischen Verteidigungskonzeption — bei der aber eine deutsche Aufrüstung und eine Hinzuziehung Franco-Spaniens vermieden werden soll — und die Ausarbeitung von Friedensvorschlägen an die Sowjetunion. WeitereProgrammpunkte sind:
Schiffahrt eingestellt
Ölproduktion auf 15 Prozent gesunken
TEHERAN. Der persische Militärgouvemeur K a m a 1 ordnete gestern ein Ausgehverbot für das gesamte Gebiet von Abadan an, das jeden Tag von Mitternacht bis vier Uhr morgens gelten soll. Gleichzeitig wurde die Einstellung des gesamten Schiffahrtverkehrs auf dem Schatt el Arab vor Abadan befohlen. Beide Maßnahmen wurden nicht näher begründet.
Die Produktion Abadans, der größten Ölraffinerie der Welt, wird noch im Laufe dieser Woche auf 2,5 bis 3 Millionen Gallonen täglich zurückgehen. Die normale Produktion der Raffinerie beträgt täglich 20 Millionen Gallonen.
-Auf den ölfeldem befinden sich jetzt nur noch 400 Engländer (früher 820), in Abadan über 1000 (früher 1700). Die Evakuierung soll so-
MÜNCHEN. Dem Evangelischen Hilfswerk für Internierte und Kriegsgefangene in München liegen Mitteilungen von deutschen Gefangenen in polnischen Lagern und Gefängnissen vor, daß sie wieder Päckchen bis zwei Kilo empfangen dürfen.
BONN. Der ehemalige Militärbefehlshaber von Belgien, v. Falkenhausen, ist am Montag von Bundeskanzler Adenauer im Bundeskanzlerpalais empfangen worden. Falkenhausen erklärte, sein Besuch sei auf Grund einer Einladung des Kanzlers erfolgt und stehe in keinem Zusammenhang mit der Remilitarisierungsfrage.
BONN. Im Zuge einfer Organisierung des Bundesgrenzschutzes, die sich in diesen Tagen vollzieht, wurde der bisherige Kommandeur des Bundesgrenzschutzes, General a. D. Grasser, zum Grenzschutzbefehlshaber West und General a. D. Matzki zum Inspekteur des Grenzschutzes ernannt, wie das Bundesinnenministerium mitteilt. Ein Befehlshaber Nord und ein Befehlshaber Süd sollen in Kürze ernannt werden.
Parlaments ist aller Ehren wert. Die Abgeordneten wollen so rasch als möglich einen Schutzzaun aus Hochverrats-Paragraphen um ihre Demokratie errichten — und offensichtlich hoffen sie auf eine baldige Umwandlung der westdeutschen Suzeränität in eine uneingeschränkte Souveränität, damit Landesverrat wieder seinen umfassenden Sinn zurückgewinnt. Sonst wäre der Schutz unserer halben Freiheit durch Freiheitsbeschränkungen — die übrigens weitergehen als im Weimarer Staat — etwas teuer bezahlt. Zumal die Kluft zwischen Ost und West durch die neuen Paragraphen alles nur keine Verringerung erfährt.
Die Beschneidung der britisch-amerikanischen Rüstungsprogramme und eine umfassendere und realistische Rohstoffverteilung unter den atlantischen Mächten.
Die Sowjetunion habe weder die Mittel noch den Wunsch, einen Krieg gegen den Westen zu führen, weil sie wisse, daß sie ihn nicht gewinnen könne. Sie greife daher hauptsächlich auf sozialem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet an. Wenn der Westen einen zu großen Teil seiner Mittel für seine militärische Stärke einsetze, würde „dadurch die Zahl der trojanischen Pferde vergrößert werden, in die die sowjetische Führung größeres Vertrauen setzt als in die Stärke ihrer Streitkräfte.“
Der größte britische Gewerkschaftsverband hat am Montag eine Resolution abgelehnt, in der festgestellt werden sollte, daß das britische 3,7-Milliarden-Pfund-Rüstungsprogramm (43,5 Milliarden DM) dem Volk durch die „imperialistische Politik der Sowjetunion“ aufgezwungen worden sei. Die Ablehnung durch die Delegierten der 1,4 Millionen Mitglieder umfassenden „Transport and General Workers Union“ erfolgte mit 20 Stimmen Mehrheit.
lange fortgesetzt werden, bis nur noch eine Rumpfgruppe von 200 bis 300 Fachleuten übrig bleibt.
Präsident Truman bot am Montag dem persischen Ministerpräsidenten Mossadeq die Entsendung seines außenpolitischen Beraters Averall Harriman als Vermittler im Ölkonflikt an. Truman wies in seinem Schreiben darauf hin, daß der Ölkonflikt zu einer „Katastrophe“ führen könne. Mossadeq nahm das Schreiben mit der Bemerkung entgegen, es komme „etwas zu spät“. Fast gleichzeitig wurde über den persischen Rundfunk die offizielle Ablehnung der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag bekanntgegeben.
Der britische Außenminister Morrison gab vor dem Unterhaus bekannt, daß die britische Regierung im Ölkonflikt Schritte beim Sicherheitsrat erwäge.
BONN. Vizekanzler Blücher sprach sich vor Bonner Studenten nachdrücklich für eine innerdeutsche „Raumreform“ aus. Ein Bundesstaat sei nur dann lebensfähig, wenn die Länder wirtschaftlich gleichgewichtig seien. Der Südweststaat werde voraussichtlich im September Wirklichkeit sein.
BONN. Die Aussichten für den Plan der Bundesregierung, die Margarinepreise um 20 Pfennig pro Pfund heraufzusetzen, werden im Bundesrat, ohne dessen Zustimmung die Verordnung nicht wirksam werden kann, ungünstig beurteilt, da mehrere norddeutsche Länder, sich bereits gegen diesen Plan ausgesprochen haben.
CELLE. Die Parteiversammlung der Sozialistischen Reichspartei (SRP) wählte am Sonntag in Celle den Parteirat. Ihm gehören u. a. an: Dr. Fritz Doris (zugleich Vorsitzender), Otto Ernst Remer und Wolf Graf von Westarp.
BERN. Die Bevölkerung der Schweiz hat in einem Volksentscheid die vorgeschlagene Bundesverteidigungssteuer auf die im Besitz der 23 Kantone befindlichen öffentlichen Einrichtungen abgelehnt.
ROM. Die berühmte Schweizer Garde, die 100 Mann starke „Privatarmee“ des Vatikans, hat jetzt eine Gehaltserhöhung gefordert, die mit den hohen Lebenshaltungskosten begründet wurde.
ATHEN. Die griechische Regierung steht durch den Streik von 70 000 Staatsangestellten vor einer neuen Krise. Die Regierung weigert sich, der Forderung auf eine 50prozentige Gehaltserhöhung der Streikenden nachzukommen.
WASHINGTON. Die USA, Australien und Neuseeland sind sich, wie in Washington verlautet, über die Bedingungen des geplanten Verteidigungspaktes für den pazifischen Raum einig geworden. Eine offizielle Verlautbarung hierzu soll in Kürze erfolgen.
Nodi kein Ergebnis
Berliner Handelsbesprechungen
BERLIN. In einer siebenstündigen Sitzung haben Wirtschafts- und Verkehrssachverständige der vier Besatzungsmächte in Berlin am Montag Fragen des Berliner Handels erörtert, ohne daß eine Entscheidung getroffen wurde.
Alliierte Beamte erklärten am Schluß der Sitzung, daß eine weitere Zusammenkunft zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt wahrscheinlich im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst stattfinden werde.
Wie von westalliierter Seite verlautet, wurden bei den Besprechungen die Karten offen auf den Tisch gelegt. Die Sowjets, die großes Gewicht auf die Wiederaufnahme des Handels mit der Bundesrepublik legen, wollen andererseits unter allen Umständen einen Abfluß der verknappten Rohstoffe aus ihrer Zone verhindern und hätten sich daher außerstande erklärt, bindende Erklärungen über die Abschaffung der Ursprungserzeugnisse für Warenbegleitscheine abzugeben. Diese Ursprungszeugnisse waren von den Sowjets am 10. Mai in die Abwicklung des Warenverkehrs einbezogen worden. An ihnen entbrannte damals die Westberliner Krise. Mit einer schnellen Erledigung der Verhandlungen wird nun nicht mehr gerechnet.
„FD J-Generalpr obe“
Riskante Fahrten für Busunternehmer
Kleine Weltchronik
HANNOVER. Als eine „Generalprobe“ für die Kommunistischen Weltjugend-Festspiele in Ostberlin bezeichnete am Montag ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums die „Wochenend-Aktionen“ der versuchten Grenz- durchbrüche, die die FDJ neben einer Reihe von Demonstrationen im Bundesgebiet unternahm. Das Innenministerium richtete eine Warnung an die Eltern derjenigen Kinder, die nach dem Osten in angebliche Ferienlager geschickt werden sollen. Es habe sich gezeigt, daß die sogenannten Gruppenführer die Kinder an der Grenze einfach im Stich lassen. Auch den westdeutschen Omnibusunternehmen wurde eine Warnung erteilt. Man werde ihre Wagen beschlagnahmen, sobald sie sich nochmals der FDJ zur Verfügung stellten.
Fünf Autobusse mit 415 Hamburger Kindern, die angeblich in ein Ferienlager in der Sowjetzone gebracht werden sollten, wurden in der Nacht zum Dienstag an der schleswig-holsteinischen Zonengrenze abgefangen und nach Hamburg zurückgebracht. Die Transportführer und die Fahrer flüchteten, als die Polizei auftauchte.
Ähnlich wie in Frankfurt a. M. am Samstag haben auch in München am späten Sonntagabend etwa 150 Angehörige der kommunistischen FDJ versucht, einen Fackelzug durchzuführen.
Hüfe iür Filmproduktion
Spielquotengesetz „undemokratisch“
BONN. In einer außerordentlichen Sitzung bezeichnete der „Zentralverband der deutschen Filmtheater“ am Montag das vom Bundestag vorgesehene Spielquotengesetz zum Schutz des deutschen Films als eine „undemokratische Maßnahme“, die die Theaterbesitzer in ihrer Handlungsfreiheit beschränke und dazu führe, daß die Theater schlechte deutsche Filme vor leeren Häusern spielen müßten. Jeder staatliche Eingriff in die Filmwirtschaft wurde abgelehnt und eine Marktregelung durch Leistungssteigerung gefordert. Gegen gute ausländische Filme könne die einheimische Produktion nur mit Gleichwertigem konkurrieren.
Als Hilfsmaßnahmen für die notleidende deutsche Filmproduktion wurden vorgeschlagen: Einrichtung eines Filmfinanzierungsinstituts, das jedoch nur die fachlich einwandfreien Produzenten unterstützen soll, ein Filmgroschen, um die erforderlichen Mittel für die deutsche Produktion zu schaffen, ohne die Eintrittspreise zu erhöhen und eine Bereinigung des Verleihsystems, um den individuellen Anforderungen jedes einzelnen Filmtheaters Rechnung zu tragen.
Der oersdilossene MUND
Roman von Doris Eicke
^ Alle Rechte Vertagshaus Reutlingen
„Ich rate Dir: Laß morgen den Unterricht sausen und bringe sie zur Bahn. Laß sie nicht in dieser Stimmung abreisen. Du hast etwas an ihr gutzumachen.“
„Das geht nicht. Um zehn Uhr ist Übungsflug angesetzt.“
„Dann fliege in Gottes Namen“, sagte Will wütend, „wenn Du wieder herunterkommst, wird sie fort sein, fort aus Berlin und vielleicht sogar fort aus Deinem Leben.“
„Will, rede doch keinen Unsinn!“
„Mein guter Niels, ich verstehe mehr von Frauen als Du, und ich habe es Andrea angesehen: Sie war heute abend fertig mit Dir.“
Merck starrte ihn offenen Mundes an.
„Ich glaube, Du bist wahninnig.“
„Und Du der blindeste Tor, der je eine gute Frau besessen hat. Gute Nacht, Niels, und beschlafe meinen Vorschlag.“
Merck ging am anderen Morgen nicht zum Fliegen. Es war das erste Mal, daß dieser Übergewissenhafte sich eines derartigen Versäumnisses schuldig machte . . . Punkt neun Uhr klopfte er an Andreas Tür.
Auf der anderen Seite rührte sich nichts. War er zu spät gekommen? Von der Pensionsinhaberin erfuhr er, daß seine Frau das Haus bereits zu früher Stunde und ohne Frühstück verlassen habe. Beunruhigt fuhr er direkt zum Bahnhof. So gewissenhaft er aber die Wagen durchsuchte und den Bahnsteig abpatrouillierte, Andrea war nirgends zu entdecken.
Ärgerlich über die unnütz versäumte Pflicht, gereizt gegen den Freund, der ihm den schlechten Rat gegeben, und aufgebracht gegen Andrea, bei deren Impulsivität man nie wußte, woran man war, fuhr er eiligst hinaus zur Verkehrsfliegerschule.
XI.
Andrea stand am Bug des kleinen weißen Dampfers, die Hände in den Manteltaschen vergraben, das Haar flatternd im Fahrwind und schaute mit großen Augen zu dem weißen Strich hinüber, der das Grömitzer Ufer sein mußte. Ihr sonst so bewegliches Gesicht war still und verschlossen, die Lippen hart aufeinander gepreßt. Sie spürte ihr Herz wie eine einzige blutende Wunde, der Schmerz war fast körperlich, stieg und sank mit ihren ruhelosen Gedanken wie Ebbe und Flut. Vor vier Tagen war sie über die gleiche Bucht gefahren, auf der Flucht vor einem Gefühl, das sie sich nicht erlauben wollte, zu Niels, ihrem Manne, und der erste Blick in seine Augen hatte ihre Verwirrung gelöst und alle Dinge wieder an den richtigen Platz gestellt. Sie hatte ihm nur andeuten können, daß sie in Not war und als Hilfesuchende zu ihm kam, aber in seiner großen Sicherheit und Ruhe hatte er es lächelnd übergangen. Er hatte nicht gespürt, daß sie ihn brauchte und ihr die liebende Hand nicht entgegengestreckt, nach der sie verlangte. Niels hatte sie in ihrer ersten gefährlichen Versuchung im Stich gelassen, das brachte ihren ganzen Seelenfrieden ins Wanken. Hatte sie nicht überhaupt ihre ganze Ehe bisher falsch gesehen, von einer auf die Dauer unhaltbaren, romantischen Warte aus? Hundertmal, wenn sie umsonst auf Niels Zärtlichkeiten gewartet hatte, fand sie Beschwichtigung und Trost in der Vorstellung, daß ihre Ehe auf einem so unanfechtbaren seelischen Fundament stehe, daß ihre gegenseitige Liebe sich im Geistigen sublimiere und einer anderen Bestätigung nicht bedürfe. Jetzt wollte ihr rückschauend scheinen, als hätte sie aus innerer Notwehr heraus
etwas Unnatürliches auf den Piedestal höherer Entwicklung gehoben, nur um weniger an ihm zu leiden. Der Zustand, der sich seit seiner Rückkehr aus Rußland herausgebildet hatte, war auf die Dauer unhaltbar, diese unablässige Erwartung auf der einen und diese konsequente Nichterfüllung auf der anderen Seite. Noch nie, so meinte Andrea, sei eine Frau, eine junge, begehrenswerte Frau grausamer gedemü- tigt worden als sie. Fremden Leuten fiel es schon auf, daß Niels sie vernachlässigte, von dritten mußte er sich auf das hinweisen lassen, was für jeden liebenden Mann eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Daß dies notwendig geworden, daß er es dazu kommen ließ, würde sie ihm nie vergessen, nicht die Schmach jenes Augenblicks, da sie Auge in Auge mit Will das gutgemeinte Geflüster des Professors in ihrem Rücken mit anhören mußte. Die Vorstellung, wenigstens eine starke seelische Bindung mit Niels zu besitzen, war nun auch noch ins Wanken geraten; wer für das, was er ihr antat, so blind und taub sein konnte, war auch im seelischen Sinne kein Liebender, im Geistigen kein Freund mehr. Was aber blieb dann noch übrig von ihrer sogenannten „glücklichen Ehe“?
Ein leises Tönen entrang sich Andreas tief verwundetem Herzen. Lieber Gott im Himmel, was sollte mm werden? Niels rückte ihr zwangsläufig immer ferner, und den anderen, der ihr eine einzige, unvergeßliche Minute so glühend nahe gewesen, hatte sie fortgeschickt. Sie hatte gegen ihn verteidigt, was sie damals noch als Niels’ unantastbares Eigentum angesehen hatte: ihren jungen, gesunden Körper. Aber Niels hatte dieses Besitztum wieder und wieder verschmäht, es bedeutete ihm wahrscheinlich nichs mehr als eine lästige Mahnung an das, was unter den juristischen Begriff der ehemaligen Pflichten fiel. Mit anderen Worten hatte sie eine Tugend verteidigt, mit deren Bewährung niemandem gedient war, nicht dem kühlen, uninteressierten Niels, noch dem glü
hend verliebten Tiilmann, noch ihr selbst. Ihr ganzer Kampf, ihre Flucht waren nutz- und sinnlos gewesen, eine Beraubung ihrer selbst.
Als sie sich dem Grömitzer Ufer auf Sichtweite des Strandes genähert hatte, stemmte Andrea die Arme gegen die Reeling, daß die Knöchel ihrer Hände weiß hervortraten. Mehr als zwei Wochen war sie dort noch allein, und sie würde sie nutzen. Wenn sie jetzt den Fuß an Land setzte, war sie eine völlig andere als jene Andrea, die es vor vier Tagen verlassen hatte. Sie war nun um eine in ihren Auswirkungen unabsehbare, bittere Erfahrung reicher und voll eines bösen Trotzes, dort, wo vorher so viel guter Wille und so viel redliches Bemühen gewesen waren. Sie würde nicht länger abseits stehen, sie wollte endlich leben, wenn nicht mit, so ohne Niels.
Im weißen Schaum seiner Bugwellen legte der kleine Dampfer an, das Tau wurde vertäut, der Steg ausgelegt. Etwa zwei Dutzend Leute stiegen aus und gingen eilig und stark geniert durch die dichten Mauern der Badegäste, die sie mit dem traditionellen Begrüßungsruf: „O — wie — blaß!“ empfingen, als sei ihre eigene, frisch erworbene Sonnenbräune ein nicht wieder einzuholender Vorsprung.
Andrea trat als Letzte an Land. Mit mühsamem Lächeln schritt sie durch das dichte Menschenspalier, dem angesichts ihrer fast bronzefarbenen Haut der übliche Ruf im Halse stecken blieb.
Der erste Mensch, den sie erkannte, war Tillmann. Er lehnte an einer Mauer der Anlegebrücke gerade gegenüber und sah ihr mit gesammeltem Ernst entgegen. Er hatte sie sofort gesehen, sie aber entdeckte ihn erst, als sie an ihm Vorbeigehen wollte. In ihrer seelischen Zerrissenheit war der Schock dieser Begegnung so groß, daß der Koffer ihrer plötzlich versagenden Hand entfiel und sie selbst gegen seine Schulter, taumelte.
(Forts, folgt)