NUMMER 106

MITTWOCH, 11. JULI 1951

Bemerkungen zum Tage Bevangruppe:Kanonen und Butter

«Noble Geste« ? Britische Labour-Opposition veröffentlicht Programm / Gegen die Aufrüstung

cz.Diese Maßnahme wird das Prestige der deutschen Bundesrepublik erhöhen und den im Ausland lebenden Deutschen größere Rechte einräumen. Sie beendigt nicht die Befugnisse der Besatzungsmächte in Deutschland, da de­ren Rechte nach Ansicht Trumans auf Deutsch­lands bedingungsloser Kapitulation und der von den Alliierten übernommenen Oberhoheit beruhen. Die Beendigung des Kriegszustandes ebnet jedoch den Weg für die Neuaufnahme vertraglicher Beziehungen zwischen der Bun­desrepublik und den freien Nationen. So schreibt dieNew York Times

Deutsche werden künftig in den betreffenden Ländern nicht mehr alsfeindliche Ausländer behandelt, im Wirtschaftsverkehr ergeben sich gleichfalls einige Erleichterungen, aber sonst ändert sich so gut wie nichts. Es bleibt also praktisch bei dem von Präsident Truman in seinem Schreiben hervorgehobenen und an­derwärts ähnlich ausgedrücktenpsychologi­schen Effekt. Wer kann da mit gutem Gewis­sen von einemgroßen Fortschritt sprechen, es sei denn, man geht von der Verlorenheit der Bundesrepublik zwischen den Weltmächten und dem Zwang der Situation, um jeden Preis Sich mit dem Westen zu verbinden, aus. Die reichlich spät kommendenoble Geste ist kein Friedensvertrag, sondern nur eine unumgäng­lich gewordene Anerkennung einer Entwick­lung, an deren Ende die Einbeziehung der Bun­desrepublik in die westliche Verteidigung steht. Schließlich kann man ja nicht Deutsche in eine Europa-Armee einstellen, solange diese noch alsFeinde der neben ihnen stehenden Ange­hörigen anderer Länder anzusehen sind. Wie vieles wird aber nicht einmal formalbeen­det, was gleichfalls dasselbe Schicksal ver­diente. DieNormalisierung der deutsch-al- lüerten Beziehungen, wie wiederholt betont wurde, können wir in diesem Formalakt kei­neswegs sehen. Wir wissen jetzt nur, daß die Wiederbewaffnung Westdeutschlands immer näher rückt, was so wenig beruhigend wirkt wie Demonstrationen ohne Auswirkungen.

Sdiuljzaun aus Paragraphen

hr. Mit dem 6. Mai 1945 trat Deutschland un­ter fremde Militärverwaltung. Es hatte seine Souveränität an die vier Befehlshaber verloren, entscheidende staatliche Grundlagen waren demontiert, und damit konsequenterweise auch die Abschnitte Hoch- und Landesverrat des sonst im ganzen beibehaltenen Deutschen Strafgesetzbuches. Nachdem sich aber unter der Protektion der westlichen Besatzungs­mächte in Form der Bundesrepublik ein Staats­wesen neu zu bilden begann, empfand man rasch das Bedürfnis, es nach innen und nach außen wieder abzuschirmen. In diesen Tagen berät der Bundestag die vom Kabinett entwor­fene Strafrechtsnovelle. Konkreter Anlaß war die staatsgefährdende Tätigkeit der KPD und Ihrer Nebenorganisationen. Das kann aller­dings in den neutralen Fassungen, die die Rechtsnormen erhalten müssen, nicht zum Aus­druck kommen. Und so ruft die vorgesehene Paragraphengruppe die beiden deutschen Grundprobleme ins Gedächtnis: Die Zweitei­lung Deutschlands denn Hochverrat und zuchthauswürdiges Verbrechen ist im Westen das, was drüben als staatstreue Gesinnung gilt und umgekehrt (die Ostzone erließ ja schon vor Monaten ihr sogenanntesFriedensschutzge­setz) und weiter die fehlende deutsche Sou­veränität, denn als Landesverräter gilt, wer vorsätzlich ein Staatsgeheimnis preisgibt. Auch hier empfindet man die einseitig gegen Osten gerichtete Spitze. Staatsgeheimnisse ge­genüber den westlichen Alliierten, gegenüber Frankreich z. B., sind ja in der Praxis gar nicht denkbar. In Gremien, in denen für die Bundesrepublik wirklich wichtige Fragen be­sprochen werden, haben die Westmächte ohne­hin ihre Beobachter, wenn sie nicht gar, wie bei den Petersberg-Verhandlungen, selbst ton­angebend sind.

Der Eifer und der Optimismus des Bonner

LONDON. Die Gruppe von Labour-Politi- kern, die hinter dem zurückgetretenen briti­schen Arbeitsminister Aneurin B e v a n steht, hat am Montagabend unter dem TitelNur ein Weg einesozialistische Analyse der gegen­wärtigen Weltkrise veröffentlicht. Die zurück­getretenen Minister Bevan und Wilson weisen in der Einleitung darauf hin, daß die Broschüre eine Diskussionsgrundlage bilden solle.

Die Argumentation der Bevan-Gruppe gip­felt in der Feststellung: Der Sozialismus muß dem Kommunismus durch Hebung des Lebens­standards der ärmeren Bevölkerung in aller Welt begegnen. Die Parole darf nicht Kanonen oder Butter heißen, sondern muß lauten:Ka­nonen und Butter.

Auf außenpolitischem Gebiet verlangt die Denkschrift eine verstärkte britische Initiative gegenüber den Vereinigten Staaten, Förderung der Bemühungen um eine Waffenruhe im Na­hen Osten, Unterstützung der atlantischen Ver­teidigungskonzeption bei der aber eine deut­sche Aufrüstung und eine Hinzuziehung Franco-Spaniens vermieden werden soll und die Ausarbeitung von Friedensvorschlägen an die Sowjetunion. WeitereProgrammpunkte sind:

Schiffahrt eingestellt

Ölproduktion auf 15 Prozent gesunken

TEHERAN. Der persische Militärgouvemeur K a m a 1 ordnete gestern ein Ausgehverbot für das gesamte Gebiet von Abadan an, das jeden Tag von Mitternacht bis vier Uhr morgens gel­ten soll. Gleichzeitig wurde die Einstellung des gesamten Schiffahrtverkehrs auf dem Schatt el Arab vor Abadan befohlen. Beide Maßnahmen wurden nicht näher begründet.

Die Produktion Abadans, der größten Öl­raffinerie der Welt, wird noch im Laufe dieser Woche auf 2,5 bis 3 Millionen Gallonen täglich zurückgehen. Die normale Produktion der Raf­finerie beträgt täglich 20 Millionen Gallonen.

-Auf den ölfeldem befinden sich jetzt nur noch 400 Engländer (früher 820), in Abadan über 1000 (früher 1700). Die Evakuierung soll so-

MÜNCHEN. Dem Evangelischen Hilfswerk für Internierte und Kriegsgefangene in München liegen Mitteilungen von deutschen Gefangenen in polnischen Lagern und Gefängnissen vor, daß sie wieder Päckchen bis zwei Kilo empfangen dürfen.

BONN. Der ehemalige Militärbefehlshaber von Belgien, v. Falkenhausen, ist am Montag von Bundeskanzler Adenauer im Bundeskanzlerpa­lais empfangen worden. Falkenhausen erklärte, sein Besuch sei auf Grund einer Einladung des Kanzlers erfolgt und stehe in keinem Zusam­menhang mit der Remilitarisierungsfrage.

BONN. Im Zuge einfer Organisierung des Bun­desgrenzschutzes, die sich in diesen Tagen voll­zieht, wurde der bisherige Kommandeur des Bundesgrenzschutzes, General a. D. Grasser, zum Grenzschutzbefehlshaber West und General a. D. Matzki zum Inspekteur des Grenzschutzes er­nannt, wie das Bundesinnenministerium mitteilt. Ein Befehlshaber Nord und ein Befehlshaber Süd sollen in Kürze ernannt werden.

Parlaments ist aller Ehren wert. Die Abge­ordneten wollen so rasch als möglich einen Schutzzaun aus Hochverrats-Paragraphen um ihre Demokratie errichten und offensicht­lich hoffen sie auf eine baldige Umwandlung der westdeutschen Suzeränität in eine un­eingeschränkte Souveränität, damit Landes­verrat wieder seinen umfassenden Sinn zu­rückgewinnt. Sonst wäre der Schutz unserer halben Freiheit durch Freiheitsbeschränkun­gen die übrigens weitergehen als im Wei­marer Staat etwas teuer bezahlt. Zumal die Kluft zwischen Ost und West durch die neuen Paragraphen alles nur keine Verringerung er­fährt.

Die Beschneidung der britisch-amerikanischen Rüstungsprogramme und eine umfassendere und realistische Rohstoffverteilung unter den atlantischen Mächten.

Die Sowjetunion habe weder die Mittel noch den Wunsch, einen Krieg gegen den Westen zu führen, weil sie wisse, daß sie ihn nicht ge­winnen könne. Sie greife daher hauptsächlich auf sozialem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet an. Wenn der Westen einen zu großen Teil seiner Mittel für seine militärische Stärke einsetze, würdedadurch die Zahl der troja­nischen Pferde vergrößert werden, in die die sowjetische Führung größeres Vertrauen setzt als in die Stärke ihrer Streitkräfte.

Der größte britische Gewerkschaftsverband hat am Montag eine Resolution abgelehnt, in der festgestellt werden sollte, daß das briti­sche 3,7-Milliarden-Pfund-Rüstungsprogramm (43,5 Milliarden DM) dem Volk durch dieim­perialistische Politik der Sowjetunion aufge­zwungen worden sei. Die Ablehnung durch die Delegierten der 1,4 Millionen Mitglieder um­fassendenTransport and General Workers Union erfolgte mit 20 Stimmen Mehrheit.

lange fortgesetzt werden, bis nur noch eine Rumpfgruppe von 200 bis 300 Fachleuten übrig bleibt.

Präsident Truman bot am Montag dem persischen Ministerpräsidenten Mossadeq die Entsendung seines außenpolitischen Bera­ters Averall Harriman als Vermittler im Öl­konflikt an. Truman wies in seinem Schreiben darauf hin, daß der Ölkonflikt zu einerKata­strophe führen könne. Mossadeq nahm das Schreiben mit der Bemerkung entgegen, es kommeetwas zu spät. Fast gleichzeitig wurde über den persischen Rundfunk die of­fizielle Ablehnung der Entscheidung des Inter­nationalen Gerichtshofes in Den Haag bekannt­gegeben.

Der britische Außenminister Morrison gab vor dem Unterhaus bekannt, daß die bri­tische Regierung im Ölkonflikt Schritte beim Sicherheitsrat erwäge.

BONN. Vizekanzler Blücher sprach sich vor Bonner Studenten nachdrücklich für eine inner­deutscheRaumreform aus. Ein Bundesstaat sei nur dann lebensfähig, wenn die Länder wirt­schaftlich gleichgewichtig seien. Der Südwest­staat werde voraussichtlich im September Wirk­lichkeit sein.

BONN. Die Aussichten für den Plan der Bun­desregierung, die Margarinepreise um 20 Pfennig pro Pfund heraufzusetzen, werden im Bundes­rat, ohne dessen Zustimmung die Verordnung nicht wirksam werden kann, ungünstig beurteilt, da mehrere norddeutsche Länder, sich bereits gegen diesen Plan ausgesprochen haben.

CELLE. Die Parteiversammlung der Sozialisti­schen Reichspartei (SRP) wählte am Sonntag in Celle den Parteirat. Ihm gehören u. a. an: Dr. Fritz Doris (zugleich Vorsitzender), Otto Ernst Remer und Wolf Graf von Westarp.

BERN. Die Bevölkerung der Schweiz hat in einem Volksentscheid die vorgeschlagene Bun­desverteidigungssteuer auf die im Besitz der 23 Kantone befindlichen öffentlichen Einrichtun­gen abgelehnt.

ROM. Die berühmte Schweizer Garde, die 100 Mann starkePrivatarmee des Vatikans, hat jetzt eine Gehaltserhöhung gefordert, die mit den hohen Lebenshaltungskosten begründet wurde.

ATHEN. Die griechische Regierung steht durch den Streik von 70 000 Staatsangestellten vor einer neuen Krise. Die Regierung weigert sich, der Forderung auf eine 50prozentige Gehalts­erhöhung der Streikenden nachzukommen.

WASHINGTON. Die USA, Australien und Neu­seeland sind sich, wie in Washington verlautet, über die Bedingungen des geplanten Verteidi­gungspaktes für den pazifischen Raum einig ge­worden. Eine offizielle Verlautbarung hierzu soll in Kürze erfolgen.

Nodi kein Ergebnis

Berliner Handelsbesprechungen

BERLIN. In einer siebenstündigen Sitzung haben Wirtschafts- und Verkehrssachverstän­dige der vier Besatzungsmächte in Berlin am Montag Fragen des Berliner Handels erörtert, ohne daß eine Entscheidung getroffen wurde.

Alliierte Beamte erklärten am Schluß der Sitzung, daß eine weitere Zusammenkunft zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt wahr­scheinlich im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst stattfinden werde.

Wie von westalliierter Seite verlautet, wur­den bei den Besprechungen die Karten offen auf den Tisch gelegt. Die Sowjets, die großes Gewicht auf die Wiederaufnahme des Han­dels mit der Bundesrepublik legen, wollen andererseits unter allen Umständen einen Ab­fluß der verknappten Rohstoffe aus ihrer Zone verhindern und hätten sich daher außer­stande erklärt, bindende Erklärungen über die Abschaffung der Ursprungserzeugnisse für Warenbegleitscheine abzugeben. Diese Ur­sprungszeugnisse waren von den Sowjets am 10. Mai in die Abwicklung des Warenverkehrs einbezogen worden. An ihnen entbrannte da­mals die Westberliner Krise. Mit einer schnel­len Erledigung der Verhandlungen wird nun nicht mehr gerechnet.

FD J-Generalpr obe

Riskante Fahrten für Busunternehmer

Kleine Weltchronik

HANNOVER. Als eineGeneralprobe für die Kommunistischen Weltjugend-Festspiele in Ostberlin bezeichnete am Montag ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums die Wochenend-Aktionen der versuchten Grenz- durchbrüche, die die FDJ neben einer Reihe von Demonstrationen im Bundesgebiet unternahm. Das Innenministerium richtete eine Warnung an die Eltern derjenigen Kinder, die nach dem Osten in angebliche Ferienlager geschickt wer­den sollen. Es habe sich gezeigt, daß die soge­nannten Gruppenführer die Kinder an der Grenze einfach im Stich lassen. Auch den west­deutschen Omnibusunternehmen wurde eine Warnung erteilt. Man werde ihre Wagen be­schlagnahmen, sobald sie sich nochmals der FDJ zur Verfügung stellten.

Fünf Autobusse mit 415 Hamburger Kindern, die angeblich in ein Ferienlager in der Sowjet­zone gebracht werden sollten, wurden in der Nacht zum Dienstag an der schleswig-holstei­nischen Zonengrenze abgefangen und nach Hamburg zurückgebracht. Die Transportfüh­rer und die Fahrer flüchteten, als die Polizei auftauchte.

Ähnlich wie in Frankfurt a. M. am Samstag haben auch in München am späten Sonntag­abend etwa 150 Angehörige der kommunisti­schen FDJ versucht, einen Fackelzug durchzu­führen.

Hüfe iür Filmproduktion

Spielquotengesetzundemokratisch

BONN. In einer außerordentlichen Sitzung bezeichnete derZentralverband der deut­schen Filmtheater am Montag das vom Bun­destag vorgesehene Spielquotengesetz zum Schutz des deutschen Films als eineunde­mokratische Maßnahme, die die Theaterbe­sitzer in ihrer Handlungsfreiheit beschränke und dazu führe, daß die Theater schlechte deutsche Filme vor leeren Häusern spielen müßten. Jeder staatliche Eingriff in die Film­wirtschaft wurde abgelehnt und eine Markt­regelung durch Leistungssteigerung gefordert. Gegen gute ausländische Filme könne die ein­heimische Produktion nur mit Gleichwerti­gem konkurrieren.

Als Hilfsmaßnahmen für die notleidende deutsche Filmproduktion wurden vorgeschla­gen: Einrichtung eines Filmfinanzierungsinsti­tuts, das jedoch nur die fachlich einwand­freien Produzenten unterstützen soll, ein Filmgroschen, um die erforderlichen Mittel für die deutsche Produktion zu schaffen, ohne die Eintrittspreise zu erhöhen und eine Be­reinigung des Verleihsystems, um den indi­viduellen Anforderungen jedes einzelnen Film­theaters Rechnung zu tragen.

Der oersdilossene MUND

Roman von Doris Eicke

^ Alle Rechte Vertagshaus Reutlingen

Ich rate Dir: Laß morgen den Unterricht sausen und bringe sie zur Bahn. Laß sie nicht in dieser Stimmung abreisen. Du hast etwas an ihr gutzumachen.

Das geht nicht. Um zehn Uhr ist Übungs­flug angesetzt.

Dann fliege in Gottes Namen, sagte Will wütend,wenn Du wieder herunterkommst, wird sie fort sein, fort aus Berlin und viel­leicht sogar fort aus Deinem Leben.

Will, rede doch keinen Unsinn!

Mein guter Niels, ich verstehe mehr von Frauen als Du, und ich habe es Andrea an­gesehen: Sie war heute abend fertig mit Dir.

Merck starrte ihn offenen Mundes an.

Ich glaube, Du bist wahninnig.

Und Du der blindeste Tor, der je eine gute Frau besessen hat. Gute Nacht, Niels, und beschlafe meinen Vorschlag.

Merck ging am anderen Morgen nicht zum Fliegen. Es war das erste Mal, daß dieser Über­gewissenhafte sich eines derartigen Versäum­nisses schuldig machte . . . Punkt neun Uhr klopfte er an Andreas Tür.

Auf der anderen Seite rührte sich nichts. War er zu spät gekommen? Von der Pensions­inhaberin erfuhr er, daß seine Frau das Haus bereits zu früher Stunde und ohne Frühstück verlassen habe. Beunruhigt fuhr er direkt zum Bahnhof. So gewissenhaft er aber die Wagen durchsuchte und den Bahnsteig ab­patrouillierte, Andrea war nirgends zu ent­decken.

Ärgerlich über die unnütz versäumte Pflicht, gereizt gegen den Freund, der ihm den schlech­ten Rat gegeben, und aufgebracht gegen An­drea, bei deren Impulsivität man nie wußte, woran man war, fuhr er eiligst hinaus zur Ver­kehrsfliegerschule.

XI.

Andrea stand am Bug des kleinen weißen Dampfers, die Hände in den Manteltaschen vergraben, das Haar flatternd im Fahrwind und schaute mit großen Augen zu dem weißen Strich hinüber, der das Grömitzer Ufer sein mußte. Ihr sonst so bewegliches Gesicht war still und verschlossen, die Lippen hart aufein­ander gepreßt. Sie spürte ihr Herz wie eine einzige blutende Wunde, der Schmerz war fast körperlich, stieg und sank mit ihren ruhelosen Gedanken wie Ebbe und Flut. Vor vier Tagen war sie über die gleiche Bucht gefahren, auf der Flucht vor einem Gefühl, das sie sich nicht erlauben wollte, zu Niels, ihrem Manne, und der erste Blick in seine Augen hatte ihre Ver­wirrung gelöst und alle Dinge wieder an den richtigen Platz gestellt. Sie hatte ihm nur an­deuten können, daß sie in Not war und als Hilfesuchende zu ihm kam, aber in seiner gro­ßen Sicherheit und Ruhe hatte er es lächelnd übergangen. Er hatte nicht gespürt, daß sie ihn brauchte und ihr die liebende Hand nicht ent­gegengestreckt, nach der sie verlangte. Niels hatte sie in ihrer ersten gefährlichen Ver­suchung im Stich gelassen, das brachte ihren ganzen Seelenfrieden ins Wanken. Hatte sie nicht überhaupt ihre ganze Ehe bisher falsch gesehen, von einer auf die Dauer unhaltbaren, romantischen Warte aus? Hundertmal, wenn sie umsonst auf Niels Zärtlichkeiten gewartet hatte, fand sie Beschwichtigung und Trost in der Vorstellung, daß ihre Ehe auf einem so unanfechtbaren seelischen Fundament stehe, daß ihre gegenseitige Liebe sich im Geistigen sublimiere und einer anderen Bestätigung nicht bedürfe. Jetzt wollte ihr rückschauend schei­nen, als hätte sie aus innerer Notwehr heraus

etwas Unnatürliches auf den Piedestal höherer Entwicklung gehoben, nur um weniger an ihm zu leiden. Der Zustand, der sich seit seiner Rückkehr aus Rußland herausgebildet hatte, war auf die Dauer unhaltbar, diese unablässige Erwartung auf der einen und diese konse­quente Nichterfüllung auf der anderen Seite. Noch nie, so meinte Andrea, sei eine Frau, eine junge, begehrenswerte Frau grausamer gedemü- tigt worden als sie. Fremden Leuten fiel es schon auf, daß Niels sie vernachlässigte, von dritten mußte er sich auf das hinweisen las­sen, was für jeden liebenden Mann eine Selbst­verständlichkeit gewesen wäre. Daß dies not­wendig geworden, daß er es dazu kommen ließ, würde sie ihm nie vergessen, nicht die Schmach jenes Augenblicks, da sie Auge in Auge mit Will das gutgemeinte Geflüster des Professors in ihrem Rücken mit anhören mußte. Die Vor­stellung, wenigstens eine starke seelische Bin­dung mit Niels zu besitzen, war nun auch noch ins Wanken geraten; wer für das, was er ihr antat, so blind und taub sein konnte, war auch im seelischen Sinne kein Liebender, im Gei­stigen kein Freund mehr. Was aber blieb dann noch übrig von ihrer sogenanntenglücklichen Ehe?

Ein leises Tönen entrang sich Andreas tief verwundetem Herzen. Lieber Gott im Himmel, was sollte mm werden? Niels rückte ihr zwangsläufig immer ferner, und den anderen, der ihr eine einzige, unvergeßliche Minute so glühend nahe gewesen, hatte sie fortgeschickt. Sie hatte gegen ihn verteidigt, was sie damals noch als Niels unantastbares Eigentum ange­sehen hatte: ihren jungen, gesunden Körper. Aber Niels hatte dieses Besitztum wieder und wieder verschmäht, es bedeutete ihm wahr­scheinlich nichs mehr als eine lästige Mahnung an das, was unter den juristischen Begriff der ehemaligen Pflichten fiel. Mit anderen Worten hatte sie eine Tugend verteidigt, mit deren Be­währung niemandem gedient war, nicht dem kühlen, uninteressierten Niels, noch dem glü­

hend verliebten Tiilmann, noch ihr selbst. Ihr ganzer Kampf, ihre Flucht waren nutz- und sinnlos gewesen, eine Beraubung ihrer selbst.

Als sie sich dem Grömitzer Ufer auf Sicht­weite des Strandes genähert hatte, stemmte Andrea die Arme gegen die Reeling, daß die Knöchel ihrer Hände weiß hervortraten. Mehr als zwei Wochen war sie dort noch allein, und sie würde sie nutzen. Wenn sie jetzt den Fuß an Land setzte, war sie eine völlig andere als jene Andrea, die es vor vier Tagen verlassen hatte. Sie war nun um eine in ihren Auswir­kungen unabsehbare, bittere Erfahrung reicher und voll eines bösen Trotzes, dort, wo vorher so viel guter Wille und so viel redliches Be­mühen gewesen waren. Sie würde nicht länger abseits stehen, sie wollte endlich leben, wenn nicht mit, so ohne Niels.

Im weißen Schaum seiner Bugwellen legte der kleine Dampfer an, das Tau wurde vertäut, der Steg ausgelegt. Etwa zwei Dutzend Leute stiegen aus und gingen eilig und stark geniert durch die dichten Mauern der Badegäste, die sie mit dem traditionellen Begrüßungsruf:O wie blaß! empfingen, als sei ihre eigene, frisch erworbene Sonnenbräune ein nicht wie­der einzuholender Vorsprung.

Andrea trat als Letzte an Land. Mit müh­samem Lächeln schritt sie durch das dichte Menschenspalier, dem angesichts ihrer fast bronzefarbenen Haut der übliche Ruf im Halse stecken blieb.

Der erste Mensch, den sie erkannte, war Till­mann. Er lehnte an einer Mauer der Anlege­brücke gerade gegenüber und sah ihr mit ge­sammeltem Ernst entgegen. Er hatte sie sofort gesehen, sie aber entdeckte ihn erst, als sie an ihm Vorbeigehen wollte. In ihrer seelischen Zerrissenheit war der Schock dieser Begegnung so groß, daß der Koffer ihrer plötzlich ver­sagenden Hand entfiel und sie selbst gegen seine Schulter, taumelte.

(Forts, folgt)