MITTWOCH, 11. JULI 1951
NUMMER ll(
Jugendkriminalität: Was ist zu tun?
Vor allein Sittlichkeitsdelikte beängstigend gestiegen / Verlust der Maßstäbe Von unserer Bonner Redaktion
Statistiken aus allen Teilen Deutschlands, Gespräche mit Kriminalpolizeiämtern, mit Beamten der sogenannten Sittenpolizei, mit Jugendämtern, die Lektüre zahlreicher Prozeßakten, Besuche solcher Verhandlungen und sich daraus ergebende Gespräche sind der Anlaß dieses Artikels. Der Grund liegt in dem Wissen, daß etwas mit dem, was die Moral genannt wird, auch bei uns im Lande nicht in Ordnung ist. Ja, schlimmer, das Ansteigen der Jugendkriminalität im allgemeinen und die Zunahme der Sittlichkeitsdelikte unter den Jugendlichen ist beängstigend. Es steht schlechter als nach dem ersten Weltkrieg und es ist nicht möglich, lediglich eine „allgemeine Verrohung der Sitten“ zu registrieren und sich resignierend der Meinung hinzugeben, das brächten die Nachwirkungen totaler Kriege eben mit sich. Wir wollen nicht zu viel auf die „Verhältnisse“, auf den gewesenen und nicht beendeten Krieg abschieben, sondern wir sollten eine vernünftige Frontstellung gegen diese Verhältnisse und ihre Wirkungen beziehen. In einem noch nicht beendeten Zeitraum der Herrschaft der Schlagworte und Phrasen wiegt der Satz, daß die Jugend von heute das künftige Schicksal der Nation bestimme, sicher nicht viel und es besteht auch gar kein Grund, die Wirkung von Appellen an die Moral oder an das Gewissen oder an die Ehre usw. zu überschätzen. Aber sollten wir nicht doch, alle der Wahrheit, die hinter den Gemeinplätzen über die Bedeutung der Jugend für ein Volk steht, mehr und nachdrücklicher entsprechen als bisher? Ob es nun die Zeitungen und ihre Journalisten sind, der Staat, die Gemeinden, die Parlamente, die Parteien, die Jugendorganisationen, die Kirchen, die Schulen und vor allem die Familien; die Probleme unserer Jugend müssen ernst genommen werden. Selbst wenn die Mehrheit der Jugend gesund ist und ihr Leben trotz der „Verhältnisse“ in normalen Bahnen verläuft, die Minderheit, die vor den Schranken und der Gerichte steht oder dahin gehört, ist so stark, daß ihre Problematik zur Stellungnahme zwingt.
In den oberbayerischen Gemeinden unter 5000 Einwohnern ist die Zahl der Sittlichkeitsdelikte unter Kindern von 475 im Jahre 1948, auf 1710 im Jahre 1950 gestiegen. In diesen 1710 Fällen waren Kinder von 6 bis 14 Jahren aktiv oder passiv an Sittlichkeitsdelikten be-
2000 Jahre Paris
Feuerwerk — Militärkapellen — Tanz
PARIS. Mit einem großen Feuerwerk, das den sommerlichen Himmel in allen Farben aufleuchten ließ, beging Paris den glanzvollen Höhepunkt seines 2000. Geburtstages. Den ganzen Tag über hatten bei strahlendem Sonnenschein vor dem Invalidendom Militärkapellen verschiedener Länder aufgespielt. Abordnungen aus allen Provinzen Frankreichs defilierten unter dem Beifall einer unübersehbaren Menschenmenge an Staatspräsident Auriol vorbei. Abends erstrahlten die historischen Bauten im Licht der Scheinwerfer.
Der vergangene Sonntag war der offizielle Höhepunkt der 2000-Jahrfeier, die sich mit einer Fülle von Veranstaltungen über den ganzen Sommer ferstrecken wird. Trotz der bedien Preise in Paris sind viele Gäste aus aller Welt von den Feierlichkeiten angezogen worden, neben vielen anderen ausländischen Bürgermeistern auch das Stadtoberhaupt von Moskau, das, wie man erzählt, auf einem Gartenfest der Pariser Stadtverwaltung, bei dem der Bruder General de Gaulles als Stadtvater von Paris Gastgeber war, den aus Belgrad entsandten Bürgermeister merklich „geschnitten“ haben soll. Die Pariser machen sich darüber indessen nicht viele Gedanken. Wenn sie abends auf den großen Plätzen der Stadt tanzen, denken sie nicht an die hohe Politik.
tedligt. In der britisch besetzten Zone ist die Zahl der Sittlichkeitsdelikte von 4504 im Jahre 1947 auf Ober 16 000 im Jahre 1950 gestiegen. Die Gerichte verhandelten Fälle, in denen sich Männer 500- bis 600mal an Kindern vergangen hatten. Die Polizei glaubt, daß sie bei den gegenwärtigen Gesetzen und mit den bisherigen Mitteln etwa 15 bis 25 v. H. aller Delikte auf die Spur kommt. Die Zahl der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren, die wegen Diebstahl, Raubüberfällen. Raubmorden und anderen Verbrechen vor Gericht steht, hat sich nach Schätzungen von Rechtsanwälten und Richtern nicht nur gegenüber der Vorkriegszeit vervielfacht, sondern seit 1947/48 eine Verdoppelung bis Verdreifachung erfahren.
Das Jugendamt einer westdeutschen Großstadt bilanziert aus seinen Akten ein Ansteigen der Jugendkriminalität in den letzten drei Jahren um 400 v. H. gegenüber dem Jahre 1947. Darunter sind Fälle, die in ihrer Pervertiertheit einfach nicht wiedergegeben werden können. Vor einem Gericht standen sieben Angeklagte im Alter von 17 bis 23 Jahren. Neben zahllosen Einbrüchen hatten sie vier Morde verübt. Ein 23jähriger, den der psychologische Gutachter nicht als „krankhaft“ bezeichnen konnte, verging sich an vier Mädchen unter zehn Jahren. Kaum zu erfassen sind die Fälle, in denen Jugendliche als Schmuggler eingesetzt oder zu anderen Verbrechen und Vergehen von Erwachsenen mißbraucht werden, in denen junge Mädchen auf die Gleise der Prostitution, junge Burschen zur Kuppelei geführt werden. In den Ecken der Großstadtbahnhöfe werden Jugendliche festgenommen, die Morphium und die dazugehörigen Spritzen zur Selbstin
jektion bei sich haben. In Entziehungsanstalten sitzen Kinder, die im Alkoholismus einen Beweis der Männlichkeit sahen usw. usw. Die Beispiele ließen sich über Seiten dieser Zeitung vermehren.
Sieht man diese Jugendlichen, die nach dem Gesetz schuldig wurden, vor den Richtern, hört man ihre Aussagen und spricht mit ihnen, so ist noch erschreckender als die Tatsache ihres Vergehens das Fehlen jedes Maßstabs für die begangene Handlung. Da ist das Fehlen jedes Wissens oder Fühlens darum, was anständig, was „moralisch“ ist, und da besteht ein Komplex falscher und nicht immer krankhafter Auffassungen über die „Männlichkeit“, über die Beweise des „Erwachsenseins“ und da ist vor allem eine fast grenzenlose Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen. der Handlungen, zu denen sich Jugendliche treiben lassen; denn getrieben werden sie, von der Not, von ihren Schicksalen, von den Wirkungen eines Vakuums, das in ihrer frühen Kindheit liegt, von Überkompensationen in einer nicht normalen Entwicklung verdrängter Triebe, von den „Verhältnissen“ und einem Teil der Menschen, die diese Verhältnisse ausmachen.
Was ist geschehen? Wir haben Organisationen, private und öffentliche Institutionen, Menschen’ und Gesetze Doch sie alle, einschließlich dem Staat und seinen Trägem, können bisher nicht verhindern, daß sich das Treibgut unter den jungen Menschen weiter vermehrt. Wäre es darum nicht an der Zeit, diese Probleme der Jugend entschlossener und universeller zu behandeln? Ein Gesetz zum Schutz der Jugend ist eine gute Sache und auch das Bundesjugendwerk zeugt von gutem Willen, der vielerorts zu registrieren ist. Aber das alles genügt nicht mehr.
Ein Kreis von Vertretern aller Bezirke und erfüllt von dem Willen, die Lebensprobleme unserer Jugend zu verstehen, ohne sie „gestalten“ oder gar „führen“ zu wollen, sollte sich, aus den deutschen Ländern kommend, in
„Heiliger“ Fluß Jordan
Ina syrisch-israelischen Kampfgebiet / Schwerer Schlag für Ansehen der UN Von unserem Korrespondenten Walter W. Krause
EL HAMMA (Syrien), im Juli
Welch paradoxe Welt! Zu Füßen des syrischen Forts liegt glitzernd wie eine Damaszener Brokatdecke der Huleh-See. Vor lichtblauen Gebirgen glänzen sattgrüne Weiden. Aus silberflimmernden Olivenhainen züngelt schwarzer Rauch, das arabische Dorf Ghan- name zerfällt in Asche. Direkt unter uns, mit Leichtigkeit durch einen Flintenschuß zu vertreiben, arbeiten Bagger der israelischen Landgewinnungsgesellschaften an der Regulierung des Jordan-Flusses.
Die Machtlosigkeit ferner Konferenztisch- Entscheidungen ist an den Wassern des Jordans Episode unter vielen. Wo einst Christus auf dem See Galiläi mit einem Wort Sturm und Kleinmut besänftigte, herrscht die Gesetzlosigkeit dunkelsten Wildwests. Die Pufferzone zwischen Syrien und Palästina ist zur Farce geworden. Wo sich heiße Gemüter unversöhnlicher Todfeinde abkühlen sollen, regiert das Gesetz des ersten Schusses. Die Wasser des heiligen Flusses tragen weiterhin Tränen und Blut zum Toten Meer.
Es begann Anfang Januar. Bagger erschienen am Südufer des Huleh-Sees. um die Schleife des Jordans durch einen Kanal zu verkürzen und die hier liegenden Sümpfe zu entwässern. Damit wurde auf syrischer Seite nicht nur größeren Kulturen das lebenswichtige Wasser entzogen, der Wert dieser Marschen als natürliche Verteidigungszone annulliert, sondern ganz eindeutig gegen die Bestimmungen der Statuten in der demilitarisierten Zone durch Israel verstoßen. Syrische Proteste beim Weltsicherheitsrat führten zu fünf Sitzungen von Unterkommissionen, die Bagger aber arbeiten weiter.
Jetzt nahmen die Araber ihre Sache in die eigene Hand. Sie beschossen die Bagger —
um durch Grenzgänger von der UN-Kommis- sion den Befehl zu erhalten, das Feuer einzustellen. Sie gehorchten. Eine weitere Aufforderung des Generals Riley, Chef der syrischisraelischen Waffenstillstandskommission in Beirut, nach Einstellung der Meliorationsarbeiten wurde von Tel Aviv ignoriert. Dafür erschienen israelische Truppen in der demilitarisierten Zone des Huleh-Sees, umstellten die arabischen Dörfer, töteten eine Anzahl Widerstand leistende Araber und evakuierten auf Lastwagen die gesamte Bevölkerung in das Innere Israels.
Seit diesem Tage hat das Prestige der UN in diesem Teil der arabischen Welt einen schweren Schlag erlitten.
Von kahlen Geröllfeldern führt der Weg hinunter zu goldgelben Weizenfeldern, mannshohe Kakteen stehen zwischen Apfelsinen- bäumen, auf Baumwollplantagen arbeiten grüßende Araber. Dort, wo der heilige Fluß in den See mündet, scheint die Bibel aufgeschlagen. Frauen in langen Gewändern, durch die Nase Ringe gestochen und das Gesicht blau täto viert, hocken majestätisch auf trabenden Mauleseln. Unter haushohen Platanen debattieren weiße Alte, den Blick auf die gischtige Wasserwüste des blaßgrünen Sees gerichtet. Das Bild scheint ewiger Frieden, aber die Erde ist zernarbt von frischen Kriegsspuren. Auf syrischem Boden zähle ich 15 Granateinschläge, zwei Blindgänger sind „Made in USA 1930“. Am diesseitigen Flußufer sitzen Frauen und Kinder der jenseitigen demilitarisierten Zone. Während die syrischen Soldaten Zurückbleiben, ziehen mich schwerbewaffnete Araber in einem Kahn über den Jordan. Dann zeigen sie auf die Trümmer ihrer nahen Dörfer, die sie im israelisdien Feuer verlassen mußten. Jetzt wollen sie um die Ernte ihrer Felder kämpfen.
Eine ganze Reihe neuer Ty pen
MOSKAU. Auf dem Moskauer Flugplatz Tuschino fand am vergangenen Sonntag in Anwesenheit von Generalissimus Stalin zum Tag der sowjetischen Luftstreitkräfte die alljährliche große Luftparade statt, in deren Mittelpunkt die Vorführung neuester Düsenjägermodelle stand. Nach Ansicht westlicher Beobachter erreichen diese Maschinen Überschallgeschwindigkeit. Die Parade wurde von Generalleutnant Wassili Stalin, dem Sohn des Generalissimus, geleitet und von insgesamt 486 Flugzeugen bestritten. Westliche Luftfahrtsachverständige stellten eine ganze Reihe neuer Typen fest, die ihnen bei dieser Parade zum ersten Male zu Gesicht kamen, darunter mindestens zwei neue Düsenjäger, die für schneller gehalten werden als der bisherige Standardtyp „Mig 15“, ein zweimotoriger leichter Düsenbomber, den ein Beobachter als Spezialflugzeug für Schiflsbekämpfung be- zeichnete, sowie ein weiteres zwei- und einmotoriges Flugboot. Besonders großen Eindruck machte eine neue Jak, die mit nur 15 m Startbahn aufsteigen kann.
Am zahlreichsten waren die schnellen Mi- kojan-Düsenjäger die in einer Formation von 108 Maschinen über den Platz brausten. Dahinter kamen 81 zweimotorige Düsenjagdbomber vom Typ Iljuschin, gefolgt von 55 viermotorigen schweren Bombern Muster Tu- polew.
Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete der Vorbeiflug von fünf sehr niedrig fliegenden Düsenjägern neuesten Typs in einem Kilometer Entfernung von den Zuschauern. Der Ansager erklärte, sie seien von den Konstrukteuren Mikojan, Lawotschkin und Ja- kowlew entworfen worden. Alle waren einmotorig mit zurückgebogenen Tragflächen und hochgezogenem Heck. Sie ähnelten in ihrem Aussehen stark dem Mikojanjäger.
Bonn zusammensetzen und die Situation unserer Jugend analysieren, vom Lehrplan der Schulen bis zum Srafvollzug in den Gefängnissen. Man wird auf zahllose faule Stellen stoßen, deren Beseitigung den jeweils „Zuständigen“ dann übertragen werden müßte. Regierung, Bundestag und die Landtage, die doch alle in anderen Fragen Freunde von Ausschüssen und auch von Kooperation sind, sollten mit der größtmöglichen Energie nicht nur das Zustandekommen einer Diagnose, sondern vor allem die Durchführung der Therapie garantieren.
Mag diese Aufgabe auch eine wirtschaftliche, politische und soziale sein, primär ist sie ein Problem des Menschen. Die Regierungen, die Parlamente und alle möglichen Stellen werden uns Kataloge der Maßnahmen vorlegen, die seit 1945 für die Jugend durchgeführt wurden, aber sie alle haben an der Existenz des Problems nichts geändert, das hier nur skizziert werden konnte. Die Frage kann nicht mit der Routine von Experten für Jugendfragen beantwortet werden, sie stellt sich uns allen, wie sie sich jeder Generation gestellt hat, aber ihr Inhalt ist heute ein anderer als vor zehn oder dreißig Jahren. Zwischen den Zahlen der Statistiken deutet sich eine Alternative an, die Aktionen und keine „Aufrufe“ verlangt.
Gegen Hilfestellung für FIXF
TÜBINGEN. Wie verlautet, erwägt man im Innenministerium von Württemberg-Hohenzollern, Kraftfahrzeuge, welche Personengruppen, die die verbotene Volksbefragung durchführen wollen, oder Gruppen von Angehörigen der verbotenen FDJ befördern, sicherzustellen und, soweit es sich um lizenzierte Unternehmen der Personenbeförderung handelt, ein Verfahren mit dem Ziel der Entziehung der Lizenz wegen Unzuverlässigkeit des Halters einzuleiten. Die rechtlichen Grundlagen für dieses Vorgehen sind nach dem auf Grund Artikel 9, Absatz 2, des Grundgesetzes ausgesprochenen Verbot der Volksbefragung und der „Freien Deutschen Jugend“ gegeben. Die Sicherstellung soll auch dann erfolgen, wenn es sich um Fahrzeuge handelt, die nicht in Württemberg-Hohenzollern, sondern in einem anderen Land der Bundesrepublik zugelassen wurden.
„Die wiedergefundene Zeit“
Marcel Proust zum 80. Geburtstag
In diesen Tagen wäre ein Dichter 80 Jahre alt geworden, den man heute getrost schon unter die, Klassiker der französischen — ja der Weltliteratur — rechnen kann: Marcel Proust.
Sein großes, in sich geschlossenes Werk ist in Deutschland leider noch immer nicht gebührend bekannt, obgleich E. R. Curtius als einer der ersten die Bedeutung dieses großen Romanciers und Entdeckers neuer Wirklichkeitsbereiche erkannt bat und immerhin eine gute Übersetzung eines Teils von „ä Ia retherche du temps perdu“ vorliegt. In den angelsächsischen Ländern aber fast noch mehr als in Frankreich hat sich eine Art Proust-Kult entwickelt, der dem Werke nicht im- mer gut tut. Oberflächliches und Nebensächliches wird dann mit dem Tiefsten und Eigentlichen zusammen verehrt und begrüßt und die schon ihrer Natur nach exklusive Dichtung wird zum gemeinsamen Besitz einer „Kaste“ von ..Prou- Btiens“
In Deutschland aber steht vielen Menschen, die «tie französische Kultur lieben und schätzen, die Begegnung mit Marcel Proust noch bevor. Unbefangen können sie sich in dieser traumhaft- wirklichen Welt verlieren und auf feinste Regungen der Seele lauschen lernen, wo andere, blasiertere Leser nur vertraute Gemeinplätze und überschätzten Gesellschaftsklatsch finden.
Es ist wirklich ein seltsamer Roman, diese mehrbändige Geschichte „Von der Suche nach der verlorenen Zeit“, zugleich erlebte Wirklichkeit ünd doch auch bewußt Gestaltetes. Der Rahmen 6er Erzählung ist arm an Handlung: Es wird uns von einem berichtet, wie sein Leben in gesellschaftlichen Vergnügungen, Eitelkeiten und Hoffnungen, In Ängsten und intimsten Freuden vergangen ist, bis er eines Tages — nach langen Jahren auf einem Fest lang nicht gesehenen Bekannten begegnet und plötzlich an ihren Gesichtem die „verlorene Zeit“ erkennt. Von der Erkenntnis der „verlorenen", verronnenen Zeit *eht es dann nur noch einen Schritt weiter bis zum Wiederflnden des verlorenen ün autobiographischen Bericht und so schließt das Buch da, wo es begonnen batte. Kreisförmig kehrt •eine Zeit in sich seihst zurück.
Wohl hat der Roman einen „Helden“ — oder eigentlich zwei, den Erzähler nämlich und den Baron de Charlus, aber eigentlich im Mittelpunkt steht die Zeit selbst, jene große Unbekannte, in der wir alle leben, die über uns alle Macht besitzt und um die wir doch mir zu rätseln vermögen. Die Zeit, ihre Macht und die Überwindung dieser Macht, darum kreist Prousts unermüdlicher Geist in vielfältigen Formen und Figuren.
Was gewesen ist, scheint verloren zu sein, dem Nichts übergeben unwiederbringlich, aber in seltenen Augenblicken widerfährt es dem feinen Psychologen Proust, daß er fühlt, wie jenes Vergangene doch noch Wirklichkeit ist. Wirklichkeit nämlich tief innen im eigenen Bewußtsein; nur, daß es dort schlummert, um auf den privilegierten Augenblick zu warten, der ihm ermöglichen wfrd, hervorzubrechen. Solche Erlebnisse können aus ganz banalen Anlässen heraus entstehen, z. B. daraus, daß Proust ein Stück Gebäck hi eine Tasse Tee taucht und dann das weiche Backwerk auf der Zunge langsam zergehen läßt. Er braucht dann nur die Augen zu schließen, wh — freilich auch nicht immer und nicht auf „Befehl" — einen Nachmittag vor vielen Jahren wieder gegenwärtig zu machen, den er bei seiner Tbnte verbracht, und an dem er das gleiche Stück Backwerk gegessen hat. Erinnerung und gegenwärtige Wahrnehmung verschmelzen dann und geben ihm das Gefühl seiner Einheit und seines Dauerns. Die Zeit scheint überwunden In höchst gesteigerter Form aber Ist die Dichtung selbst nichts anderes: Gegenwärtig-Wirkliches und Erinnertes fallen in eins zusammen und ergeben so lebendige Dauer, überzeitliche Wirklichkeit, wenngleich keine echte Ewigkeit.
Von der Zeit auch versteht er die Musik, „Das kleine Motiv von Vinteuil“, das solch eine bedeutende Rolle im Roman spielt, erregt immer aufs neue den Erzähler, weil es unweigerlich eine Welt mit heraufbringt, die beim ersten Hören auf ihn einströmte. Die Musik vermittelt wie kehle andere Kunst zugleich reine Zeit und reine Zeitlosigkeit, ist sie doch Verfließen in der Zeit und zugleich auf geheimnisvolle Weise umkehrbares und wiederholbares Fließen, das cHe Zeit gerade vergessen läßt.
So oft wir aber in der Dichtung Marcel Prousts lesen, wird auch uns wieder gegenwärtig, was ihm vorüberfließend und wiedergefunden das große Erlebnis war: Die verlorene Zeit. Sein Leben ist so ein Stück Ewigkeit geworden und wir dürfen von ihm sagen, was er einst von John Ruskin schrieb: „Noch immer leuchtet uns jener Tote gleich fernen erloschenen Sternen, deren Licht noch heute zu uns dringt, durch seine auf ewig geschlossenen Augen werden künftige Generationen einst die Welt erblicken." Dr. J. F.
Für (’(>n Füchortrrunä
Die Seele des alten Rußlands wird spürbar
Iwan Turgenjew, Das Adelsnest. Übertragen von Johannes von Guenther. Verlag Hans Carl, Nürnberg. 288 S.
Neben „Väter und Söhne" ist es vor allem das „Adelsnest“, das Turgenjews Ruhm begründete, und die Geschichte der unglücklich Liebenden, deren Liebe unerlöst bleibt durch die Mißgunst des Schicksals, sucht vergebens ihresgleichen. Wehmutvolle Resignation und kraftvoll-weiche Sprache erheben das Werk zu klassischer Höhe. Plastisch heben sich die Gestalten von der Landschaft ab, die echt russisch ist und der die Hingabe Turgenjews gehört, in lebensnaher Wahrheit stehen sie vor uns, und es gelingt seiner meisterhaften Kunst der Seelensehilderung, die in ihrer Haltung nicht wenig dem Erzähler Goethe verdankt, die Seele des alten Rußlands rein erklingen zu lassen.
Natur schreibt keine Poesie
Frank S. Stuart, Die Stadt der Bienen. MUnster-Verlag, Ulm. 1950. 2. Aufl. 280 S.
Dieses Bienenbuch nennt sein englischer Verfasser mit Recht ein Wirklichkeitsmärchen. Er erzählt darin als begeisterter Imker und berufener Dichter auf eine wundersame, schönheits- trunkene Art von den Lebensgewohnheiten der Bienen, ihrem Fledß und ihrer Nützlichkeit, ihren Gefahren und ihren Feinden, der Organisation des Bienenstaates u. ä. Erfüllt vom Blüten- Zauber der Obstbäume, Blumen und Wiesen, von der Honigsüße und der Bienentänze, vom Schwär
men und Hochzeiten, dem Abwehrkampf gegen Ameisen, Wespen, Mäuse, Dachse und anderes bienenfeindliche Getier, ist Stuarts „Stadt der Bienen“ ein beglückendes Buch durch die Wärme der Naturbetrachtung, die Vielfalt der Beobachtungen, die farbige Sprache und die kenntnisreiche Einfühlung in Schönheit und Segen des Webens im Bienenstaat. Jeder Naturfreund wird von der Darstellungskunst angezogen, bereichert und stark beeindruckt. Das Buch liegt bereits in zweiter Auflage vor und wurde in viele Kultursprachen übersetzt. Wir möchten es als das fesselndste uns bekannte Bienenbuch der Weltliteratur bezeichnen. H. Sch.
KnhnrcHc Nachrichten
STUTTGART. Die erste von fünf Bezirkstagungen der bischöflichen Methodistenkirche in Deutschland unter Leitung von Bischof Dr. Sommer wurde jetzt in Stuttgart abgeschlossen. Auf der Tagung, bei der der Evangelische Landesb;schof D. H a u g und der Kultusminister von Württemberg-Baden, Pfr. Dr. Schenkel, Grußworte sprachen, wurde bekanntgegeben, daß von 140 zerstörten deutschen Methodistenkirchen bis jetzt 50 wieder aufgebaut seien.
MÜNCHEN. Zur Mitwirkung bei den derzeit in München stattfindenden Festspielen kamen die Dirigenten Leopold Stokowski und George Sebastian nach München. Stokowski will Brahms, Strawinsky und Schönberg-Werke dirigieren. Sebastian, Chefdirigent der Großen Oper in Paris, wird Aufführungen des „Tannhäuser" und des „Fliegenden Holländer“ leiten.
NESSELWANG. Der Schriftsteller und Tierfreund Paul E1 p p e r vollendete gestern in Nesselwang im Allgäu das 60. Lebensjahr. Paul Eip- per wurde in Stuttgart geboren, studierte in München Malerei, war als Buch- und Kunsthändler tätig und fand dann als naturforschender Schriftsteller die Aufgabe seines Lebens. Sein erstes Buch „Tiere sehen dich an“, das 1928 erschien, machte ihn in der ganzen Welt bekannt.
STOCKHOLM. Walt Disney will SelmaLagerlöfs berühmte Märchenerzählung „Nils Hol- gerssons wunderbare Reise" verfilmen. Er trifft zu diesem Zweck demnächst in Stockholm ein.