NUMMER 105
MONTAG, 9. JULI 1951
Südwestfunk als Staatssender?
Der Entwurf eines Staatsvertrags zwischen den Ländern der französischen Zone
th. STUTTGART. Die drei Länderregierungen im französischen Besatzungsgebiet, Baden, Rheinland-Pfalz und Württemberg-Hohenzol- lern, haben in gemeinsamer Arbeit den Entwurf eines „Staatsvertrages zur Regelung der Verhältnisse des Südwestfunks“ ausgearbeitet, der die Ordonnanzen 187 und 198 der französischen Militärregierung für den Südwestfunk ablösen soll. Die „Deutsche Zeitung" in Stuttgart veröffentlicht Einzelheiten des Vertragsentwurfs, der noch unter „Geheimer Staatssache“ läuft, und führt ihn als eklatantes Beispiel für die auffallenden Bemühungen an, den Rundfunk unter Staatskontrolle zu bringen.
Nach dem geplanten Staatsvertrag sind als Organe des Südwestfunks neben dem Intendanten ein Verwaltungsrat und ein Rundfunkrat vorgesehen. Der Verwaltungsrat soll aus heun Mitgliedern zusammengesetzt sein, die nicht gewählt, sondern von der Regierung
E rnannt werden. Der Rundfunkrat soll mit 52 lilgliedem besetzt sein; davon sollen 12 Mitglieder — und zwar „hervorragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ — nur beratendes Stimmrecht haben. Sechs dieser 12 Mitglieder müßten Ausländer sein. Im Gegensatz zu anderen Rundfunkgesetzen verlangt der geplante Staatsvertrag, daß im Rundfunk-
Von Volk zu Volk
US-Entschließung an russische Adresse
WASHINGTON. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Alan Kirk, übergab am Samstag die Entschließung des USA-Kongres- 6es, in der das amerikanische Volk die Bevölkerung der Sowjetunion seiner Freundschaft versichert, dem sowjetischen Außenminister Wyschinski. Die Botschaft ist an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, Nikolaus Schwernik, gerichtet.
In der Entschließung heißt es, wenn das russische Volk die Friedensziele des amerikanischen Volkes kennen würde, könnte es keinen Krieg geben. Und weiter: „Die größte Hoffnung auf eine friedliche Welt liegt in der Sehnsucht nach Frieden und Brüderlichkeit, die jeder Mensch tief im Herzen trägt. Völker, denen die normalen Nachrichtenverbindungen versagt sind, werden jedoch nicht in der Lage sein, diese Verständigung zu erzielen, die die Grundlage für Vertrauen und Freundschaft sein muß.“ Es sei die heilige Pflicht der Regierungschefs beider Länder, auf jede ehrenhafte Weise zu versuchen, die Sehnsucht ihrer Völker nach Frieden zu erfüllen.
Erhard stark beeindruckt
Interview über amerikanische Eindrücke
WASHINGTON. Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard äußerte sich zum Wochenende in einem Interview über die Ergebnisse seiner Washingtoner Besprechungen. Prof. Erhard zeigte sich „von der amerikanischen Haltung auf das tiefte beeindruckt“. Erhard meinte, er sei nicht in die USA gekommen, um „etwas mit nach Hause zu nehmen“, sondern um die Organisation der amerikanischen Institutionen in den USA selbst kennenzulernen. Überall habe er Verständnis für die Besonderheiten der deutschen Situation und der deutschen Wirtschaft sowie für die Grundsätze, nach denen die deutsche Bundesregierung gehandelt hat, feststellen können. Die entscheidenden Stellen seien sich auch der deutschen Position im Rahmen der europäischen Verteidigung bewußt. Da Deutschland nicht an den unmittelbaren Rüstungsprogrammen beteiligt sei, sei in gemeinsamen Besprechungen die Frage erörtert worden, inwieweit die deutsche Wirtschaft durch mittelbare Leistungen der demokratischen Sache dienen könne. Es sei naheliegend, daß bei all diesen Gesprächen die Versorgung Deutschlands mit Rohstoffen, insbesondere mit Kohlen eine große Rolle spielte.
rat des Südwestfunks auch drei stimmberechtigte Regierungsmitglieder vertreten sind. Die Mitglieder des Verwaltungsrates und des Rundfunkrates sollen nicht weisungsgebunden sein. Die Vertreter verschiedener Gruppen im Rundfunkrat (z. B. des Erziehungswesens, des Sports und der Gemeinden) sollen aber ebenfalls nicht gewählt, sondern vom Staat ernannt werden; bei Vertretern von anderen Gruppen (z. B. der Kirchen und der Wohl
fahrtsverbände) behält sich der Staat vor, falls unter den Partnern über die Wahl keine Einigung erzielt werden kann, diese Vertreter ebenfalls zu ernennen. Der Regierung wird ferner das Recht eingeräumt, vom Intendanten die „Abstellung von Mißständen“ zu verlangen. Erklärt sich der Intendant solidarisch mit dem Rundfunkrat, so soll ein Schiedsgericht in dem Streit zwischen Regierung und Rundfunkrat entscheiden müssen. Fällt die Entscheidung für den Staat aus, so sollen alle Rundfunkorgane einschließlich des Intendanten ebberufen werden können. An ihrer Stelle soll dann ein Verweser eingesetzt werden.
Handelsabkommen mit der Ostzone
Jährlicher Warenaustausch in Höhe von 500 Millionen Verrechnungseinheiten
BERLIN. Das neue Interzonen-Handels- abkommen, das einen gegenseitigen Warenaustausch in Höhe von jährlich rund 500 Millionen Verrechnungseinheiten vorsieht, ist von der Bundesrepublik und der Sowjetzone paraphiert worden. Die Besatzungsmächte sollen nun Garantien über den ungehinderten Warenverkehr durch die sowjetische Besatzungszone ausarbeiten.
Die Bundesrepublik hat die Zusicherung für einen reibungslosen Verkehr auf der Eisenbahn, der Landstraße und dem Wasser gefordert. Von sowjetischer Seite soll jedoch darauf hingewiesen worden sein, daß derartige Zusicherungen nur von den Sowjets gegeben werden könnten.
Nach der Paraphierung des Abkommens hofft man, den Handel in Kürze wieder aufnehmen zu können. Seit Dienstag um Mitternacht, als das alte Abkommen abgelaufen war, ruht der gesamte Handel zwischen Ost- und Westdeutschland.
Das neue Interzonenabkommen soll zunächst bis Ende Juni nächsten Jahres lauten. Danach kann es mit jeweils dreimonatiger Frist gekündigt werden. Wegen der unterschiedlichen Währungen sind die im Abkommen aufgeführten Werte in Verrechnungseinheiten angegeben. Die westlichen Vertreter haben die Erklärung abgegeben, daß das Interzonenhandelsabkommen imwirksam würde, wenn Eingriffe in den Verkehr zwischen der Bundesrepublik und Berlin unternommen werden. Die östlichen Verhandlungspartner haben die Entgegennahme dieser Erklärung schriftlich bestätigt. Beide Verhandlungspartner betonten ihre Ent-
Kleine Weltdironik
MÜNCHEN. Die Landesversammlung der Bayernpartei. die über das Wochenende in München tagte, wählte Dr. Josef Baumgartner mit 220 von 254 Stimmen erneut zum Parteivorsitzenden. Erst vor wenigen Tagen hatte Baumgartner vor der Presse erklärt, er werde nicht mehr für das Amt des Landesvorsitzenden kandidieren.
FRANKFURT. Für die amerikanischen Besatzungsangehörigen sind vom amerikanischen Hohen Kommissariat neue Bestimmungen über das Angeln herausgegeben worden. Der Preis einer Angellizenz beträgt in Zukunft fünf Dollar. Das Geld soll den Länderregierungen für Fischzucht zur Verfügung gestellt werden. Die Amerikaner müssen jetzt auch der deutschen Polizei und den deutschen Besitzern, auf deren Grundstücken sie angeln, ihre Lizenz vorzeigen.
BONN. Bundeskanzler Dr. K. Adenauer hat am Freitag den neuernannten jugoslawischen Geschäftsträger in Bonn, den bevollmächtigen Minister Dr. Pavlic, zur Überreichung seines Beglaubigungsschreibens empfangen.
ROM. Der frühere Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht hat bestätigt, daß er den Posten eines Beraters des indonesischen Finanzministeriums übernehmen wird. In einem am Samstag veröffentlichten Interview mit dem Mailänder Korrespondenten der römischen Zeitung „II Tempo“ erklärte Schacht, er werde sich über Rom nach Neapel begeben, von wo er sich „in etwa einer Woche“ nach Indonesien einschiffen werde.
schlossenheit, den ►illegalen Handel zu unterbinden.
Die Ostzone wird u. a. erhebliche Mengen Zucker, Getreide und Futtergetreide, pflanzliche Fette, Holz und Mineralölerzeugnisse liefern. Der Westen liefert Hopfen und Schnittholz, Eisen und Stahl, darunter vor allem Walzwerkerzeugnisse.
Pensions-Erhöhung abgelehnt
Bundesrat diskutiert „Zivilen Notdienst“
BONN. Ein im Bundesrat unternommener neuer Vorstoß, zusammen mit der 20prozen- tigen Erhöhung der Gehälter der Bundesbeamten auch die Pensionen aufzubessern, ist gescheitert. Ein zu dem Regierungsentwurf eingebrachter Antrag Niedersachsens, Pensionen bis 350 DM um 15 und bis 500 DM um 10 Prozent zu erhöhen, wurde am Freitag mit einer knappen Mehrheit der Länderstimmen abgelehnt. Württemberg - Hohenzollern stimmte für die Pensionserhöhung. Damit bleibt es vorerst bei der Absicht der Bundesregierung, nur für Pensionen unter 200 DM einen Zuschuß von 10 Prozent zu gewähren.
Im Bundesrat machte der Vorsitzende des Ausschusses für Inneres, Minister Viktor Renner (Württemberg-Hohenzollem), Bedenken gegen die Pläne der Bundesregierung zum Aufbau eines Zivilen Notdienstes geltend. Der Notdienst soll Aufgaben der früheren technischen Nothilfe wahmehmen. Renner verlangte, daß an dieser Organisation die Gewerkschaften beteiligt werden. Für den Zivilen Notdienst sind im Bundeshaushalt 1951 600 000 Mark als Zuschuß vorgesehen.
MAILAND. Aus Anlaß des zweiten Weltkongresses des „Internationalen Bundes freier Gewerkschaften“ haben am Sonntag auf dem Mailänder Domplatz über 150 000 Gewerkschaftler Italiens eine der größten antikommunistischen Massendemonstrationen des Landes nach dem Kriege veranstaltet.
LONDON. Großbritanniens Fleischration, die gegenwärtig den Wert von einem Schilling pro Woche nicht überschreiten darf, wird von Mitte Juli an aufgebessert und wird his Ende August rund das Doppelte der bisherigen Zuteilung betragen. Es bleibt bei der Fledschrationierung nach dem Preis und nicht nach dem Gewicht.
LONDON. Der Befehlshaber der amerikanischen Luftstreitkräfte, General Vandenberg, ist gestern vormittag mit einem Sonderflugzeug von London nach dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt gekommen, um die USA Luftwaffeneinheiten in der Bundesrepublik zu inspizieren.
PARIS. Bei einer Explosion in einer französischen Munitionsfabrik in Haines lez Labassee bei Bethune kamen am Samstag 17 Arbeiterinnen ums Leben. Alle Anlagen der Fabrik wurden schwer beschädigt.
NEU DEHLI. Der indische Ministerpräsident Nehru forderte am Samstag Geburtenkontrollen in Indien, um den Geburtenüberschuß zu verringern. Er wies darauf hin, daß Indiens Bevölkerung in den vergangenen Jahren um 42 Millionen zugenommen habe.
Rekord-Beschäftigtenzahl
BONN. Die Zahl der Beschäftigten im Bundesgebiet hat Ende Juni mit 14 719 900 einen Rekord-Höchststand in der Nachkriegszeit erreicht. Sie liegt um 424 30o höher als der Höchststand des Vorjahres im September. Seit der Währungsreform hat die Zahl der Beschäftigten um rund 1,25 Millionen zugenommen. Die Zunahme der Beschäftigtenzahlen stellt sich im zweiten Vierteljahr 1951 abgerundet auf 473 000 Arbeiter, Angestellte und Beamte. Davon waren rund 241 000 Arbeitslose, der Rest Schulentlassene und Zugewanderte. Die Beschäftigungszahlen haben sich in allen Bundesländern erhöht; die absolut größten Zunahmen verzeichnen Nordrhein-Westfalen (148 000), Bayern (110 500), Niedersachsen (71 400), Hessen (39 600), und Schleswig-Holstein (29 000).
Zweitgrößter Zementproduzent
HAMBURG. Die Zementproduktion der Bundesrepublik entsprach 1950 mit 10,88 Millionen t etwa 90 Prozent der Vorkriegserzeugung im damaligen Reichsgebiet. Damit war das Bundesgebiet der größte Zementproduzent nach den USA (37,99 Millionen t); es folgen Großbritannien mit 9,91 und Frankreich mit 7,28. Italien mft 5,00 und Belgien mit 3,66 Millionen t.
USA kündigen Ost-Handelsverträge
WASHINGTON. Die USA haben die Handelsverträge mit der Sowjetunion, Rumänien und Bulgarien gekündigt. Den Regierungen Polens und Ungarns wurden vom Außenministerium mitgeteilt, daß die USA die Meistbegünstigung diesen Ländern gegenüber zurückziehen wollen. Falls Polen und Ungarn mit der Streichung der Meistbegünstigungsklausel nicht einverstanden seien, wolle die USA die Handelsverträge mit ihnen kündigen. Weiter teilte das Außenministerium mit, daß Präsident Truman in der kommenden Woche die Aufhebung der Zollkonzessionen an eine Reihe von Staaten des sowjetischen Einflußbereiches anordnen werde.
Erregung über Treibstoffpreiserhöhung
FRANKFURT. „Die Treibstoff Preiserhöhung ist ein weiteres Glied in der Kette der kraftver- kehrsfeindLichen Maßnahmen der Bundesregierung“, erklärt die Bundesorganisation des Kraftverkehrsgewerbes. Die Sonderbelastung des Kraftverkehrsgewerbes ohne ausreichende Tariferhöhung habe dazu geführt, daß das Kraftverkehrsgewerbe unter den Selbstkosten arbeiten müsse und einem dauernden Substanzverzehr ausgesetzt sei.
Deutsches Benzol im Austausch
NEW YORK. Die USA und die Bundesrepublik haben ein Tauschabkommen über die Lieferung von 25 000 t Benzol aus Westdeutschland gegen 75 000 t amerikanisches Hochoktanbenzin (besonders klopffestes Benzin) geschlossen. Das deutsche Benzol soll in den USA vor allem für die Erzeugung von synthetischem Kautschuk verwendet werden.
Preisklarheit für Margarine gefordert
HAMBURG. Die Margarineindustrie im Bundesgebiet fordert in einem über den Margarineverband an die Bundesregierung gerichteten Schreiben dringend eine weitere Subventionierung der Margarinepreise. Sollte eine Fortsetzung der Subventionierung nicht möglich sein, so müsse sofort über den Margarinepreis entschieden werden.
Mitbestimmung bei Betriebsverlegung
SINGEN. Eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung für das Mitbestimmungsrecht fällte in diesen Tagen das Arbeitsgericht Radolfzell in der Frage, ob der Betriebsrat bei deir Verlegung von Teilen des Betriebes gehört werden muß oder nicht. Eine Feststellungsfrage de« Betriebsrates der Maggi-Werke in Singen hatte die Entscheidung des Gerichts darüber angefordert, ob die Direktion bei der geplanten Verlegung der Verwaltung des Werkes von Singen nach Frankfurt a. M. den Betriebsrat zu Rate ziehen müsse oder nicht. Das Gericht entschied, daß der Betriebsrat nach dem Badischen Betriebsrätegesetz „ein wirtschaftliches Mitbestimmungsrecht auch dann besitzt, wenn mit der Verlegung keine Entlassungen verbunden sind“.
HAMBURG. Die am Freitag von Heimatvertriebenen beschädigte Polenausstellung der „Helmut v. Gerlach-Gesellschaft“ in Hamburg wird fortgesetzt, nachdem die Hamburger Polizei den Schutz der Ausstellung gesichert hat.
Der oerschlosserte MUND
Roman von Doris Eicke
^ Alle Redite V erlagthau» Reutlingen
„Im Gegenteil zwischen ihm und mir ist nichts — oder doch fast nichts mehr“, sagte sie halb abgewandt.
„Ich verstehe nicht.“
„Da geht es Dir genau wie mir. Hab Dank, Will, und gute Nacht!“
Der gute Plüsch, die unzähligen Häkeldeck- qhen und Nippsachen empfingen sie unverändert. Sie schaute nachdenklich darauf nieder und versuchte sich vorzustellen, wieviel Schicksale dieser altmodische Raum schon gesehen hatte. Die Jahre kamen und gingen, ein Jahrhundert wechselte das andere ab, aber die Probleme der Menschen blieben im Grunde die gleichen.
Lange stand sie am Fenster und schaute über die Dächer der still werdenden Weltstadt hin. Zum erstenmal erfuhr sie an sich selber die alte Wahrheit, daß ein Mensch nirgends einsamer ist als inmitten allzu vieler. Dies war nun ihr erster Berliner Tag, und er war ihr viel schuldig geblieben. Sie war ja nicht gekommen, um sich hier zu vergnügen, sondern um Niels’ Liebe zu suchen, deren eine Hälfte ihr rätselhaft verloren gegangen war. Eigentlich hätte sie am andern Morgen wieder abreisen können... Der Zweck dieser Reise war ja doch verfehlt. Niels blieb beharrlich jenseits der von ihm errichteten Schranke, und es würde nichts geschehen, das ihre innere Widerstandskraft gegen Anfechtungen wie Tillmann stärkgp könnte. Warum kämpfte sie eigentlich noch länger um Niels’ Liebe und gegen ihr natürliches Glücksverlangen? Wahrscheinlich würde sie doch eines
Tages erliegen, und die Verurteilung der Welt auf sich ziehen. Niemand würde danach fragen, wie tapfer sie sich gewehrt, wie viel sie gelitten hatte. Für sie und ihr eigenes Gewissen aber mußte diese Wahrheit ihr Gewicht behalten, um ihrer Selbstachtung willen.
Die beiden nächsten Tage vergingen im Trubel des bewegten Berliner Lebens gleichwohl rasch mit allerlei Besichtigungen und Vergnügungen, manchmal mit und manchmal ohne Will. Von mittags an stand Niels stets ganz zu ihrer Verfügung. Andrea bemühte sich ihm gegenüber um eine Haltung ruhiger Freundlichkeit, das war das Äußerste, was sie zustande brachte. Innerlich aber fühlte sie sich Niels nach dem vielversprechenden Anfang entsetzlich fremd. Am dritten Tag telefonierte sie mit Detlevs Kinderheim, um zu hören, wie es dem Jungen gehe. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, daß man irgendwie Platz geschaffen habe und er darum länger als vorgesehen, bleiben könne. Andrea war froh, daß Niels während dieses Gesprächs nicht neben ihr stand. Sie würde ihm diese neue Möglichkeit, länger in Berlin zu bleiben, auf jeden Fall verschweigen.
Der letzte Abend sollte mit einem festlichen Abendessen zu fünfen begangen werden. Niels hatte seinen Onkel, einen Chemieprofessor, mit seiner Frau eingeladen, auch Will war mit von der Partie. Die Verwan- ten waren herzliche, natürlich aufgeschlossene Menschen, und Niels hing sehr an ihnen. Man aß in der „Traube“ bei der Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche, inmitten eines im Lokal künstlich angelegten und bewässerten tropischen Gartens. Andrea hatte noch nie etwas so Seltsames gesehen, und Niels freute sich, es ihr zu zeigen. Das Essen war gut, der Wein würzig und die Stimmung dementsprechend, selbst Andrea vergaß ein wenig ihren Kummer und machte mit, so gut sie es vermochte.
Spät abends brach man auf. Zufällig wohnten sie alle im Westen. Zuerst sollte Andrea in ihrer Pension abgeliefert werden; dabei galt es auch Abschied von Niels zu nehmen, der am anderen Morgen dienstlich daran verhindert war, sie zum Zuge zu bringen. Je mehr man sich ihrer Haustüre näherte, je unruhiger wurde sie. Wie würde Niels sich jetzt verhalten? Andrea fühlte mit heißer Angst, daß nun für sie eine Art Entscheidung fallen würde. Sie war plötzlich totenblaß, als sie allen, außer Niels de» Reihe nach die Hand reichte. Während sie sich besonders herzlich von Will verabschiedete, hörte sie in einem Überwachsein ihrer Sinne, wie der Professor, der hinter ihr stand, Niels ebenfalls Gute Nacht sagen wollte und wie einen Stich in ihr zuckendes Herz seinen gelassenen Protest: „Aber ich komme doch mit Euch weiter.“
Syamken merkte an ihrer Blässe und ihrem Zusammenzucken, daß etwas in ihr vorging und verstummte mitten im Satz. Dadurch wurde für beide das vertrauliche Flüstern des Professors überdeutlich:
„Du brauchst doch auf uns keine Rücksicht zu nehmen, alter Junge. Geh dorthin, wo Du hingehörst, zu Deiner Frau, Wir waren auch einmal jung.“
Unvermittelt färbte sich Andreas blasses Gesicht dunkelrot, und eine furchtbare Härte schien es zu versteinen. Sie wandte sich Niels zu, reichte ihm flüchtig ihre kalten, bebenden Fingerspitzen und verschwand ohne ein einziges Wort des Abschiedes hinter der mit einem Schnappschloß versehenen Tür.
„Andry!“ rief Merck verständnislos und klopfte an die Scheibe, durch die er sie in der matten Helle des Korridors auf den Lift zuhasten sah. Obschon sie ihn hören mußte, entschwand sie seinen Blicken, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die peinliche Szene hinterließ eine allgemeine Verlegenheit, die sich bei Niels bis zur Beschämung steigerte, und das freundliche,
alte Ehepaar war froh, als es sich verabschieden konnte.
Allein geblieben, trotteten die beiden Freunde mit gesenkten Köpfen nebeneinander her. Sie waren schon vor Niels Haustüre, als er sich endlich zu einem Wort aufraffte.
„Verstehst Du das, Will?“’
Syamken nahm den Hut ab und strich sich über die Stirn, als müßte er eine Vision verscheuchen: Andrea, wie sie das Schicksal der Butterfly erlebt und sich in gewissem Sinne damit identifiziert hatte.
„Nimm Dich in acht, Niels. Schon einmal hast Du Andrea beinahe verloren, aber noch nie war die Gefahr so groß wie jetzt.“
„Aber warum denn? Wir haben nicht die kleinste Auseinandersetzung miteinander gehabt.“
Niels, Du bist so schimmerlos, wie nur je ein braver Ehemann in Anbetracht seines guten Gewissens war und vergißt dabei, daß aller Schein gegen Dich spricht.“
„Es kommt nicht auf den Schein an.“
„Wenn er sich Andrea als Wahrheit und zwar als eine verzweifelte präsentiert, so kommt es sehr auf ihn an, und er kann die schlimmsten Konsequenzen auslösen. Dein Opfer ist sehr achtenswert, aber die Art, wie Du es durchführst, ist barbarisch. Wie lange soll diese junge, hübsche Frau eigentlich noch auf Dich warten?“
„Bis ich gesund bin", erwiderte Merck eigensinnig. „Hab ich so lange durchgehalten, werde ich nicht noch im letzten Augenblick schwach werden. Ich werde Andry dann alles erklären.“
„Wenn Du dann noch Gelegenheit dazu hast.“
„Wie meinst Du das?“ fragte Niels beunruhigt.
(Forts, folgt)