NUMMER 104
SAMSTAG, 7. JULI 1951
Bedingt für Aufrüstung
Internationale Politik auf dem 2. Weltkongreß der Freien Gewerkschaften
Drahtbericht unseres Mailänder Korrespondenten Carlo G. Mundt
MAILAND. Die freien Gewerkschaften unterstützen die Verteidigungsbestrebungen der Demokratien - oder einfacher gesagt, die Aufrüstung gegen die Diktaturen - unter gewissen Bedingungen, so gab der Präsident des Internationalen Bundes der Freien Gewerkschaften, Paul Finet, klar in seiner Rede auf dem 2. Weltkongreß zu Mailand zu verstehen, bei dem über 50 Länder mit rund 500 Delegierten vertreten waren. Ohne Zweifel bestehen Befürchtungen unter der Arbeiterschaft - und nicht nur unter den 52 Millionen Mitgliedern des IBFG -, daß die Aufrüstung zur Reaktion, zum Imperialismus führe, daß die Armen mehr dazu beitragen müssen als die Reichen, die wiederujn Gelegenheit haben, noch reicher zu werden. Finet hat kein Blatt vor den Mund genommen und klar gesagt, daß Sicherungen gegen diese Gefahren getroffen werden müßten, wenn' die Kraft dieser organisierten Arbeiter sich voll und ganz für die Kraftanstrengung gegen den Kommunismus einsetzen soll.
Fast 200 Pressevertreter aus allen Ländern der f ünf Erdteile bevölkerten die Pressetribüne, auf die die Reden in den fünf offiziellen Sprachen Italienisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch übertragen wurden. Im Kongreßsaal erkannte man die zehn deutschen Delegierten mit Stimmrecht, geführt von dem neuen 1. Vorsitzenden des DGB, Christian Fette. Deutschland spielt auf diesem Kongreß eine besondere Rolle, der DGB hat bekanntlich eine Resolution eingebracht, nach der der IBFG sich mit der Frage des Mitbestimmungsrechtes befassen soll. In sehr zurückhaltender Form wird nur vorgeschlagen, daß der Bund Unterlagen über die Form sammeln soll, in der in den einzelnen Ländern bereits solche Abmachungen erreicht worden sind, bezw. gefordert werden. Es ist aber klar, daß der DGB weiter geht, er will dadurch vor allen Dingen das Interesse der gewerkschaftlichen Welt an diesen neuen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wek- ken. Und zumindest pressemäßig ist ihm dies international gelungen, ein guter journalistischer Schachzug. Deutschland hat noch eine
weitere Entschließung präsentiert, die sich allgemein mit Jugendfragen beschäftigt.
Mit Explosivstoff ist dagegen eine Resolution des Allgemeinen Arbeitgeberverbandes von Britisch-Honduras angefüllt, nach der der Kongreß beschließen soll, die Präambel zur Satzung dahingehend abzuändern, daß in ihr erklärt wird, „daß die Regierungen und Völker ihre Rechte und Pflichten einer gemeinsamen göttlichen und unendlichen Quelle, nicht aber rein natürlichen und menschlichen Gefühlen entnehmen“. Es liegt auf der Hand,
Nächste Instanz Sicherheitsrat
London zur Haager Entscheidung
LONDON. Diplomatische Kreise in London äußerten am Donnerstagabend die Auffassung, Großbritannien werde sich gegebenenfalls an den Sicherheitsrat wenden, wenn Persien den Spruch des Haager Gerichtshofes zum Ölkonflikt nicht anerkenne. Der Sicherheitsrat habe die Möglichkeit, die Beachtung der Haager Entscheidung zu erzwingen. Man hält es in London allerdings für möglich, daß sich Persien auch seinerseits an den Sicherheitsrat wendet.
Am Donnerstagnachmittag hatte der internationale Gerichtshof im Haag eine einstweilige Verfügung zum persischen Ölkonflikt erlassen. Persien und Großbritannien werden darin aufgefordert, alle Maßnahmen einzustellen. die die Tätigkeit der anglo-irani- schen Ölgesellschaft beeinträchtigen, einem endgültigen Gerichtsurteil vorgreifen oder den Rechtsstreit verschärfen könnten.
Ein Sprecher der persischen Regierung erklärte inzwischen, die Entscheidung des Haager Gerichtshofes habe nicht den geringsten Einfluß auf die persischen Verstaatlichungspläne.
daß hier der Versuch gemacht wird, den Bund sozusagen christlich festzulegen, mit allen möglichen antimarxistischen Konsequenzen.
Rein politisch erwartet man am Rande Aufklärung über die Lage in Finnland, wo sich in diesen Tagen die Arbeiterorganisationen vom roten Weltgewerkschaftsbund lösten. Auch die amerikanische Feststellung, daß die Löhne in Europa trotz der Ankurbelung der Wirtschaft und der höheren Profite nicht wesentlich verbessert wurden, ist interessant. Franco (Spanien und Argentinien sind nicht Mitglieder, nur die Exil-Gewerkschaften sind anerkannt und vertreten) unternimmt zurzeit in Katalonien den Versuch, den Staatssyndikalismus zu reformieren, und es wird von Interesse sein, darüber etwas zu hören. Der Antrag, die Türkei in die Reihe der Atlantikstaaten aufzunehmen, gilt nach der Entwicklung der letzten Tage als überholt.
Abstimmungsniederlage Attlees
Krise der Atomzusammenarbeit
LONDON. Das britische Labour-Kabinett erlitt in der Nacht zum Freitag im Unterhaus eine überraschende Abstimmungsniederlage. Mit 157:141 Stimmen nahm das Parlament einen Antrag der Opposition an, einzelne von der Regierung verfügte Preiserhöhungen rückgängig zu machen. Nach Verkündung des Abstimmungsergebnisses entstand im Unterhaus ein Tumult.
Der Leiter der Atomenergiekontrolle, Lord Portal, ist zurückgetreten. Sein Rücktritt wurde am Donnerstag im Oberhaus in einer Debatte bekanntgegeben, in der die Regierung beschüldigt wurde, mit ihrem Atombombenprogramm hinter der Sowjetunion zurückzubleiben. Lord Cherwell, der wissenschaftliche Berater Churchills während des Krieges, stellte den Antrag, das Atomenergieprogramm dem Versorgungsministerium zu entziehen und statt dessen von einer unabhängigen Organisation leiten zu lassen. Cherwell bedauerte, daß eine Vertrauenskrise zwischen Großbritannien und den USA die enge Zusammenarbeit der beiden Staaten auf dem Gebiete der Atomforschung zerstört habe.
Kleine Weltchronik
KARLSRUHE. Das Bundesverfassungsgericht wird am Montag, den 16. Juli, mit einer Festveranstaltung im Badischen Staatstheater in Karlsruhe eröffnet werden. An dem Festakt werden u. a. Bundespräsident Heuß, Bundeskanzler Adenauer, Justizminister Dehler und Ministerpräsident Mayer teilnehmen.
BONN. Der Haushaltsausschuß des Bundestags beschloß am Freitag, 345 Millionen DM zu bewilligen, um die bevorstehende Rentenerhöhung zu bevorschussen. Der Ausschuß verlangte, daß mit sind gescheitert. Die Arbeitgeberverbände der der Auszahlung der Vorschüsse ohne Rücksicht Landwirtschaft und der Bauernverband haben' - den Zeitpunkt der Verabschiedung des Ren-
LohnVerhandlungen gescheitert
Landarbeiter-Gewerkschaft droht mit Streik
BONN. Die Verhandlungen der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft mit dem Deutschen Bauernverband und den landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbänden über eine Lohnerhöhung für die Landarbeiter
alle Lohnforderungen mit dem Hinweis auf idle außerordentlich schlechte Rentabilitätslage der Landwirtschaft abgelehnt. Daraufhin erklärte die Gewerkschaft, daß sie ihre Lohnforderung notfalls mit Streik durchsetzen werde.
Die Gewerkschaft hatte eine 25prozentige Erhöhung aller Landarbeiterlöhne gefordert, die gegenwärtig im Bundesdurchschnitt bei 85 Pfennig pro Stunde liegen. Diese Forderung ist nach ihrer Ansicht von den landwirtschaftlichen Unternehmern ohne Schwierigkeiten aus dem 600-Millionen-Mehrerlös aufzubringen, den die Landwirtschaft im laufenden Wirtschaftsjahr durch die letzten Preiserhöhungen für ihre Erzeugnisse habe. Die Lohnforderungen würden einen Aufwand von 280 Millionen DM erfordern. Die schlechte Rentabilitätslage der Landwirtschaft wurde energisch bestritten und auf das Versprechen, mit dem Rhöndorfer Agrarprogramm auch die Lohnforderungen der Landarbeiter zu erfüllen, hingewiesen. Die Besprechungen waren keine direkten Tarifverhandlungen, die nur auf Landesebene möglich sind, sondern sollten die Probleme zunächst auf höchster Ebene klären.
tenerhöhungsgesetzes noch im Juli begonnen werde.
DÜSSELDORF. Im Kalkruimer Wald bei Düsseldorf ist nach Mitteilung der nordrhein-westfälischen Polizei eine 16 Zentner schwere nichtentschärfte amerikanische Fliegerbombe gestohlen worden. Die Polizeidirektionen des Bundesgebiets wurden zur Mitfahndung aufgerufen, da eine starke Gefährdung der Öffentlichkeit besteht.
DORTMUND. Bundesfinanzminister Schaffer wandte sich gegen das Prioritätssystem zur Dek- kung des Besatzungsbedarfs. Zwar sei Deutschland bereit, bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit des deutschen Steuerzahlers zur Verteidigung des Westens beizutragen, werde dieser Bogen jedoch überspannt, könne die Bundesrepublik möglicherweise über Nacht außerstande sein, den sozialen Frieden zu erhalten.
ROM. In einer Rede vor dem katholischen internationalen Landwirtschaftskongreß forderte Papst Pius XII. baldige Maßnahmen gegen die Landflucht und die zunehmende Verschlechterung der landwirtschaftlichen Gebiete der Welt. Hierbei empfahl er: Internationale Hilfe für unterentwickelte Gebiete, Bodenreform, einen international organisierten Bevölkerungsaustausch, bessere Arbeitsteilung unter den Nationalwirtschaften und eine breitere Verteilung der Produktionskraft.
ROM. Der frühere Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht ist am Donnerstag von Meran nach Genua gefahren, von wo aus er sich nach Indonesien begeben wird, um den Posten eines Ratgebers im indonesischen Finanzministerium zu übernehmen. Schacht hat die entsprechenden Berichte weder bestätigt noch dementiert.
NEAPEL. Die Tochter des amerikanischen Präsidenten, Margaret Truman, hat sich nach siebenwöchiger Reise durch Westeuropa an Bond des amerikanischen Luxusdampfers „Constitution“ begeben, um nach den USA zurückzukehren.
PARIS. Der Bürgermeister von Moskau, M. Jasnow, ist am Donnerstagabend mit dem planmäßigen Flugzeug Prag—Paris der „Air France“ in der französischen Hauptstadt eingetroffen, um an den Feierlichkeiten zum 2000jährigen Bestehen der Stadt teilzunehmen.
PARIS. Die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs arbeiten zurzeit eine gemeinsame Note zur Saarfrage aus, die die Note der Bundesregierung an die Westmächte vom 30. Mai beantworten soll. Mit der Überreichung dieser Note in Bonn ist demnächst zu rechnen.
BRÜSSEL. Der am 16. Juli endgültig abdankende König Leopold von Belgien wird auf Beschluß des belgischen Abgeordnetenhauses weiterhin eine jährliche Zuwendung von sechs Millionen Belgischen Francs (504 000 DM) erhalten, so daß er also monatlich über 42 000 DM verfügen kann. Insgesamt hat das Parlament der belgischen Königsfamilie jährlich 55 Millionen Francs zugesprochen. Leopolds Bruder, der ehemalige Prinzregent Charles, erhält vier Millionen, der Rest steht Prinz Baudouin, seiner Großmutter und seinen Geschwistern zur Verfügung.
SINGAPUR. Das Seegebiet vor dem britischen Marinehafen von Singapur wird nach einer Mitteilung der Kronkolonie vermint.
TEHERAN. Unter Assistenz von vier amerikanischen und drei persischen Ärzten hat ein amerikanischer Chirurg beim Schah von Persien eine Blinddarmoperation vorgenommen.
Jugend formuliert besser
kr. Ein deutscher Rundfunksender hatte neulich gemeldet, daß einige jugendliche kommunistische Helgolandinvasoren mit Fürsorgeerziehung „bestraft“ worden seien. Gegen diese Formulierung haben sich die Mitteilungen der Evangelischen Jugend in erfreulicher Frische gewandt: „Es ist uns neu und überraschend, daß die Fürsorge ganz offiziell als Strafe bezeichnet wird. Auch wenn es sich in diesem Falle um Kommunisten handeln sollte (oder gerade dann!), ist ein solcher Mißgriff nicht entschuldbar.“ Dabei wird angenommen, daß das Gericht selbst nicht die Fürsorgeerziehung „Strafe“ genannt haben könne, weil diese keine sein soll. Soweit ist der Stellungnahme der Evangelischen Jugend nichts hinzuzufügen. Sie hat darüber hinaus Kritik an der Fürsorgeerziehung überhaupt geübt, wie diese sich, auch wo sie in christlichen Heimen geschehe, vielfach erschreckend vom Charakter des Heltens und Rettens entfernt habe. Eine solche Kritik, die keine Generallinie der eigenen Gesinnungsgenossen anerkennt, erscheint uns beherzigenswert. Vor allem aber sollte viel mehr als bisher gerade bei dem ungelösten Problem der gestrandeten Jugend der Grundsatz eingehalten werden, daß in einer echten Demokratie moralische Schäden bei jungen Menschen in einer behutsamen Erziehung zu reparieren und nicht „herauszubimsen“ sind. Die Nachsicht, die bei manchem öffentlichen Skandal gegenüber „gestrandeten“ Politikern geübt worden ist, wäre bei der gefährdeten Jugend besser am Platze.
Verstärkte Jugoslawienhilfe
Rund 150 Millionen Dollar für Tito
LONDON. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich haben eine Ausdehnung der Wirtschaftshilfe für Jugoslawien beschlossen, gab Außenminister Herbert Morrison am Donnerstag vor dem britischen Unterhaus bekannt. Aus gutunterrichteten Kreisen verlautet, daß die drei Westmächte der Tito-Regierung rund 150 Millionen Dollar zur Verfügung stellen werden.
Morrison betonte, daß durch die westliche Hilfe die jugoslawische Widerstandskraft gegenüber seinen Kominformnachbam verstärkt werden solle. Vorbehaltlich der Zustimmung der drei Parlamente beabsichtigen die Regierungen, der Tito-Regierung Mittel zum Ankauf von Rohstoffen, Verbrauchsgütern und anderer wichtiger Waren zur Verfügung zu stellen. Morrison bemerkte weiter, daß Waffen von Jugoslawien auf dem Normalwege gekauft werden. Eine Finanzhilfe für Spanien sei nicht beabsichtigt.
Ramcke erholt sich
Großer Empfang ln Schleswig
HAMBURG. Der ehemalige Fallschirmjägergeneral Bernhard Ramcke wurde am Donnerstagabend von über 10 000 Menschen ii. seiner Heimatstadt Schleswig jubelnd begrüßt, als er mit dem fahrplanmäßigen Zug gegen 23 Uhr dort eintraf. Unter langanhaltenden Hochrufen mußte sich der Exgeneral mühsam einen Weg zu seiner Frau und seinen sieben Kindern bahnen. Ramcke dankte filr den herzlichen Empfang und erklärte, er freu« sich, nach „siebenjähriger Haft in französischen Kerkern“ wieder zu Hause zu sein.
In einem Interview mit der Associated Pres« erklärte Ramcke, er habe während seiner Unterredung mit Bundeskanzler Dr. Adenauer in Bonn keinen Zweifel daran gelassen, daß er nach den letzten Jahren zunächst einmal nach Hause und sich ausruhen wolle. Ramcka gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß bald etwas getan werde, um das Schicksal der etwa 140 000 Franzosen, Belgier, Holländer, Skandinavier und anderer Europäer zu erleichtern, die auf deutscher Seite gegen den Bolschewismus kämpften und heute in den Gefängnissen ihrer Heimatländer inhaftiert seien. Schließlich habe die Entwicklung der letzten Jahr« gezeigt, daß die Haltung dieser Leute nicht falsch gewesen sei.
Der verschlossene MUND
41]
Roman von Doris Eicke
Alle Hechte Verlegthaut Reutlingen
„Nun, Du kennst ja Niels. Wenn er jemanden gern hat, steht er wie ein Fels für ihn ein.“
„Und Du, Andrea?“
„Ich? Ich nntg Ulricke nicht.“
„Komisch, es gibt kaum Frauen, die sie mögen.“
Sie stiegen aus dem Autobus und schritten langsam Seite an Seite die Auffahrt zur Staatsoper hinauf.
t „Ich werde mich bei Niels entschuldigen.“ „Das brauchst Du nicht, es ist alles in Ordnung, Will“, sagte Andrea warm und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wäre es nicht an der Zeit für Dich, ein anderes Leben zu beginnen?“
„Ich bin schon dabei, kleine Andrea.“
„Im Emst? Und Dorette Kleinschmitt?“ „Die war nichts als eine bestellte Statistin. Ich konnte Ulricke anders nicht beikommen, sie hat sich seit Jahren unvernünftig gegen die Scheidung gewehrt.“
„Und warum?“
„Weil sie mir unmöglich machen wollte, wieder zu heiraten.“
„Ein sonderbares Menschenkind.“
„Ja, und nur auf Abstand zu genießen. Wenn wir erst geschieden sind, werden wir uns sicher einigermaßen vertragen. Vorläufig reizt es sie maßlos, daß jemand die Unverfrorenheit aufbringen kann, sie beiseite zu schieben. Aber brechen wir das unerfreuliche Thema ab, Andrea. Wir müssen uns
sehr beeilen, hör, es klingelt schon zum zweiten Male.“
Andrea hatte noch keine von Puccinis Opern im Theater erlebt, aber sie kannte die Musik und fürchtete zuzeiten ihre betörende Wirkung. Als phantasievoller, herzenswarmer Mensch ließ sie sich von der tragischen Handlung in fast erschreckendem Maße gefangennehmen. Die Vollkommenheit der Aufführung tat das ihre, um die Grenze zwischen Theater und Erleben mehr und mehr zu verwischen. Nach dem zweiten Akt saß sie stumm auf ihrem Platz und war nicht zu bewegen, Will in die Wandelgänge zu begleiten. Daß er gerade für diese Oper Karten bekommen hatte, erschien ihr schicksalhaft. Hatte sie das qualvolle Warten zwischen Hoffen und Bangen der armen Butterfly nicht selbst erlebt, während Niels in Rußland war? Gab es eine Sorge, eine Angst im Herzen dieser kleinen Japanerin, die sie nicht auch empfunden, einen Gedanken in ihrem Hirn, den sie nicht selbst bis zum Überdruß gedacht hatte? Sie wurde von der bisherigen Gleichheit der Schicksale so in Bann gezogen, daß sie nicht mehr fähig war, dieses gespielte Stück Leben als Theater zu empfinden. Als sich der Vorhang zum dritten Akt hob, schlug ihr Herz dumpf vor Angst. Butterfly und Andrea, sie schienen rätselhaft verquickt, beide leidend an ihrer Liebe zu einem Mann, der sie in demütigender Weise zu übersehen schien, und beide Mutter seines Kindes. Wie süßes Gift drang Puccinis Musik während der großen Warteszene im langsam aufdämmernden Morgen in Andreas Seele und Butterflys herzzerreißender Abschied von ihrem Kind: „Der du vom Thron des Himmels mir gesendet —.“
Syamken fühlte mit Besorgnis, daß Andrea zitterte wie Espenlaub, Ströme von Tränen rannen still über ihr erschüttertes Gesicht. In der Meinung, sie aus einem quälenden Bann reißen zu müssen, tastete er nach ihrer
Hand und flüsterte begütigend in ihr Ohr, daß doch alles nur Theater sei und sie sich nicht derart aufregen solle. Sie hörte ihn nicht. Blind und taub gegen alles andere starrte sie auf die Bühne, und als Butterfly sich den Dolch ins Herz stieß, schien es einen Augenblick, als würde auch sie vornübersinken.
Der stürmische, nicht endenwollende Beifall riß sie endlich aus der Welt ihres Schmerzes in die Wirklichkeit zurück. Will blieb mit ihr in der Loge, bis sie sich beruhigt hatte, brüderlich besorgt, aber auch stark geniert.
„Verzeih mir, Will“, sagte Andrea leise, bevor sie hinausgingen, „es hat mich einfach umgeworfen — zuviele Parallelen, weißt Du.“
„Aber Andrea!“
„Doch, es ist so, Du weißt es nur nicht, und ich möchte auch nicht darüber sprechen.“
Als er mit den Mänteln zurückkam, stand sie noch immer wie verloren da. Er nahm sie kameradschaftlich am Arm und ging mit ihr die Linden herunter, dem Adlon zu.
„Was für Gegensätze es doch gibt“, dachte er verwundert. „Ulricke hätte sicher einen ■Grund zu ironischer Kritik gefunden und mir damit jede Stimmung zerrissen. Andrea wäre in ihren Augen sicher nichts anderes als ein widerwärtig sentimentales Schaf. Ihre Reaktion war zwar übertrieben und nicht ohne Peinlichkeit für mich, aber wieviel anziehender ist eine solche Frau, die sich von ihrem Herzen derart überrumpeln läßt. Man merkt wenigstens, daß sie eines hat.“
Als sie ins Adlon eintraten, kam der Portier, der Syamken kannte, schon auf sie zu und überreichte ihm einen Zettel mit der Aufforderung, die angegebene Nummer sofort anzurufen.
„Das muß Niels sein“, sagte Will erstaunt. Setz Dich solange hier in die Halle und entschuldige mich einen Augenblick.“
Es war tatsächlich Niels.
„Will, es ist mir sehr unangenehm wegen Andry, aber ich kann hier nicht weg. Ministerialdirigent Brandenburg ist gerade erst gekommen und sagte mir im Vorbeigehen, daß er mich später sprechen möchte. Du weißt, daß alle Fäden der Verkehrsfliegerei in seinen Händen zusammenlaufen, er ist sehr einflußreich, und ich kann ihn nicht brüskieren.“
„Ich verstehe und werde es Andrea aus- richten.“
„Grüße sie und sage ihr, daß es mir furchtbar leid tut —.“
„In Ordnung, alter Winnetou.“
Als Syamken seine Bestellung ausgerichtet hatte, stand Andrea sofort auf.
„Ich bin beinahe froh darüber. Nach der Oper wäre ich sowieso am liebsten nach Hause gegangen.“
„Aber Du brauchst noch etwas Aufheiterung vor dem Schlafengehen“, protestierte Syamken.
„Sei mir nicht böse, Will, aber das Auf- heiterndste für mich wäre im Augenblick mein Bett und die Möglichkeit zu schlafen.“
Während sie auf den Bus warteten, beobachtete Syamken Andrea. Kein Zweifel, e* war etwas nicht in Ordnung mit ihr.
„Du nimmst es Niels doch nicht übel?" fragte er begütigend.
„Keine Spur.“
„Aber Du hast doch etwas, Andrea! Den ganzen Abend hast Du kein einziges Mal richtig gelacht.“
„Vielleicht habe ich keinen Grund dazu.“
„Du erschreckst mich. Ist da etwas — zwischen Niels und Dir?“ fragte er vorsichtig. Der Bus kam und enthob sie der Notwendigkeit zu antworten, aber vor ihrer Haustür« kam Syamken noch einmal auf seine Frag« zurück.
„Du hast mir vorhin nicht geantwortet: Ist etwas zwischen Niels und Dir?“
Andrea steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn um. (Forts, folgt)