NUMMER 101

IONTAG, 2. JULI 1951

Sozialisten formieren sich neu

Wiedereinrichtung der Sozialistischen Internationale

FRANKFURT. Der übers Wochenende in Frankfurt tagende achte Internationale Sozia­listenkongreß hat am Samstag die im Jahre 1864 in London gegründete Sozialistische Inter­nationale neu gebildet. Es waren Delegierte' aus 20 Ländern der westlichen Welt und Be­obachter der saarländischen Sozialisten und zwölf meist osteuropäischer Exilparteien ver­treten.

In einem einstimmig angenommenen Statut heißt es, daß die Sozialistische Internationale eine Vereinigung von Parteien ist, die für die Verwirklichung des demokratischen Sozialis­mus kämpfen. Ziel der Sozialistischen Inter­nationale ist, die Beziehungen der ihr ange­schlossenen Parteien untereinander zu ver­stärken und durch freie Übereinkommen weit­möglichst ihre politischen Auffassungen und Aktionen zu koordinieren. Die Erhaltung des Friedens wird besonders hervorgehoben.

Heute wird der Kongreß der Sozialistischen Internationale über die sozialistische Prin­zipienerklärung Beschluß fassen. In dieser pro­grammatischen Prinzipienerklärung wird so­wohl dem Kapitalismus als auch dem Kommunismus der Kampf angesagt. Es wird besonders darauf hingewiesen, daß sich die Kommunisten zu Unrecht auf sozialistische Tradition berufen, die sie in Wirklichkeit bis

Dresden wird Zentrale

Pieck lehnt Amnestie ab

BERLIN. Sämtliche Sicherheitsorgane der Ostzone der Staatssicherheitsdienst, die Volkspolizei, die staatliche Kontrollkommis­sion, sowie die Sicherheitsorgane der östlichen Besatzungsmacht sollen nach Verlautbarun­gen aus sowjetzonalen Regierungskreisen in Kürze ihren Hauptsitz nach Dresden, verlegen, wodurch einestärkere Konzentration und Ver­besserung der Aktionsfähigkeit dieser Organe erreicht werden soll. Auch die Parteikontroll­kommission der SED wird nach Dresden um­ziehen. Der bisherige Sitz aller dieser Institu­tionen war Ostberlin. Von maßgebender Seite wurde behauptet, die unmittelbare Nähe West­berlins habe die Schlagkraft von Aktionen der Volkspolizei und des Staatssicherheitsdienstes gefährdet. In vielen Fällen sei es dem Westen gelungen, Einblick in die Planung der Aktionen zu erlangen und diese in ihrer Wirksamkeit zu beeinträchtigen. Die Sitzverlegung erfolge auf ausdrücklichen Wunsch der russischen Behör­den.

Der Staatspräsident der Sowjetzone, Pieck, hat die Bitte des Evangelischen Bischofs von Berlin-Brandenburg, D. Dibelius, um Am­nestie für chronisch erkrankte Häftlinge der Ostzone abgelehnt mit der Begründung, es sei nicht angängig,Menschen, die sich eines Ver­brechens schuldig machten und dafür bestraft wurden, vom Strafvollzug zu befreien.

Anträge an den Landtag

BEBENHAUSEN. Der Deutsche Gewerkschafts­bund, Bezirksstelle Württemberg-Hohenzollern, hat zusammen mit der SPD-Fraktion an den Landtag den Antrag gestellt, die Regierung zu ersuchen,bei der Bundesregierung dahin zu wir­ken, daß die von ihr beschlossenen Preiserhöhun­gen, insbesondere von Milch, Butter, Brot, mit sofortiger Wirkung aufgehoben werden und die Abteilung Preisaufsicht des Wirtschaftsministe­riums des Landes anzuweisen,mit allem Nach­druck jede Möglichkeit zu benützen, um ein wei­teres Ansteigen der Lebenshaltungskosten durch eine scharfe Überprüfung der Gestehungskosten für Nahrungsmittel und die wichtigsten Ver­brauchsgüter des täglichen Bedarfs zu verhin­dern. In einem weiteren Antrag setzten sich die Genannten für die Erhöhung der Krankenver­sicherungsgrenze von 355 auf 600 DM pro Monat ein. Außerdem sollte die Einkommensgrenze für die Inanspruchnahme von Arbeitszeitkarten bei öffentlichen Verkehrsmitteln allgemein auf 500 DM monatlich erhöht werden.

zur Unkenntlichkeit verzerrten. Es gebe keinen Sozialismus ohne Freiheit. Der Sozialismus könne nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie nur durch den Sozialismus voll­endet werden. In der Prinzipienerklärung wird für eine sozialistische Planung plädiert, die nicht die Kollektivisierung aller Produktions­mittel erfordere und die vereinbar sei mit der Existenz des Privateigentums beispielsweise in der Landwirtschaft, im Kleinhandel, im Hand­werk und in der Klein- und Mittelindustrie. Außerdem wird in dem abschließenden Artikel Internationale Demokratie die Überwindung

des Systemsuneingeschränkter nationaler Souveränität gefordert

In einer Großkundgebung in der Frankfurter Festhalle trat die Sozialistische Internationale am Sonntag erstmals vor über 10 000 Zuhörern an die Öffentlichkeit. Führende Sozialisten aus elf Nationen sprachen über die Ziele und Er­folge des Sozialismus in der Welt. Der Vor­sitzende der westdeutschen Sozialdemokratie, Dr. Schumacher, erklärte, die Sozialistische Internationale seifrei in ihren Entschlüssen. Wir kennen weder ein Politbüro noch ein hei­liges Offizium. Dr. Schumacher verwahrte sich dagegen, daß der kapitalistische Liberalismus mit der Sache der Freiheit gleichgesetzt werde. Die schärfste Waffe im Kampf gegen den sowje­tischen Kommunismus seien soziale Tatsachen und nicht antibolschewistiche Deklamationen.

Europäische Papierkalamität

PARIS. Zeitungsverleger aus der Bundesre­publik, Österreich, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Italien und den Niederlanden erör­terten bei einer Zusammenkunft in Paris die Papierversorgungslage ihrer Länder und forder­ten in drei Entschließungen eine gerechtere Ver­teilung des Aufkommens an Zeitungspapier. In einer Resolution an die UNESCO stellten die Verleger fest, daß die Papierknappheit eine ausreichende Unterrichtung des Publikums ge­fährde und zugleich ihr finanzielles Gleichge-

Vier Millionen Opfer der Austreibung

Bundeskongreß der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften

FRANKFURT. Der Bundekongreß derVer­einigten Ostdeutschen Landsmannschaften legte am Sonntag in der Frankfurter Pauls­kirche ein Bekenntnis zu Europa und zur alten Heimat im Osten ab.

Vizekanzler Blücher erklärte in einer An­sprache, ohne die Wiedervereinigung Deutsch­lands seien Frieden und Freiheit in der Welt nicht denkbar. Die Freiheit des Gewissens und des Rechts können nicht gerettet werden, wenn der heutige Zustand der deutschen Zerrissen­heit erhalten bleibe. Ein vereinigtes Deutsch­land müsse wieder erstehen, damit die große europäische Gemeinschaft werden könne.

Die Heimatvertriebenen hätten durch den Verzicht auf Rache und Vergeltung und durch das Bekenntnis, für Europa arbeiten zu wol­len, ein Stück moralische Wiedergutmachung geleistet. Das deutsche Volk, dem alle macht­politischen Vorstellungen fern lägen, könne jedoch nicht darauf verzichten, an der endgül­

tigen friedlichen Gestaltung dessen, was ein­mal im Osten und Südosten Europas werden solle, mitzuarbeiten. Die deutsche Bevölkerung könne keinen deutschen Staatsmann vertra­gen, der nicht den Gedanken der Wiederver­einigung Deutschlands als höchstes Zielin sich trage.

Für die Landsmannschaft Ostpreußen sprach Staatssekretär Dr. Schreiber vom Bundes- vertriebenenministerium, für die Sudetendeut­schen Dr. L o d g m a n, für die Deutschbalten d e V r i e s. An der Feier nahmen außer Vize­kanzler Blücher die Bundesminister L u kä­se h e k und Kaiser, der Vorsitzende des Zentralverbands vertriebener Deutscher, K a- t h e r , der BHE-Vorsitzende Kraft, Vertre­ter des amerikanischen Hohen Kommissariats und der diplomatischen Missionen sowie der Länderregierungen und der Konfessionen teil.

Der Feier ging eine Ehrung der vier Mil­lionen Toten voraus, die der Austreibung aus dem Osten zum Opfer fielen.

ZEITUNGSPAPIER-VERBRAUCH

1 Kopf 1950 in Kg

Kanada | England ) Deutsch -

Schweden * Schweiz fand

Kleine Weltchronik

STUTTGART. Der in Tübingen wohnhafte Stuttgarter Korrespondent des kommunistischen Berliner Rundfunks, Walter Schulte, hat seinen Austritt aus der Kommunistischen Partei er­klärt. Schulte teilte einem dpa-Vertreter mit, daß er aus Gewissensgründen nicht länger einer Partei angehören könne, die den Menschen seiner inneren Freiheit beraube und ihn zum Mittel für die Verwirklichung der kommunistischen Weltrevolution degradiere.

FRANKFURT. Die Eisenbahner im Bundes­gebiet sollen nach einer Einigung zwischen der Hauptverwaltung der Bundesbahn und der Ge­werkschaft der Eisenbahner höhere Löhne und Teuerungszulagen erhalten. Ab 1. Juli ist vor­gesehen, die Stundenlöhne um 1014 Pfennig hinaufzusetzen.

HAMM. Der seit Ende Mai auf der Schacht­anlage Heinrich Robert wütende Grubenbrand, der 17 Bergleute das Leben kostete, konnte bis­her noch immer nicht gelöscht werden.

HANNOVER. Auf der Bundesgartenschau in Hannover wurde der 50 000. Besucher, ein jun­ges Mädchen aus der Nähe von Hildesheim, mit einem Radioapparat beschenkt.

KIEL. Für die Beibehaltung der bisherigen Regierungskoalition zwischen dem deutschen Wahlblock (CDU, FDP, DP) und dem BHE in Schleswig-Holstein sprach sich der neue Mini­sterpräsident Friedrich Lübke (CDU) nach sei­ner Rückkehr von Verhandlungen mit Vertre­tern der Bundesregierung aus.

BERLIN. Die Arbeitsminister der Bundeslän­der traten auf einer Tagung in Berlin dafür

Jubiläum des Beginns der Christianisierung Eu­ropas teilzunehmen.

BERLIN. Versorgungsminister Karl Hamann und Finanzminister Hans Loch wurden am Sonn­tag auf dem vierten Parteitag der Ostzonen-LPD zu Parteivorsitzencen gewählt.

OSLO. Der Oberbefehlshaber der norwegi­schen Kriegsmarine, Vizeadmiral Danielsen, und sein Stabschef Hovdenak, sind von der nor­wegischen Regierung ihrer Posten enthoben worden, nachdem sie ihren Rücktritt mit der Begründung angekündigt hatten, der von der norwegischen Regierung bewilligte Marinehaus­halt sei. unzulänglich

GENF. Der Hauptausschuß der Internationa­len Arbeitsorganisation (ILO) hat am Samstag den ehemaligen französischen Ministerpräsiden­ten Ramadier zum neuen Vorsitzenden gewählt. Auf der Schlußsitzung der Tagung, die unter anderem die Wiederaufnahme Deutschlands und Japans brachte, wurde die Annahme einer Kon­vention über die tarifliche Gleichstellung von weiblichen und männlichen Arbeitskräften bei gleicher Arbeitsleistung beschlossen.

ROM. Der Vatikan hat alle Personen die an der Verhaftung, dem Gerichtsverfahren und der Verurteilung des ungarischen Erzbischofs Groesz beteiligt waren, exkommuniziert.

ROM. Die italienische Regierung hat der bri­tischen Regierung die Villa Wolkonspy in Rom und die Villa Crispi in Neapel und der franzö- schen Regierung die Villa Bonaparte in Rom übereignet; alle drei Grundstücke sind früheres deutsches Staatseigentum. Vom italienischen Au-

ein, schnellstens eine Bundesanstalt für Arbeits- ßenministerium wurde nachdrücklich festgestellt, i--j --- daß hiermit lediglich die Bedingungen des Frie­

densvertrags erfüllt würden.

WASHINGTON. Der deutsche Geschäftsträger in Washington, Krekeler, eröffnete nunmehr seine Amtsräume in Washington in zwei Hotel­zimmern. Sein Beglaubigungsschreiben wird er voraussichtlich in dieser Woche überreichen.

losenvermittlung und Arbeitslosenversicherung zu errichten.

BERLIN. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und Bischof von Berlin-Brandenburg, D. Otto Dibeslius, be­findet sich seit einigen Tagen in Griechenland, um dort an den Feierlichkeiten zum 1900jährigen

wicht und damit ihre Unabhängigkeit bedrohe. Vieles könnte in der Versorgung der westeuro­päischen Presse gebessert werden, wenn die OEEC beschließen würde, daß ein größerer Teil der europäischen Zeitungspapierproduktion in Europa selbst verbraucht werden müsse.

Unser Schaubild zeigt am Verbrauch je Kopf der Bevölkerung im Jahre 1950, wie sehr gerade in der Bundesrepublik die Versorgung im ar­gen liegt. Die Ziffern, die diesem Schaubild zu­grunde liegen, stammen aus höchst offizieller Quelle: nämlich aus einer Statistik der UNESCO. Man vergleiche nur den Verbrauch je Kopf und Jahr in den USA mit 35,7 kg und den in der Bundesrepublik mit nur 4,7 kg, um die ganze Bedeutung des Mißverhältnissees zu erkennen.

Neue EZU-Quote 510 Millionen Dollar?

BONN. Mit einer Erhöhung der deutschen Kre­ditquote in der Europäischen Zahlungsunion (EZU) im Jahr 1951/52, das am 1. Juli 1951 be­gonnen hat, wird in unterrichteten Kreisen nun­mehr fest gerechnet. Voraussichtlich wird die neue Quote auf 510 Millionen Dollar festgesetzt werden gegenüber 320 Millionen Dollar im auslaufenden EZU-Jahr.

Im Mai höchster EZU-Handelsüberschuß

FRANKFURT. Die Bundesrepublik hat bei ih­rer Maiabrechnung gegenüber der Europäischen Zahlungsunion mit 81,2 Millionen Dollar den weitaus höchsten Nettoüberschuß aller Teilneh­merländer erreichen können, geht aus dem Mo­natsbericht der Bank deutscher Länder hervor.

Steuer auf Produzenten-Direktverkauf

BONN. Das Bundeskabinett verabschiedete eine Verordnung, nach der Erzeugerbetriebe, die die von ihnen produzierten Waren selbst im Einzel­handel vertreiben, eine zusätzliche Umsatzsteuer von 3 Prozent des Kleinverkaufspreises zu ent­richten haben. Die Verordnung tritt zusammen mit dem neuen Umsatzsteuergesetz am 1. Juli in Kraft.

Die neue Saison der Radiowirtschaft

BONN. In diesem Jahr findet, wie der Fach­verband der deutschen Rundfunkindustrie mit­teilt, aus wirtschaftlichen Gründen keine Rund­funkausstellung statt. Die deutsche Radiowirt­schaft hat in diesem Jahr bereits den 1. Juli als Beginn des neuen Rundfunkjahres festgelegt, um die starke Zusammenballung des Apparatever­kaufs in den Monaten vor Weihnachten aufzu- loekem. Industrie und Handel erwarten auch für die Saison 1951/52 ein starkes Kaufinteressej die neuen Geräte sind ab sofort bei den Radio- händlem zu sehen.

- Der oersdilossene MUND

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Roman von Doris Licke

Alle Redite Verlngeknut Reutlingen

Als sie gleich darauf in einem letzten Kraft­aufwand hinter ihre Türe flüchtete, fiel sie halb ohnmächtig vor Erregung auf ihr Bett. Eine nie gekannte entsetzliche Angst vor sich selber erfüllte sie plötzlich. Sie hatte bisher mit einer törichten Sicherheit geglaubt, daß es keine Versuchung für sie gäbe, daß sie ihrer selbst ganz sicher sei. Jetzt hatte sie zum er­stenmal gespürt, was es heißt, wenn Wille und Sinne getrennte Wege gehen. Sie hatte doch den aufrichtigen Willen, Niels treu zu sein, und konnte es doch nicht hindern, daß sie den leidenschaftlichen Kuß dieses fremden Mannes wie eine fast unwiderstehliche Lok- kung empfand. Wie viele Jahre war es her, daß Niels sie so in den Armen gehalten?

Mit zitternden Händen kleidete Andrea sich aus. Sie fühlte sich erniedrigt vor sich selber, um ihr gutes Zutrauen in die eigene sittliche Kraft betrogen und schaute, als sie ihr Haar bürstete, mit Abscheu im Spiegel in ihr blas­ses, zuckendes Gesicht mit den brennenden Augen und dem blutrot geküßten Mund.

*

Am darauffolgenden Morgen, früh um sie­ben Uhr, wurde Niels Merck von seinen Ber­liner Wirtsleuten ans Telephon gerufen. Mit Staunen vernahm er Andrys Stimme am Ap­parat.

So früh schon auf? Ist etwas passiert? fragte er erschrocken.N nein, ich wollte Dich nur noch erreichen, bevor Du aus dem Hause gehst. Sag, Niels, ist es noch immer nicht so weit, daß ich kommen könnte?

Jetzt? Aber es war doch immer von der dritten Woche die Rede.Ja, aber das Kin­derheim kann Detlev nur aufnehmen, wenn ich noch diese Woche fahre, log Andrea ent­

schlossen.Geht es denn nicht? Für Dich ist es doch einerlei, ob ich jetzt oder später komme.

Natürlich, Andry.

Wo wirst Du mich einquartieren?

In meiner Nähe, nur ein paar Straßen weit. Dort bekomme ich für Dich ein Zimmer, es ist schon abgemacht.

Ist das Zimmer jederzeit verfügbar?

Ich hoffe, an sich hatte ich Dich für später angemeldet.

Weißt Du, Niels, ich möchte am liebsten schon heute kommen. Bitte, mache das mög­lich!

Aber Kerlchen, was hast Du bloß? Ist et­was nicht in Ordnung?

Sie umging die direkte Antwort, was ihn sofort beunruhigte.

Niels, ich bitte Dich, laß mich heute kom­men und sei lieb zu mir.

Ja aber eben fällt mir ein, daß heute ja ein Abend mit den Herren der Verkehrs­fliegerschule und ein paar Piloten der Luft­hansa steigt. Da kann ich wirklich nicht im letzten Moment absagen.

.Das macht nichts, geh nur hin, Niels! Weißt Du was, Andry? Will ist geschäft­lich in Berlin, der soll mit Dir in irgendein Theater gehen, da bist Du gut untergebracht. Ich mache mich zeitig frei und treffe Euch an­schließend.

Fein. Freust Du Dich eigentlich gar kein bißchen, daß ich komme, Niels?

Nein, es ist mir ausgesprochen unange­nehm, sagte Merck lachend,Du kleines Schaf.

Also um vier Uhr zwanzig am Anhalter Bahnhof.

Auf Wiedersehen, Andry! Küßchen an Detlev.

Nachdenklich hängte sie ein. Nun waren die Würfel gefallen, sie hatte die Zügel wie­der in die Hand genommen. Gewiß war diese Flucht und um eine solche handelte es sich nicht sehr mutig, wenn man es richtig bedachte eher ein Eingeständnis ihrer Schwäche, ihres mangelnden Vertrauens in sich selbst.

Aber gleichviel, mochte Tillmann denken, was er wollte, die Hauptsache war, daß sie aus seiner Nähe entkam, bis sie im Zusammen­sein mit Niels die alte Kraft und Festigkeit wiedergefunden hatte. Sie füllte die Zeit, bis sie mit Detlev zum Kinderheim gehen konnte, damit aus, an Tillmann zu schreiben. Lange saß sie unschlüssig vor dem leeren Bogen. Schon die Anrede bereitete ihr Schwierig­keiten, schließlich unterließ sie sie ganz.

Schreiben ist die Methode der Feigen, dachte sie in bitterer Selbstverspottung.Wäre ich noch die gleiche, die ich gestern um diese Zeit war, so würde ich ruhig und sicher mit ihm sprechen, aber das kann ich jetzt nicht mehr. Dieser unselige Kuß steht zwischen uns, Tillmann hat für mich aufgehört, irgend­ein Mann zu sein. Schon, daß ich ihm wegen seiner Überrumpelung nicht böse sein kann, ist schlimm, aber weiß ich denn bei dem Zu­stand, in dem ich mich gestern befand, ob ich ihn nicht unbewußt herausgefordert habe? Ich will nicht auf seine Kosten ungerecht sein. Jedenfalls gibt es für mich nach dieser uner­warteten Erfahrung nur einen Weg: zu Niels, und Gott möge mir beistehen, daß ich ihn so finde, wie ich ihn finden muß.

Das Briefchen an Tillmann hatte schließlich folgenden Wortlaut:Ich fahre heute dort­hin, wohin ich gehöre: zu meinem Mann. War­ten Sie nicht auf eine Rückkehr, ich appel­liere an Ihre Ritterlichkeit und bitte Sie, un­sere gestrige Verirrung zu vergessen. Wir dürfen uns nie wieder begegnen.

Andrea Merck.

Nach diesen Zeilen fühlte sie sich etwas er­leichtert und, vor sich selbst gerechtfertigt. Straucheln konnte jeder Mensch, die Haupt­sache war, daß er dann entschlossen auf den richtigen Weg zurückkehrte, und genau das war es, was sie tun wollte.

Um Tillmann, den sie allerdings noch nie vor dem Mittagessen getroffen hatte, sicher zu entgehen, ließ sie das Frühstück auf dem Zimmer servieren. Detlev, der schon zweimal mit ihr im Kinderheim gewesen war, nahm

die plötzliche Eröffnung, daß er jetzt für ein paar Tage dorthin käme, nicht tragisch. Er war an zeitweilige Trennung von seiner Mut­ter gewöhnt, und das Zusammensein mit so vielen anderen Kindern in einem großen Gar­ten, wo es Schaukeln, Wippen und alle mög­lichen Fahrzeuge gab, schien ihm ganz ver­lockend. Andrea wunderte sich oft darüber, wie stark in dem Kinde, das ganz ihr fröh­liches, lebhaftes Temperament besaß, doch auch Niels kühle Vernunft entwickelt war.

Obwohl sie Tillmann für einen Langschlä­fer hielt, sah sie sich ängstlich nach' allen Seiten um, als sie mit dem Jungen auf den Strandweg hinaustrat. Beim Postamt warf sie den Brief in den Kasten, Tillmann würde ihn mittags neben seinem Teller finden. Sie ge­langte unangefochten ins Dorf.

Im Kinderheim gab es eine unvorherge­sehene Schwierigkeit. Man hatte Detlev erst für später erwartet und nur für vier Tage ein Bettchen frei. Diese Tatsache beschränkte zeitlich Andreas Berliner Ausflug kategorisch. Daß sie dieses kleine Hindernis ganz aus der Fassung brachte, machte ihr erst bewußt, in welchem Zustand sich ihre Nerven befanden. Sie versprach, Detlevs kleinen Koffer noch am Vormittag schicken zu lassen, und verab­schiedete sidh last zerstreut von ihrem Kinde, als hätte sie hier nur eine notwendige Pflicht erledigt. Seit ihrem überraschenden Erlebnis war sie ganz im Bann eigener Gefühle. Sie spürte sich weniger als sonst im Zusammen­hang mit den Menschen, die sie liebte, und stärker als Einzelwesen mit eigenen Wün­schen, eigener Sehnsucht und höchst eigenen Kämpfen.

Die Notwendigkeit zu größter Eile erwies sich bald als wohltätig. Während sie ihren Koffer packte, mußte sie sich auf ihr Tun konzentrieren und hatte keine Zeit, die Ge­danken abschweifen zu lassen. Erst nachher auf dem Schiff, das sie mit knapper Not er­reichte, fielen sie wieder über sie her, und schmerzliche Traurigkeit nahm von ihr Be­sitz, (Fortsetzung folgt)