SAMSTAG, 3 0. JUNI1951

NUMMER 100

Da nemlich ist Ulrich gegangen

Eine kleine Gesellschaft es war ein berühm­ter Hölderlinforscher dabei nützte einen der gegenwärtigen Sommertage, die unentschieden offen sind oder bleiern lasten, um sich Stätten und landschaftliche Merkwürdigkeiten anzu- schauen, die auf irgendeine Weise Erinnerungen in Friedrich Hölderlin wachrufen, als dieser ein­mal auf dem Boden der Heimat wandelte.

Die Reisenden fuhren in einem geräumigen Wagen auf den Spuren des Segensstromes Würt­tembergs, in dessen tiefe Furch«* von allüberall \er die geschäftigen Bäche eilen, der hie und da noch, wo er sich zu breiteren Auen weitert, von Pappeln und Weiden umsäumt ist' und dessen Silberwelle bläulich glänzt, wie sie der Dichter gesehen hat. Dadurch, daß die Reisenden von dem Genius erfüllt waren, den sie verehrten, ging das Wort des Dichters mit an alle Orte und die Orte waren im Wort. Trotz mannigfachen Wandels war noch alles so, wie es gewesen, als es ins Wort gestiftet wurde. Das herrliche Riesengebirge der Albtrauf begleitete den Strom und os- sianische Einsamkeit lagerte in den Tälchen, die sich ins Gebirge öffneten. Vom sanften Dahin­gleiten des Wagens aus erlebten sie daswoogende Gebirg, wie als ob da im Gedicht eine Ahnung geoffenbart sei, daß die schäumenden Felsen­kränze erstarrte Meereswogen sind.Es ist so vieles im dichterischen Satz, was sich erst er­schließt, wenn sich ein anderes verschlossen hat, meinte jemand und fand die Zustimmung des Gelehrten.

Als der junge Hölderlin von Tübingen nach Nürtingen wanderte, sah er den Neckar und die Alb anders als die Reisenden, nämlich von den Höhen des Einsiedels, von Walddorf und Schlait­dorf aus. Er durchschritt lichte Eichenhaine, wo heute ein künstlich gepflanzter Mischwald wächst, und die Buchen rauschten noch nicht in dieser Fülle den Albanstieg hinauf ein Grund, warum die Buche bei Hölderlin selten vorkommt und die Eichen ihm zu heldischen Freiheitssymbolen werden und die Landschaft in ihrer feierlichen Belebtheit durch den Fleiß der Menschen wurde ihm zur Rune einer langen Geschichte.

Doch da taucht Nürtingen, die kleine Landstadt der Knabenzeit auf. Der an dem Wehr gestaute Fluß bildet eine glitzernde Fläche.Im Abend­

schimmer stand der Strom zitierte der Gelehrte und das Bild in seiner' lyrischen Einfachheit rief das Gewesene in die Gegenwart vor. Trotz der Stim­mung am Spätmorgen empfanden die Reisenden den Sieg des Beständigen ein hohes Merkmal der hölderünischen Lyrik über allen Wechsel der Tages- und Jahreszeiten. Der Wagen rollte langsam über die neue Brücke dem mächtig ragenden Turm der Pfarrkirche und seiner Um­gebung zu, fuhr eine holprig schmale Gasse am östlichen Rande des Schloßbergs hinauf und machte halt an der Handelsschule, einem klassi­zistischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Eine Bronzetafel an ihm teilt mit, daß hier bis 1796 der sogen. Schweizerhof, das Wohngebäude der Mutter Hölderlins als Witwe Gock, gestanden ist. Sehr sinnvoll ist freilich eine solche Erinnerungs­tafel nicht, da kein Stein mehr vom alten Ge­bäude vorhanden ist. Besser hätten die Nürtinger daran getan, die noch im alten Zustand stehende Lateinschule am westlichen Teil des Schloßber­ges mit einer Tafel zu versehen, denn in ihr wurde der Knabe bis zu seinem Übertritt in die Klosterschule zu Denkendorf unterrichtet. Sie galt als eine der besten im Lande und viel Rühmens war um sie, weil in ihr auch Schelling, der neben Hegel führende philosophische Kopf in der deutschen Philosophie der klassischen Zeit, ein paar Jahre geweilt hatte.

Wir bestiegen den Kirchturm und schauten gen Süden auf das wellige Vorland der Alib, uns an den ersten hexametrischen Versuch Hölderlins in seinem GedichtDie Tek erinnernd, und blickten voll Neugier in das Tiefenbachtälchen, wohin der Knabe, laut Stellen aus seinen Briefen, gar manchesmal vor dem Lärm seiner Kame­raden ausweichend geflüchtet war.

Wenig besucht und gekannt nur Albvereins- freunde Anden gelegentlich dorthin steht in­mitten eines bodenständigen Mischwaldes von Hagbuchen und Eichen steil über dem Tale der Aich der von der Legende umsponnene Ulrich­stein, das sind mächtige, einen Winkel (Höhle) bildende Rätsandsteinblöcke, die sich infolge der Rutschbewegungen des anstehenden Knollen­mengels vom Hangenden gelöst und verklemmt hatten. Mit dem Halbbruder Karl zusammen wanderte der Klosterschüler einmal an einem tauigen Maimorgen zu dieser verwunschenen

Stätte und las ihm bei einem Kruge Obstwein KlopstocksHermanns Schlacht vor. Die Szene blieb ihm darum bemerkenswert, weil ihn der Teutoburger Wald, den er Jahre später als Hof­meister in Begleitung der Diotima kennengelernt hatte, an die Vorlesung erinnerte, und große Männer zu singen an schicksalkundige« Orten damals ein Hauptanliegen seiner Dichtung war. Diese Verknüpfung haftete lange in ihm, jajvurde wieder erneut lebendig, als er, bereits von den ersten Schüben einer Gemütskrankheit angefal­len, von Bordeaux zurückgekehrt, sich längere Zeit wieder in Nürtingen bei der Mutter aufhielt. Da schrieb er in loser Form ein Gedicht aufDer Winkel von Habrdt. Wenn Hermann eine Schlacht gewann, so hat Herzog Ulrich die seine verloren. Zwischen Steigen und Fallen, so er­läuterte den Reisenden der Gelehrte das Gedicht, vollzog sich Hölderlins Geschick und das der Männer, die er sang. Schief und gebeugt, als wollten sie in den Bachgrund stürzen, hängen die Bäume des Waldes um den Ulrichstein und eben die Bewegung dem Abgrund zu macht auch die erste Verszeile:Hinunter sinket der Wald . . . Die Natur selbst vollzieht einen Teil des Ge­schicks, das der seines Landes verlustig ge­gangene Herzog erlitt, das der Dichter am Abend seines Schaffens in sich fühlte, bevor die Däm­merung ihn umhüllte.Da nemlich ist Ulrich / Gegangen; oft sinnt, über den Fußtritt, / Ein groß Schicksal / Bereit, an übrigem Orte. So also hat das wundersam innige Gedicht den Ort geweiht, bereitet, weil es ein Ort mit einem Schicksal ist, an dem Natur und Menschengeist sich in einer vollkommenen Übereinstimmung be­gegnen.

Die Reisenden verließen, vom Hauch eines mächtig über ihnen Waltenden berührt, still die Stille. Nichts, was auf der Fahrt über Denken­dorf nach Maulbronn noch erinnert werden konnte, war mit dem Ereignis des Ulrichsteins zu vergleichen. Ähnliches, Geschichte, eigenes Ge­schick und landschaftlichen Ort verknüpfend, steht nur noch ln der ElegieStutgard, wo über die Geburtsstadt Lauffen a. N., die die Reisenden als letzte Station aufsuchten, päanische Zeilen geprägt wurden, die eigentlich in den württem- bergischen Schulen auswendig gelernt werden müßten.

Am Dienstag nach dem Palmtag 1788 im Ocnse.-i zu Schwieberdingen haben sich der Klosterschüler, von Maulbronn mit demUnterboigner Wagen kommend, und die Mutier getroffen, um die ersten Tage der Vakanz bei der Oberamtmännin Vol- mar, der Tante Hölderlins, zu verbringen. Die Reisenden haben darum beschlossen, im Ochsen das Mittagessen zu nehmen. Als jemand der guten schwäbischen Wirtin den Grund erklärte, warum die Gesellschaft gerade im Ochsen eingekehrt sei, da tat diese, schlau wie die Schwäbinnen sind, als habe sie längst gewußt, was für einem berühmten Gasthaus sie vorstehe.

Karl Haldenwang

Kulttirpllp Nnrhrichtpn

Einem Pirmasenser Heimatforscher ist es nach jahrelangen Vorarbeiten jetzt gelungen, in der Gemarkung von Burgalben auf Grund eindeuti­ger Werkzeugfunde zum erstenmal eine Urzeit­siedlung aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. auf pfälzischem Boden nachzuweisen.

Die Kultusminister der Bundesländer wollen alles ln ihren Kräften Stehende tun, um den Forschungsrat und dieNotgemeinschaft dei deutschen .Wissenschaft zu einer Organisation Deutsche Forschungsgemein­

schaft zu verschmelzen. Dies wurde nach einer am Samstag in Würzburg abgeschlossenen Konferenz der Kultusminister bekanntgegeben.

Zur Erforschung und Publikation der Ideen des humanistischen Gelehrten und Priesters Ni­kolaus von Cues (Cusanus) wurde in Trier eine Gesellschaft für Cusanus-Forschung gegründet. Dem Gründerkreis gehören Vertreter des In- ünd Auslandes an.

Durch Erlaß des österreichischen Kultusmini­sters Dr. Hurdes wurde die Erlernung der deut­schen Schreibschrift an den Schulen neu geregelt. Danach soll auf der fünften Volksschulstufe und in der ersten Klasse der Haupt- und Mittelschu­len auch das Schreiben der deutschen Schreib­schrift gelehrt werden, nachdem bisher schon das Lesen dieser Schrift in allen Schulen und auf allen Schulstufen geübt wurde. Durch die Verfü­gung soll die Kenntnis der in den breitesten Volksschichten heute noch üblichen deutschen Schrift auch der Jugend vermittelt werden.

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