NUMMER 97
MONTAG, 3 5. JUNI 1951
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SPD und DVP und württ. CDU
Südweststaatler rechnen mit heftigem Wahlkampf
KARLSRUHE. Der Hauptausschuß für die Vereinigung Baden und Württemberg trat am Samstag in Karlsruhe zu einer Tagung zusammen. Der Ausschuß bekannte sich erneut zu den Karlsruher Beschlüssen vom 24. August 1948 über die Bildung eines Südweststaates. Zum Vorsitzenden des Hauptausschusses wurde der Bundestagsabgeordnete Richard Freudenberg, zu seinen Stellvertretern der ehemalige württembergisch-badische Finanzminister Dr. Edmund Kaufmann und der Landtagsabgeordnete Alex Möller gewählt.
Auf der Tagung wurden Organisations- und Propagandafragen besprochen, die den Abstimmungskampf für die Volksabstimmung über die Neuordnung Südwestdeutschlands am 16. September 1951 betreffen. Man war sich darüber einig, daß die SPD und die DVP in allen drei südwestdeutschen Ländern, sowie die CDU im württembergisdien Gebiet ihre Parteimitglieder und Wähler — im Gegensatz zu der Propaganda für die informative Volksbefragung im Jahre 1950 — ausdrücklich zu einer Abstimmung für den Südweststaat auf- rufen wollen.
Im Verlauf der Besprechungen kam zum Ausdruck, daß insbesondere in überwiegend katholischen Gegenden mit einem heftigen Abstimmungskampf zu rechnen sei. Der Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft, Albert Maria Lehr, meinte jedoch, daß sich bei der Bevölkerung der drei Länder in den letzten Monaten eine wachsende Sympathie für den Südweststaat gezeigt habe.
Nach den Karlsruher Beschlüssen vom 24.
„Grundgesetz der Vertriebenen“
Feststcllungsgesetz beim Bundeskabinett
BONN.Bundesvertriebenenminister Luka- sc h e k teilte dieser Tage in Bonn mit, daß sein Ministerium den Entwurf des Vertriebenenge- setzes dem Kabinett zugeleitet habe. Das Gesetz, das Lukaschek das ..Grundgesetz der Vertriebenen“ nannte, definiere den Begriff des Vertriebenen und des Sowjetzonenflüchtlings, regele die Zulassung von Ärzten und Apothekern, die Anerkennung von Zeugnissen und Handwerksmeistertiteln, den Anspruch auf Investitionen sowie das Recht auf Steuervergünstigungen und Wohnungsbeschaffung.
Zum Feststellungsgesetz sagte Lukaschek, er habe sich immer dafür eingesetzt, daß die Schadensfeststellung dem Lastenausgleichsgesetz vorangehen müsse. Er habe keine Sorge, daß das Gesetz im Parlament abgelehnt werde. Das Feststellungsgesetz müsse die Grundsatzfragen lösen wie die. wer antragsberechtigt sei, auf welche Weise die Feststellung erfolgen müsse usw. Die Anerkennung dieses Gesetzes schließe die Zustimmung zum sozial-quotalen Lastenausgleich ein, einem Lastenausgleich also, der zugleich die Höhe des Verlustes berücksichtige und nach sozialen Gesichtspunkten erfolge.
Nationalchina bleibt
Die Erziehungszentren der UNESCO
PARIS. Die Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO) hat am Samstag mit 37 gegen 3 Stimmen bei fünf Enthaltungen die Mitgliedschaft Nationalchinas in der UNESCO erneuert.
Ägypten und Brasilien haben die UNESCO gebeten, je eines der geplanten Erziehungszentren in ihre Länder zu verlegen. In der allgemeinen Debatte sagte der ägyptische Delegierte die finanzielle Unterstützung seiner Regierung für den Aufbau eines solchen Zentrums in Ägypten zu.
Der Beitritt der Bundesrepublik zur UNESCO hat außer der politischen Bedeutung die praktische Folge, daß die deutschen Fachverbände von nun an vollberechtigte Mitglieder ln den wissenschaftlichen, technischen und kulturellen internationalen Organisationen werden können.
August 1948 soll das Staatsgebiet des künftigen Südweststaates sich in vier Landesbezirke gliedern, die in allen Zweigen der Staatsverwaltung, in der Behördenorganisation und in der Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung den Grundsatz weitgehender Dezentralisation anerkennen.
Vor der Tagung des Hauptausschusses der Vereinigung Württemberg-Baden trafen sich die Vorsitzenden der Landesverbände der DVP in Württemberg-Baden, Württemberg-Hohen- zollern und Südbaden in Karlsruhe, um sich ebenfalls mit Fragen der Organisation des Ab
stimmungskampfes für den Südweststaat zu befassen. Die Landesvorsitzenden betonten einmütig, daß nur durch die Schaffung lebensfähiger Bundesländer ein sinnvoller und gesunder Aufbau der Bundesrepublik in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht erreicht werden könne.
Der südbadische Staatspräsident Leo Wohieb, der Vorsitzende des Landesverbandes der Arbeitsgemeinschaft der Badener, Dr. Fr. Werber und der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, v. K u b e, werden am 1. Juli 1951 im Münchener Hofbräuhaus auf einer Großkundgebung der Altbadener zur Neuordnung in Südwestdeutschland Stellung nehmen. In dieser Veranstaltung ist die Einleitung des Abstimmungskampfes um den Südweststaat durch die altbadische Seite zu erblicken.
Eine Milliarde mehr Steuern
BONN. Das neue vom Bundesrat am Freitag endgültig gebilligte Einkommensteuergesetz, das am 1. Juli in Kraft treten soll, wird eine jährliche Mehrbelastung der Steuerpflichtigen von knapp 1 Milliarde DM bringen. In weitläufigen Bestimmungen, auf die wir in der nächsten Ausgabe näher eingehen, werden erhebliche Steuerbegünstigungen, die bisher zur Selbstfinanzierung für den schnelleren Aufbau gewährt worden waren, gestrichen. Auch auf dem Gebiete der Lohnsteuer sind Vergünstigungen, so etwa für Flüchtlinge, politisch Verfolgte und Spätheimkehrer, u. a. auch die bisherigen Vergünstigungen für Mehrarbeitslohnzuschläge, eingeengt worden.
Kritik an teueren Besatzungsbauten
STUTTGART. Auf der Jahrestagung de« Hauptverbandes des deutschen Malerhandwerk« in Stuttgart forderte Oberregierungsrat Dr. M a s s a r vom Bundesministerium für den Wohnungsbau, daß die Bauvorhaben der Besatzungsmacht von deutschen Stellen vergeben werden. Die Besatzungsmacht lasse es bei diesen Bauten an Sparsamkeit mangeln. „Wenn wir im sozialen Wohnungsbau mit einem durchschnittlichen Kostenvoranschlag von 12 000 DM je Wohnungseinheit auskommen müssen, ist nicht einzusehen, warum bei Besatzungsbauten 60 000 DM ausgegeben werden sollen“, sagte Dr. Massar.
Betriebsstillegungen in der Zigarettenindustrie?
HAMBURG. Nach der Auffassung des Verbandes der Zigarettenindustrie werden Betriebsstillegungen größeren Ausmaßes in cer Zigarettenindustrie nur mehr eine Frage weniger Wochen oder Monate sein, wenn der Bundesfinanzminister nicht schnellstens durch eine ausreichende Tabaksteuersenkung die Kalkulationsgrundlagen in dieser Industrie wiederhergestellt. Die Zigarettenfabrikanten seien infolge der ungewöhnlich großen Preissteigerungen vornehmlich bei Rohtabak und Kartonagen sowie durch die Lohnerhöhungen nicht mehr in der Lage, ohne Verlust zu arbeiten.
Erhard bespricht Kohlenfrage in USA
BONN. Zu den wichtigsten Fragen, die Bundeswirtschaftsminister Prof. Erhard bei seinem Besuch in den USA besprechen wird, gehören die Rohstoffversorgung der Bundesrepublik und die deutsche Kohlenknappheit, wie ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums mitteilte. Prof. Erhard wird von dem Rohstoffberater der Bundesregierung, Generaldirektor Friedrich, begleitet. Der Minister will mit den maßgeblichen amerikanischen Regierungsstellen, der ECA-Verwaltung und den an den deutsch-amerikanischen Wirtshaftsbeziehungen interessierten Kreisen in den USA sprehen.
Maiproduktion nochmals gestiegen
BONN. Die industrielle Produktion in der Bundesrepublik, die im April 1951 den bisherigen Höchststand vom November 1950 übershritt, ist auh im Mai nohmals gestiegen, und zwar um 1 Prozent gegenüber dem April. Die Gesamtindexziffer der Industrieproduktion erreichte nah Angabe des Statistischen Bundesamtes im Mai arbeitstäglich 134 (1936 = 100). In einzelnen Industriegruppen mähen sih jedoh zum ersten Male seit Beginn des Jahres im weiteren Umfange Produktionsrüdegänge bemerkbar.
Die Kurzarbeit nimmt zu
TÜBINGEN. Infolge von Absatzstockungen in der Textil- und Schuhindustrie hat die Kurzarbeit in Württemberg-Hohenzollem im vergangenen Monat um 10 Prozent zugenommen. End« April wurden in 112 Betrieben 5113 Kurzarbeiter gezählt, Ende Mai in 143 Betrieben 5635. Davon entfielen allein 51 Betriebe mit 2874 Kurzarbeitern auf die Shuhherstellung. — Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit war im Mal regional uneinheitlih. Die deutlichsten Rückgänge der Arbeitslosenziffern verzeihneten die weniger industrialisierten Arbeitsamtsbezirke wie Biberah, Nagold, Ravensburg und Lindau. Demgegenüber nahm die Arbeitslosigkeit vor allem in den mit Betrieben der Verbrauhsgüterindustrie stark durchsetzten Bezirken Balingen, Reutlingen, Rottweil, Sigmaringen und Tuttlingen erstmal« seit Mitte Januar dieses Jahres wieder zu. Insgesamt jedoh ging cie Zahl der Arbeitslosen im Mai in Württemberg-Hohenzollem um 309 zurück.
„Stärkere gewerkschaftliche Aktivität“
Das Programm des Bundesvorsitzenden Fette
ESSEN. Eine „stärkere politische Aktivität“ der Gewerkschaften und eine Einflußnahme auf die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung der Parlamente durch die gewerkschaftlich organisierten Abgeordneten, hat der neue DGB-Bundesvorsitzende, Christian Fette, am Samstag in seiner Schlußrede vor dem außerordentlichen Bundeskongreß des DGB in Essen angekündigt.
Er beschuldigte die Bundesregierung, durch die sogenannte soziale Marktwirtschaft in Wirklichkeit eine „gelenkte Untemehmerwirt- schaft“ zu betreiben. Er forderte eine stabile Preisgestaltung durch die Schaffung von zentralen Preisüberwachungsstellen, die „mit allen Vollmachten“ auszustatten seien, ein Mitbestimmungsrecht für die Arbeitnehmer von Großchemie, Bundesbahn und Bundespost, die paritätische Besetzung der Industrie- und Handelskammern und eine gewerkschaftliche Beteiligung an allen Gremien der Kulturpolitik, insbesondere des Schulwesens.
Fette sprach sich ferner für einen deutschen Verteidigungsbeitrag, die sofortige Anerkennung Berlins als zwölftes Land der Bundesrepublik und eine „Wiederherstellung der Reichseinheit in Freiheit“ aus. Remilitarisie-
Kleine Weltchronik
MÜNCHEN, In Bayern sollen nach einem am Freitag vom bayerischen Landtag verabschiedeten Gesetz sechs Spielkasinos errichtet werden: In Bad Reichenhall, Garmisch-Partenkirchen, Bad Wiessee, Bad Kissingen, Oberstdorf und Starnberg. Das Gesetz tritt am 1. Juli in Kraft.
MÜNCHEN. In einem gestern veröffentlichten Schreiben des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs (ADAC) an die Bundesregierung, den Bundesrat und die Regierungen der elf Bundesländer wird gegen die vom Bundesfinanzministerium geplante Einführung einer Autobahnsteuer energisch protestiert.
BAD REICHENHALL. Der bayerische Ministerpräsident und Bundesratspräsident, Hans Ehard, ist am Samstag auf der diesjährigen Landesversammlung der CSU in Bad Reichenhai] zum dritten Male zum Parteivorsitzenden gewählt worden.
FRANKFURT. Der vor einiger Zeit überraschend verschwundene Fotochemiker Dr. Wendt ist jetzt bei einer amerikanischen Firma in St. Loni (Missouri) angestellt. Das Verschwinden Dr. Wendts hat in Frankfurt großes Aufsehen erregt, da ein Fall von Industriespionage vermutet wurde.
FRANKFURT. Der ehemalige deutsche Fallschirmjägergeneral Hermann Bernhard Ramcke ist nach einer Mitteilung seines Pariser Rechtsanwalts von den französischen Behörden freigelassen worden und sofort über Straßburg nach Deutschland zurückgekehrt.
BAYREUTH. Der durch den Hagelschlag allein im Landkreis Bayreuth am vergangenen Sonntag angerichtete Flurschaden und Gebäudeschaden dürfte nach vorsichtigen Schätzungen sechs Millionen DM erreichen. Nur ein geringer Teil der vom Hagelschlag getroffenen Bauern ist versichert. Das Landratsamt Ebermannstadt beziffert den innerhalb dieses Kreises angerichteten Schaden auf 4,5 Millionen DM.
rung und Sicherheitsfrage seien zwei Begriffe, die unmittelbar zueinander gehörten. Wer sie voneinander trenne, handle wider besseres Wissen oder aus bestimmter Absicht.
Fette warnte alle politischen Parteien, „auch die uns nahestehenden“, davor, die „strikte parteipolitische Neutralität des deutschen Gewerkschaftsbundes anzutasten“. Er bejahte den Gedanken der Einheitsgewerkschaften und lehnte alle Bestrebungen, neue christliche Gewerkschaften zu gründen, ab.
Der außerordentliche Bundeskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der am Freitag Christian Fette zum Nachfolger Dr. Hans Böcklers gewählt hatte, nahm am Samstag zu den wirtschafts- und sozialpolitischen Problemen in einer Reihe von Entschließungen Stellung. Der Bund sprach sich für eine beschleunigte Neuordnung der Eigentumsverhältnisse bei Kohle und Stahl aus und forderte eine einheitliche und beschleunigte Investitionspolitik für die Grundindustrien. Zur Lohn- und Preisfrage empfahl der Kongreß, an einer „allgemeinen aktiven Lohnpolitik“ festzuhalten, solange nicht durch wirkungsvolle Maßnahmen ein neuer Preisanstieg verhindert werde.
KÖLN. Die „Deutsche Gesundheitsausstellung 1951“ ist am Samstag in Köln vom Bundeskommissar für die Ausstellung, Dr. Hermann Pünder, in Anwesenheit von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, Bundestagspräsident Hermann Ehlers und zahlreichen in- und ausländischen Ehrengästen unter dem Motto „Ein Ja dem Leben“ eröffnet worden.
BAD KREUZNACH. Durch die grundsätzliche Ablehnung einer Inflationspolitik sei der Bun- desflnanzminister Dr. Fritz Schäffer zum „Schutzpatron der Steuerzahler und der deutschen Wirtschaft“ geworden, sagte der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Alfred Hartmann, auf einer Tagung in Bad Kreuznach.
KIEL. Bundespräsident Professor Theodor Heuß wandte sich am Samstag in Kiel gegen ein Wiederaufleben der schlagenden Verbindungen. Er sagte bei der Einweihung des internationalen Studentenheimes „Christian - Albrecht - Haus“, diese Form des studentischen Lebens passe seiner Ansicht nach nicht mehr in die heutige Zeit.
WIEN. Die- österreichischen Behörden haben die Absicht, die Grenzzone, die nach der bisherigen Regelung im kleinen Grenzverkehr mit Deutschland betreten werden kann, erheblich auszudehnen. Die Zone soll künftig fast ganz Vorarlberg und Salzburg sowie etwa die Hälfte des Gebietes von Tirol und Oberösterreich umfassen.
ROM. Das italienische Kabinett hat am Samstag den ersten Entwurf des Antistreikgesetzes gebilligt, das die Arbeitsniederlegung von Angestellten und Arbeitern des staatlichen Dienstes verbietet. Das Gesetz beschränkt zugleich die Streikmöglichkeiten der Arbeiter aller öffentlichen Dienste.
MONROVIA (Liberia). Das Wrack des am Freitag über der westafrikanischen Küste abgestürzten Flugzeuges der „Panamerican Airways“ ist am Samstag in der Nähe von Monrovia gesichtet worden.
ül.
Der verschlossene MUND
Roman von Doris Eicke
Alle Rcdite V crlagthaui Reutlingen
Andrea mietete sich einen Strandkorb und richtete sich darin mit Detlev häuslich ein. Es machte ihnen Spaß, genau gleich gekleidet zu gehen, mit farbigen Blüschen und langen, blauen Schifferhosen. Detlev, der von seinem Kindergarten her ein immer gleich angezogenes Zwillingspaar kannte, bildete sich daraufhin ein, man hielte Mutti und ihn für Zwillinge. Sie waren den ganzen Tag außer den Mahlzeiten und Detlevs Mittagsschlaf in der frischen Luft, und Sonne und Meerwind bräunten sie schnell. Der Junge hatte eine leidenschaftliche Vorliebe fürs Wasser, und Andrea durfte ihn nie aus den Augen lassen, denn er hatte gar keine Vorstellung von der Gefahr, die ihm drohte, falls er zu weit hinauslief. Am liebsten mochte er segeln, er hatte sich mit dem einheimischen Besitzer eines Motorkreuzers angefreundet, und wenn man ihn fragte, was er werden wolle, schrie er strahlend und überzeugt: „Schiffer!“
Man saß im Kaiserhof an kleinen Tischchen meist zu vier Personen. Am zweiten Mittag ihres Aufenthaltes kam der Wirt zu Andrea und bat sie um die Erlaubnis, einen Gast an ihrem Tisch placieren zu dürfen, es sei sonst nichts mehr frei. Auf ihre Frage erfuhr sie, daß es ein Rechtsanwalt aus Hamburg sei und gab zögernd ihre Einwilligung, da es ohnehin kaum eine andere Möglichkeit gab.
Sie war gerade bei der Suppe, als ein hochgewachsener, schlanker Herr auf sie zutrat und sich als Dr. Tillmann vorstellte. Sie schaute ihn an und erschrak. Der Hamburger hatte ein grausam verstümmeltes Gesicht, si
cherlich von einer Kriegsverletzung. Seine ganze linke Gesichtshälfte war eine einzige große Narbe, das Auge aus Glas, Nase, Stirn und die ganze rechte Seite waren dagegen noch intakt und ließen ahnen, daß er einmal ein gut aussehender Mann gewesen war. Andrea schaute beklommen in ihren Suppenteller, ihr Schönheitssinn fühlte sich durch diesen Anblick aufs Empfindlichste verletzt, und sie empfand es als ausgesprochen störend, einen derart zugerichteten Mann bei Tisch als Gegenüber zu haben.
Seltsamerweise nahm Detlev, dem sonst so leicht nichts entging, keinerlei Notiz von dem besonderen Aussehen des Fremden, sondern schloß sofort auf seine zutrauliche Art Bekanntschaft mit ihm.
„Magst du Suppe, Onkel?“
„Ja, wenn sie nicht zu heiß ist.“
„Dann mußt du pusten, schau so...“ Detlev spitzte das Mäulchen und demonstrierte vor, wie er seine Suppe abkühlte, dabei lachte er spitzbübisch zu Andrea hinüber. „Mutti, mag das nicht, und ich darf es nur manchmal. Du mußt aufpassen, daß du das Tischtuch nicht schmutzig machst.“
Tillmann lachte.
„Und wenn ich es doch tue, was passiert dann?“
„Dann gibt Mutti dir einen Klaps.“
„Aber Detlev! Iß deine Suppe!“ sagte Andrea errötend.
Eine Weile blieb es still, aber lange hielt es der lebhafte Junge nicht aus. Kaum war der Teller leer, fing er von neuem an.
„Mein Papa ist Flieger“, verkündete er stolz.
„So? Dann willst Du wohl auch einer werden?“
„Nein, ich werde Schiffer“, erklärte der Junge wichtig. „Wenn ich groß bin, kaufe ich mir ein Schiff, und dann mache ich es wie Onkel Claasen, ich stell mich auf die Brücke und schreie ganz laut:
Der Motorkreuzer Möwe fährt heute nach
mittag nach Kellenhusen und Dahme, Fahrpreis hin- und rückwärts eine Mark!“
Von allen Tischen schaute man lachend herüber. Detlev hatte an diesen beiden Tagen genau aufgepaßt, er wußte, wie man es machte, es lag sogar eine Spur holsteinischen Dialektes in seiner Wiedergabe.
„Du bist tüchtig, Junge!“ lobte Tillmann. „Wie heißt Du denn?“
„Detlev Merck, Bremen, am Dobben 44. Meine Mutti heißt Andrea.“
„So, so?“ Tillmann lächelte seinem Gegenüber zu.
„Kommst Du heute auch mit segeln? Mutti hat es- mir versprochen.“
„Wenn Du mir rechtzeitig Bescheid sagst." „Das tun wir, nicht wahr, Mutti?“
Andrea nickte unbestimmt. Sie hatte vorgehabt, sich völlig zurückzuhalten und nur ein paar Höflichkeitsphrasen mit diesem aufgezwungenen Tischpartner zu wechseln, aber bei Detlevs chronischem Anbändlungsbedürfnis würde sich das schwer bewerkstelligen lassen. Als Tillmann ihm noch seinen Schokoladenpudding überließ, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Andrea war froh, als die Mahlzeit endlich vorbei war.
In den nächsten Tagen blieb die Lage unverändert, Tillmann und Detlev bestritten das Tischgespräch, während Andrea einsilbig blieb. Vergaß sie sich aber einmal und brach in das ihr eigene herzliche und unwiderstehlich mitreißende Lachen aus, dann schaute der lange Hamburger in freudiger Überraschung zu ihr herüber. Andrea hatte das unbestimmte Gefühl, daß alles, was er zu Detlev sagte, eigentlich für sie bestimmt sei. Langsam gewöhnte sie sich an sein zerstörtes Gesicht und fand ihn nicht mehr so abschreckend. Die Art, wie er mit Detlev umging, flößte ihr eine unwillkürliche Sympathie ein. Ganz sicher liebte er Kinder, und Andrea war der Ansicht, daß dies ein gutes Zeichen für seinen Charakter sei.
Bis jetzt war Andrea nie mit Tillmann zusammengestoßen. Am fünften Tage stand ein. neuer Strandkorb früh morgens in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Sie wartete den ganzen Tag neugierig auf seine unbekannten Insassen, aber er blieb leer. Beim Mittagessen fehlte auch der Doktor. Das Servierfräulein wußte zu berichten, daß er bereits mit dem Neun-Uhr-Schiff abberufen worden sei. Detlev war ganz betrübt über seine Abreise und fragte immer wieder, ob er denn nie, nie wiederkäme. Andrea konnte ihm keine Auskunft geben. Zu ihrer eigenen Verwunderung vermißte sie ihn selbst ein wenig. Es war alles in allem ein angenehmer Gesellschafter gewesen, zurückhaltend und taktvoll. Für sein zerstörtes Gesicht konnte er schließlich nichts.
Tillmanns Platz blieb auch am anderen Tage leer, und Andrea nahm an, daß er endgültig abgereist sei. Es verletzte sie fast ein wenig, daß er sich nicht von ihr verabschiedet hatte, aber die Sache war wohl für ihn selbst überraschend gekommen.
Abends, nach dem Essen, wenn Detlev zu Bett gebracht worden war, war Andrea immer etwas unschlüssig, was sie beginnen solle. Wie die meisten Hotels an der See hatte der Kaiserhof keine Gesellschaftsräume. Man war hier darauf eingestellt, daß die Gäste sich am Tage am Strand und abends in den zahlreichen Vergnügungsstätten aufhielten. Andrea bummelte meist abends ein wenig am Strand auf und ab während der kurzen Stunde, In der bei trockenem Wetter Platzkonzert war. Man begegnete bei dieser Gelegenheit vielen Kurgästen und kannte sich so allmählich vom Sehen. Die meisten gingen nach Verwandschaft oder Freundschaft geordnet in Gruppen, manche auch in glücklicher Zweisamkeit, und Andrea spürte betrübt und in ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt ihr Alleinsein. Wäre Niels dagewesen, so hätte sie mit ihm am Abend in eine dieser Vergnügungsstätten gehen können, aus denen sie mitreißende Tanzrhythmen herausklingen hörte. -Forts, folgt