NUMMER 89
MONTAG, 11. JUNI 1951
Seit vor dem Kriege verdoppelt
Butter ist seit gestern teurer
BONN. Die vom Bundeskabinett gebilligte Erhöhung der Milch- und Butterpreise wurde inzwischen im Bundesanzeiger veröffentlicht und ist damit ab gestern rechtskräftig. Der Preis für das Kilo deutsche Markenbutter ist nun von 5.84 DM um 50 Pfennig auf 6.34 DM gestiegen. Seit der Vorkriegszeit hat sich der Butterpreis praktisch verdoppelt. Deutsche Molkereibutter wird jetzt 6,22 DM und deutsche Landbutter 5.85 DM das Kilo kosten. Die Preise gelten nur für inländische Butter mit einem Fettgehalt von mindestens 80 Prozent. Der Verbraucherhöchstpreis für Trinkmilch wurde je nach dem Fettgehalt auf 38—42 Pfennig je Liter festgesetzt.
Heder auf freiem Fuß
Vorher zweitägiger Hungerstreik in Kiel
KIEL. Der Haftbefehl gegen den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hedler wurde gestern vom Strafsenat des schleswig-holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig aufgehoben. Der Strafsenat teilte mit, daß Hedler seine ehrenwörtliche Verpflichtung, an allen Verhandlungen der Strafkammer gegen ihn teilzunehmen, auch künftig als verbindlich anerkenne. Hedler hatte diese Erklärung bereits in der vergangenen Woche in Bonn gegenüber Bundestagspräsident Dr. Ehlers abgegeben.
Aus Protest gegen seine Verhaftung trotz der ihm angeblich von Bundestagspräsident Dr. Ehlers und Bundesjustizministers Dr. Dehler gegebenen anderslautenden Zusicherungen hatte Hedler am Freitag im Kieler Untersuchungsgefängnis mit einem Hungerstreik begonnen. Hedler war am Donnerstagabend auf dem Bonner Bahnhof verhaftet und anschließend nach Kiel gebracht worden, nachdem er die Montagverhandlung der Kieler Strafkammer verlassen hatte. Hedler ist der Aufreizung zum Klassenhaß und der Verleumdung lebender Politiker sowie der Verächtlichmachung des Ansehens von Verstorbenen angeklagt.
Eingaben der 131er
Schlußtermin 30. Juni
BONN. Eingaben der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen sollen nach einer Mitteilung des Bundesflnanzministeriums nur an die Länderinnenministerien bzw. in unterer Instanz an die Bürgermeister gerichtet werden und nicht an das Bundesinnenministerium.
Nach dem Gesetz werden an versorgungsberechtigte verdrängte Angehörige des öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten und berufsmäßige Angehörige des früheren Arbeitsdienstes Versorgungszahlungen vom 1. April dieses Jahres an nur dann geleistet, wenn der Antrag spätestens bis zum 30. Juni bei der zuständigen Landesdienststelle eingereicht worden ist.
Engere Beziehungen
Die Romreise des Bundeskanzlers
BONN. Bundeskanzler und Außenminister Dr. Adenauer wird in dieser Woche zu einer ersten offiziellen Fühlungnahme mit den höchsten Repräsentanten der italienischen Regierung in .Rom Zusammentreffen. Es ist dies der erste Besuch eines verantwortlichen deutschen Regierungschefs nach 1945 in der italienischen Hauptstadt. Dr. Adenauer wird mehrfach mit dem italienischen Ministerpräsidenten de Gasperi und Außenminister Graf Sforza Besprechungen führen. In maßgeblichen Bonner Kreisen wird angenommen, daß der Bundeskanzler u. a. Fragen der europäischen Montanunion sowie Pläne zu einer Landwirtschaftsunion und einer hohen Behörde für die zivile Luftfahrt zur Sprache bringen wird. Die deutsch-italienischen Beziehungen sollen noch enger als bisher gestaltet werden.
Bei seinem fünftägigen Aufenthalt in Rom wird der Bundeskanzler auch von Papst Pius XII. in Privataudienz im Vatikan empfangen werden.
Marshall nicht „auf Friedensmission“
Besprechungen in Tokio und an der Koreafront / Gerüchte über neue Kriegsphase
TOKIO. Der stellvertretende amerikanische UN-Chefdelegierte Ernest Gross erklärte am Samstag, die Reise des USA-Verteidi- gungsministers Marshall nach Tokio und Korea habe nichts mit etwaigen Schritten zur Beendigung des Koreakriegs zu tun. Seit Mitte Februar, sagte Gross, habe die UN vergeblich versucht, mit Peking ins Gespräch zu kommen, um Friedensverhandlungen in die Wege zu leiten. Der amerikanische Verteidigungsminister Georges C. Marshall war am Freitag überraschend in Tokio eingetroffen.
Am Samstagmorgen ist auch der Minister für die USA-Luftstreitkräfte, Thomas Fin- 1 etter, nach dem Fernen Osten abgeflogen. Der Minister, der von drei USA-Luftwaffen- generalen begleitet ist, wird sich eine Woche in Fernost aufhalten.
Am Samstagvormittag führte Marshall in Tokio lange Besprechungen mit dem UN-Be- fehlshaber in Korea, General Matthew R i d g - w a y. Aus der Umgebung Ridgways verlautet dazu, daß zwischen den beiden Offizieren nicht nur Koreafragen, sondern weltweite Probleme erörtert worden seien. Auch ein hoher Beamter in Tokio sagte, daß Marshalls Reise nicht ausschließlich mit der Koreafrage
in Verbindung gebracht werden dürfe. In diplomatischen Kreisen in New York spricht man davon, daß das Ergebnis der Koreareise Marshalls entweder ein Waffenstillstand oder ein neuer Versuch, eine Entscheidung auf militärischem Wege zu erzwingen, sein werde. Man erinnert an Äußerungen des UN-Gene- ralsekretärs Trygve L i e, der ankündigte, daß neue Truppen nach Korea geschickt würden, falls die chinesischen Kommunisten einem Waffenstillstand nicht zustimmten. Im südkoreanischen Parlament befürworteten der Verteidigungsminister und der Außenminister Anfragen nach dem vermutlichen Grund von Marshalls Besuch in Tokio. Der südkoreanische Außenminister bemerkte, jeder Waffenstillstand am 38. Breitengrad sei „ein Gefahrensignal für die freie Welt“.
Am Freitag fand eine 3 ‘/ 2 Stündige Geheimkonferenz zwischen Marshall, Ridgway und dem Truppenbefehlshaber van Fleet in einem Zelt unmittelbar hinter der amerikanischen Front statt, in dessen Nähe Marshalls Flugzeug auf einem eigens hierfür angelegten Rollfeld landete. Über den Inhalt der Besprechungen konnte nichts in Erfahrung gebracht werden.
Französische Intervention ?
Zum japanischen Friedensvertrag
PARIS. Der amerikanische Sonderbotschafter John Foster Du 11 es hält sich gegenwärtig in Paris auf, wo er die in London begonnenen Besprechungen über den Friedensvertrag mit Japan fortsetzen wird. Dulles wird heute mit Außenminister Robert S c h u m a n Zusammenkommen.
Vor seinem Abflug in London bestätigte Dulles, daß zwischen den Westmächten Unstimmigkeiten über den Vertrag aufgetreten seien. Man hoffe jedoch, in dieser Woche — Dulles reist am Mittwoch wieder nach London zurück — zu einer Beilegung der -Differenzen zu kommen.
Eine Stellungnahme zu Meldungen gutun
terrichteter diplomatischer Kreise, nach denen die französische Regierung eine Hinausschiebung des Vertragsabschlusses vorgeschlagen haben soll, lehnte Dulles ab. Frankreich soll nach diesen Meldungen eine Regelung für Japan befürwortet haben, die mit den vertraglich festgelegten Beziehungen der Westmächte zur deutschen Bundesrepublik vergleichbar sei.
Bomben in der Ostzone
BERLIN. Sowjetische Flugzeuge haben in den Morgenstunden des Samstag über einer Ortschaft in der Nähe von Jüterbog mehrere scharfe Bomben abgeworfen. Nach bisher vorliegenden Meldungen wurden mindestens eine Person getötet und 6—8 schwer verletzt. Außerdem sollen mehrere Häuser völlig und andere teilweise zerstört worden sein.
Kleine Weltchronik
MÜNCHEN. Das Kohlenbergwerk und das Kalk- und Zementwerk Marienstein sind vom bayerischen Staat übernommen worden. Seit der Währungsreform mußte den Werken vier Millionen DM Zuschuß geleistet werden. Finanzminister Zorn erklärte, die Betriebe würden unter Opfern aufrechterhalten, weil der Staat den etwa 800 Arbeitern und Angestellten die Existenz erhalten wolle und die Bodenschätze ausnutzen müsse.
FRANKFURT. Der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy begab sich gestern auf dem Luftwege nach den USA, wo er J’ei den Diskussionen über das Budget für das kommende Finanzjahr vor dem Bewilligungsausschuß des Repräsentantenhauses erscheinen wird. Er wird gleichzeitig ' in Washington Besprechungen über die Unterbindung des deutschen West-Qst-Han- dels führen.
FRANKFURT. Der Bundesausschuß des Deutschen Gewerkschaftsbundes schlug auf seiner gestrigen Sitzung in Frankfurt den Vorsitzenden der IG Drude und Papier, Christian Fette, als Kandidaten für die Wahl des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor.
BONN. Der unabhängige Bundestagsabgeordnete Hermann Aumer (früher Bayernpartei), der im Zusammenhang mit der Spiegel-Affäre aufgefordert worden war, sein Mandat niederzulegen, erklärte, er sei sich keiner Schuld bewußt und werde daher der Aufforderung nicht Folge leisten. Vorher hatten bereits die beiden Bayernpartei-Abgeordneten Anton v. Aretin und Ludwig Volkholz die geforderte Mandatsniederlegung verweigert.
TRIER. Auf der Bundestagung des „Bundes Deutscher Baumeister“, die gegenwärtig in Trier abgehalten wird, wurde eine Entschließung ausgearbeitet, in der die Schaffung eines Bundesgesetzes zum Schutze der Berufsbezeichnung
„Architekt“ gefordert wird. Der Ausschuß fordert eine fünfjährige praktische Tätigkeit für alle Absolventen von Staatsbauschulen und Technischen Hochschulen, ehe diese die Bezeichnung „Architekten“ führen dürfen. Außerdem wurde die Ausgliederung der Staatsbauschule aus der Zuständigkeit der Kultministerien gefordert.
KIEL. Die Verhaftung von 36 Jugendlichen, die — trotz verstärkter Überwachung der gesamten Nordseeküste durch die Polizei — versucht hatten, die Insel Helgoland zu „besetzen“, wurde gestern von der Polizei in Kiel bekanntgegeben. Die 36 festgenommenen Demonstranten sind alle unter 20 Jahre alt. Sie landeten an der unbewachten Nordseite der Insel und liefen den auf Helgoland stationierten Polizisten in die Arme.
BERLIN. Der Präsident der Ford-Company, Henry Ford, und der frühere ERP-Minister Paul Hoffman sind am Samstag in Begleitung der Gattin des amerikanischen Hohen Kommissars in Berlin eingetroffen. Sie wollen während ihres Aufenthaltes in Berlin mit Vertretern des Senats und der Freien Universität Besprechungen über eine finanzielle Unterstützung der Universität durch die Fordstiftung führen.
SALZBURG. Die dreiköpfige sowjetische Repatriierungskommission in der amerikanischen Besatzungszone Österreichs wurde am Samstag zwangsweise in “die Sowjetzone zurückgeführt. Die Sowjets hatten sich längere Zeit geweigert, ihre in einem Hotel untergebrachte Dienststelle zu räumen.
DARMSTADT. Seit Samstagmorgen 4 Uhr ist Darmstadt wieder eine Großstadt. Zu diesem Zeitpunkt wurde der 100 000. Einwohner und erste Großstädter geboren. 1937 war Darmstadt erstmalig durch Eingemeindung von zwe; Vororten zur Großstadt geworden. Nach der Zerstörung im September 1944 verringerte sich jedoch die Bevölkerungszahl auf 45 000.
Kritik der We t autgeru^ »>.
MÜNCHEN. „Ich rufe die Kritik der Welt ge- gegen die deutsche Kohlenexportquote auf“, sagte gestern Bundeswirtschaftsminister Erhard vor dem akademisch-politischen Klub in München. „Man kann nicht einem Lande Leistungen auferlegen, denen sich alle anderen Länder entziehen, ohne damit auch nur einer Kritik ausgesetzt zu sein. Mit den englischen Kohlenmengen Vollbeschäftigungspolitik zu treiben, ist kein Kunststück.“
Er wolle sein Versprechen einlösen, sagte der Minister, daß das deutsche Volk im kommenden Winter nicht wieder frieren solle. Die Hausbrandversorgung sei jedoch nur auf Kosten der gewerblichen Wirtschaft und damit mit einer Steigerung der Arbeitslosigkeit zu sichern, sofern der Fluch dieses Exportsystems bis dahin nicht überwunden sei.
Zum gleichen Gegenstand äußerte sich auch der Rohstoffberater der Bundesregierung, Friedrich, in einer Rede vor der Vollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelstages. Wenn man mit den zurzeit völlig erschöpften Kohlenvorräten in den kommenden Winter gehen müsse, dann werde „ein Zusammenbruch erfolgen, wie wir ihn nur am Ende zweier Kriege erlebt haben“.
Borgward muß entlassen
BREMEN. Infolge Schwierigkeiten in der Materialversorgung und bedingt durch die Maßnahmen zur Krediteinschränkung müssen die Borgward-Werke 1200 bis 1500 Automobilarbeiter während der nächsten Wochen entlassen.
Erzeugerpreise 1,9°/* höher
WIESBADEN. Der Index der Erzeugerpreise für industrielle Produkte ist nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes von 218 im März um 1,9 Prozent auf 222 gestiegen. — Mit einem weiteren Anziehen der Preise bei zurückgehenden Umsätzen im Einzelhandel rechnet die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels. Audi in Amerika rechne man nicht mit einem nachhaltigen Absinken der Preise. Trotzdem spricht die Hauptgemeinschaft sich für eine „Atempause in der Preis-Lohn-Entwick- lung“ aus. Eine bestimmte Gruppe von Standardwaren müsse im Preis festgehalten werden. die Regierung solle feste Lebensmittelpreise garantieren, die Gewerkschaften sollten dafür sorgen, daß während dieser Zeit ein Lohnstop eingehalten werde.
Keine Mineralölsteuererhöhung
MÜNCHEN. Eine Bewirtschaftung auf dem Mineralölsteuersektor werde in absehbarer Zeit nicht wieder eingeführt werden, sagte der Leiter des Referates Mineralöl im Bundeswirtschaftsministerium, Dr. B ö c k e r, ln München. Es sei auch nicht beabsichtigt, die Mineralölsteuer zu erhöhen, da der Absatz von Treibstoff bereits vor ihrer letzten Erhöhung erheblich zurückgegangen sei und auch danach seine rückläufige Tendenz beibehalten habe.
Getreidepreise unverändert
BONN. Die Preise für Inlandsgetreide im Getreidewirtschaftsjahr 1951/52 bleiben im wesentlichen unverändert, wie ein Gesetz über Getreidepreise für 1951/52 bestimmt. Der Bundesrat hat dem Gesetz zugestimmt.
Lohntarif für ÖTV
STUTTGART. Nach schwierigen Verhandlungen wurde zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr ein Lohntarifvertrag abgeschlossen, der ab 1. 4. 1951 eine Erhöhung der Arbeiterlöhne um 10 Pfg. pro Stunde vorsieht.
Verbrauchervereinigung gegründet
FRANKFURT, Eine „Verbrauhervereinigung, Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Verbrauherfragen" wurde in Frankfurt gegründet Sie will auf Bundesbasis die Interessen der Verbrauher vertreten und den Markt, die Preise und die Güte der Waren vom Standpunkt des Konsumenten aus erforschen.
Konkurrenzkampf
KOPENHAGEN. Die britishe Automobilfirma Austin hat, wie aus der dänishen Presse zu ersehen ist, die Preise für ihre Wagen auf dem dänishen Markt um 1500 Dänenkronen ermäßigt. Man vermutet in Kopenhagen, daß hiermit eine Gegenoffensive gegen das Vordringen der deutschen Automobilindustrie auf dem dänishen Markt eingeleitet worden sei.
Der verschlossene MUND
28]
Roman von Doris Eicke
Alle liechte Verlagshau* Reutlingen
„Ich bin ein Rabenvater!“
„Du bist eben noch nicht an Deine Vaterrolle gewöhnt“, tröstete Andrea lächelnd. „Ist er nicht süß. Niels?“
„Detlev ist süß“, jauchzte der Kleine.
„Was für ein eingebildeter junger Mann! Von wem hat er das?“ versuchte Niels seine Rührung hinwegzuscherzen. Andrea stellte ihn auf seine strammen Beine, worauf er schelmisch und durchaus siegesbewußt von einem zum anderen schaute. Der fremde Mann interessierte ihn aber bei weitem am meisten.
„Hast Du auch einen Teddy, Onkel?“ fragte er leutselig.
„Der Onkel heißt Papa, Detlev!“
„Nee. Mein Papa ist fort, in Rußland —“
„Jetzt ist er eben wiedergekommen, mit der Puff-Puff-Bahn.“
Detlev schaute den Fremden mißtrauisch an und schob sogar sein rosiges Zeigeflnger- chen zwecks besseren Nachdenkens in den Mund.
„Is ja alles Kohl“, verkündete er dann herzlich.
Andrea ärgerte sich über diesen hartnäckigen Unglauben, aber Niels beschwichtigte sie.
„Ist es nicht ein trauriges Zeichen für die allgemeine Unehrlichkeit unserer Zeit, daß selbst ein so kleiner Kerl schon weiß, daß er nicht alles, was man ihm sagt, für bare Münze nehmen darf?“ sagte er nachdenklich. Andrea wußte nicht recht, ob dies eine Kritik an ihrer Erziehung sein sollte, und schaute
fragend und ein wenig unsicher zu ihrer Schwiegermutter hinüber.
„Ach Niels, wir ändern die Welt nicht“, sagte die alte Frau ruhig, „wir müssen sie nehmen, wie sie ist, und auch Detlev muß sich mit ihr auseinandersetzen. Es ist darum gut, wenn er sie sieht, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie haben möchten. Er ist ein so gescheiter, kleiner Bengel“, fügte sie stolz hinzu.
Sie redeten eine Weile hin und her, dann schaute die alte Frau auf die Uhr.
„Ihr bleibt doch zum Essen?“
„Wir könnten in der Nähe in einem Gasthof zusammen essen, Mutter, damit es Dir keine Mühe macht.“
„Unsinn, wenn Du endlich wieder nach Hause kommst, so ißt Du bei Deiner Mutter, mein Jung. Detlev muß jetzt schlafen, und wenn Andrea mir hilft, können wir um zwei Uhr fertig sein. Gehst Du mal eben in den Fischladen in der Pappelstraße, Niels?“
„Laß mich gehen, Mutter“, sagte Andrea rasch. Zu ihrer Überraschung nickte er zufrieden.
„Ich bin erst mal nur ein halbes Pfund und eigentlich nur im Liegen zu genießen“, sagte er mit lächelnder Selbstironie. „Wenn Detlev schlafen geht, lege ich mich hier auf den Divan. Nachher schmeckt es mir besser, .wenn ich ausgeruht bin.“
Mutter Merck brachte den kleinen Jungen zu Bett und holte für den großen eine Decke. Dann lief sie in die Küche und hatte schon einen Topf Kartoffeln geschält, als Andrea mit dem bereits abgeschuppten Fisch zurückkam. Ihre Schwiegermutter war keine große Kochkünstlerin und die Auswahl ihrer Gerichte belustigend klein. Andrea fand die Genügsamkeit, mit der sie immer wieder das gleiche aß, das ganze Jahr den gleichen Pudding und den ewig gleichen Napfkuchen stolz auf den Tisch stellte, als hätte sie damit eine besondere Leistung vollbracht, geradezu rüh
rend. Niels hätte sicher geglaubt, nicht zu Hause zu sein, wenn es heute keinen Schellfisch gegeben hätte. Sie selbst teilte als Binnenländern die begeisterte Vorliebe der Bremer für ihre Meerfische nicht, aber auf sie kam es ja jetzt nicht an.
Es wurde ein heiteres Mahl zu Dreien, bei dem Niels viel mehr aus sich herausging als zu Hause. Diese Feststellung war natürlich ein Stachel für Andrea, aber sie gab sich die größte Mühe, mit ihm fertig zu werden. Sie wollte die alte, unwürdige Eifersucht auf ihre Schwiegermutter nicht wieder in sich auf- kommen lassen.
Als sie gegen Abend nach Hause kamen, war Niels so müde, daß er das Nachtessen stehen ließ. Andrea bemühte sich, das lebhafte Kind einigermaßen zu bändigen, aber Detlev war voller Verlangen, dem neuen Onkel alle seine Schätze zu zeigen Noch im Hemdchen entwischte er ihr. um ihn zu fragen, ob er morgen noch da sei. Auch in seinem Bettchen trieb er zuerst allerlei Allotria, so daß Niels nicht zur Ruhe gehen konnte, fiel aber dann von einer Minute auf die andere in tiefen Schlaf.
„Solche Ausflüge sind noch nichts für mich“, dachte Merck seufzend. „Wenn ich bald Erfolg haben will, muß ich systematische Liegekuren machen und überhaupt ganz geregelt leben- Morgen, wenn ich vom Arzt komme, werde ich es Andry sagen."
VIII.
Nach kurzer Zeit hatte Niels aufgehört, für seine Familie ein — wenn auch geliebter — Fremdkörper zu sein, um den sich alles drehte. Seiner bescheidenen Natur lag es ohnehin nicht, eine besondere Rolle zu spielen. Sein Tag lief mit der methodischen Genauigkeit eines Uhrwerks ab, genau eingeteilt in Liege- und Bewegungszeiten. Am Anfang begleitete ihn Andrea fast immer auf seinen Spaziergängen, bis er eines Tages in ihrer
Begleitung mit einem Möllner Leidensgenossen zusammenstieß. Der andere freute sich aufrichtig und blieb stehen, sichtlich zu einem ausgiebigen Schwatz aufgelegt. Merck überwand einen Schrecken rasch, schüttelte ihm unter Vorgehen größerer Eile die Hand und verabredete einen Treffpunkt am gleichen Abend im Essighaus. Dann ging er raschen Schrittes mit Andrea weiter.
„Wer war das?“
Rin Bekannter. Ich traf ihn auf der Herreise.“
„War er auch in russischen Diensten?“
„Nein.“
„Warum hast Du ihn mir nicht vorgestelltT Wir haben doch gar nicht Solche Eile, wie Du gesagt hast."
„Ich wollte es nicht“, sagte Niels ein wenig gereizt, „er — er ist keine passende Gesellschaft für Dich.“
„Ach?“ Andrea sah in verwundert am „Warum triffst Du Dich dann heute abend mit ihm? Du gehst doch sonst nie aus, also muß Dir doch etwas an ihm liegen.“
Niels ärgerte sich über ihre logischen Schlußfolgerungen.
„Kind, mußt Du immer alles so genau wissen?“
„Nein, das muß ich nicht.“ Andrea schwieg verstimmt. Im Grunde genommen lag iW nichts an diesem fremden Mann, der in keiner Weise geeignet war, Eindruck auf eine Frau zu machen. Sie wäre nur gerne mitgegangen, einfach, um einmal aus dem Hause zu kommen. Niels ging seit seiner Rückkehr niemals mit ihr aus, weder in Lokale, noch in Kino«, noch ins Theater; bis auf den Verkehr mit wenigen Freunden lebten sie ganz zurückgezogen. Andrea war nicht besonders vergnügungssüchtig und opferte ihr gelegentliches Verlangen nach einer kleinen Abwechslung leicht und ohne Aufhebens den Erfordernissen von Niels’ Gesundheit. (Forts, folgt)