NUMMER 83
FREITAG, 1. JUNI 1951
Verständigung bleibt das Ziel
Saardebatte des Bundestags: Saarbevölkerung wird immer deutsch bleiben
Von unserer Bonner Redaktion
BONN. Der Bundestag nahm am Mittwoch in einer sechsstündigen Debatte zum Saarproblem Stellung. In seiner Regierungserklärung stellte Bundeskanzler Dr. Adenauer fest: Auch nach dem Schumanbrief und dem folgenden Verbot der DPS an der Saar wird die Regierung an ihrer Politik der Integration Europas festhalten. Sie wird gleichzeitig in Verhandlungen mit der französischen Regierung über die Hohe Kommission und unter Einschaltung des Straßburger Europarats ihrer Forderung auf Wiederherstellung der demokratischen Freiheit an der Saar Nachdrude verleihen. Zu einer Störung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und des Aufbaus Westeuropas dürfe die Saarfrage nicht werden. Von diesem Grundsatz werde sich die Bundesregierung am allerwenigsten durch Ministerpräsident Hoffmann aus Saarbrücken abbringen lassen. In einer Entschließung billigte der Bundestag gegen die Stimmen der KPD und bei Stimmenthaltung der SPD die Regierungspolitik in der Saarfrage. Ein Zentrumsantrag, der einen Volksentscheid an der Saar unter Einschaltung der Vereinten Nationen zum Ziele hat, wurde dem Bundestagsausschuß für Auswärtiges überwiesen.
In seiner Rede, die der Bundeskanzler vor vollbesetztem Hause und überfüllten Tribünen hielt, erklärte Adenauer weiter: „Die Saar ist von je deutsches Land gewesen und ihre Bevölkerung wird für immer deutsch bleiben.“ Die Regierung lehne jeden Versuch ab, an der Saar vollendete Tatsachen zu schaffen, die einem Friedensvertrag oder einem anderen Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich vorgreifen würden.
Ob das Saargebiet von Frankreich annektiert oder zu einem zweiten Luxemburg gemacht werde, sei vom deutschen Standpunkt aus völlig gleichgültig. Immer würde dies eine Losreißung von Deutschland bedeuten und die Saarpolitiker, die sich für die Lösung einsetzten, würden in deutschen Augen als Separatisten gelten.
Nach der Bekanntgabe zahlreicher Dokumente, aus denen die Verletzung der demokratischen Freiheiten an der Saar hervorgeht, erklärte der Bundeskanzler, er hoffe, „daß die französische Regierung ihren Einfluß in Saarbrücken wiederum geltend machen wird, um einen bedauerlichen Mißgriff (gemeint ist das Verbot der DPS) gutzumachen“. Wenn die Bundesregierung auf ihrem bisher eingeschlagenen Weg fortfahre und ruhige Nerven bewahre, könnte es mit einer ebenso ruhig denkenden französischen Regierung auch schon vor einem Friedensvertrag zu einer Einigung in der Saarfrage kommen. „Die endgültige Lösung kann nur gesichert werden, wenn die Saarbevölkerung zuvor durch eine gründliche Erörterung Gelegenheit gehabt hat, sich über ihre eigenen Wünsche klar zu werden.“ Darum müßte der Saarbevölkerung der Weg nach Bonn ebenso offen stehen wie der nach Paris. Es gebe keine saarländischen Staatsangehörigen, sondern In den Augen der Bundesregierung nur Deutsche, die an der Saar lebten.
Abschließend erläuterte der Bundeskanzler die Note, die der Hohen Kommission am 29.
Ein weiterer Aufschub ?
Magee legt Berufung ein
WASHINGTON. Der amerikanische Bundesrichter M Bastian vom Bezirksgerichtshof von Columbia hat die Zivilklage des amerikanischen Rechtsanwalts der sieben Landsberger Todeskandidaten, durch die die Hinrichtung der Verurteilten verhindert werden sollte, abgelehnt. Richter Bastian erklärte, daß der amerikanische Rechtsanwalt Magee bis zum 5. Juni gegen diese Entscheidung beim Court of Appeals Berufung einlegen könnte. Der bis zum kommenden Dienstag verfügte Hinrichtungsaufschub könne jedoch unter keinen Umständen verlängert werden.
Mai überreicht worden war und in der die Regierungen der Westmächte an ihre Verantwortung erinnert werden, die sie für die Entwicklung an der Saar gemeinsam tragen. Die letzten Vorfälle im Saargebiet machten ein Eingreifen der Alliierten notwendig.
Die SPD forderte in einer Erklärung, daß vor der Bereinigung der Situation im Saargebiet weder der Schumanplan noch ein anderes internationales Abkommen mit Frankreich verwirklicht werden dürfe. Die Regierung habe nicht zu erkennen gegeben, daß sie der französischen Saarpolitik aktiver als bisher entgegentreten werde. Als Sprecher der SPD bezeichnete es Prof. Karl Schmid als Ziel der französischen Außenpolitik, die Saar schon vor einem Friedensvertrag von Deutschland loszureißen. Der Eintritt der Bundesrepublik in den Europarat und die Unterzeichnung des Schumanplanes hätten Paris in der Saarpolitik nur ermuntert.
Die von der Regierung eingelegte Rechtsverwahrung hätte nur dann einen Sinn, wenn die praktische Politik dem vertretenen Rechts
standpunkt entspreche. An der Saar handle es sich um 900 000 Menschen, denen man es verwehren wolle, sich zu ihrem Volke zu bekennen. Nur darum sei auch die DPS verboten worden.
Krauß, Würmeling (CDU/CSU), Maier (DVP), Ewers (DP) und See los (Bayern- Partei) betonten dagegen ihre Billigung der Regierungspolitik. Wenn auch ihre Äußerungen sich mehr gegen Paris richteten, als es der Bundeskanzler getan hatte, stellten doch auch diese Sprecher fest, daß die deutschfranzösische Verständigung das Ziel der deutschen Politik bleiben müsse. Im Verlauf der Debatte, in der es ja nicht an Worten wie „französischer Chauvinismus“ und „Landesverräter Hoffmann“ fehlte, wurde die ganze Entwicklung an der Saar von 1945 bis zum Verbot der DPS immer wieder herausgestellt. Das Thema Schumanplan ließen die meisten Sprecher im Hintergrund. Aber weder Regierung noch Opposition ließen einen Zweifel daran zu, daß bei der Einbringung des Schu- manplans im Bundestag die Saarfrage erneut eine Rolle spielen wird. Nach Adenauers Worten wird sich bis dahin zeigen müssen, „ob der durch das Verbot der DPS ohne unsere Schuld aufgeworfene Konflikt bereinigt werden kann. Wir werden uns auf allen zur Verfügung stehenden Wegen darum bemühen“.
Regierungspartei erfolgreich
Die Wahlen in Norditalien ROM. Die norditalienischen Provinzial- und Gemeindewahlen am Sonntag und Montag haben der Christlich-demokratischen Partei des Ministerpräsidenten de Gasperi und ihren Koalitionspartnern einen entscheidenden Sieg gebracht. Nach Angaben des Innenministeriums schlugen die Christlichen Demokraten die Kommunisten etwa im Verhältnis von 2:1. Bei den Provinzialratswahlen konnte die Regierungspartei insgesamt 3 487 000 Stimmen (41,1 Prozent) auf sich vereinigen. Die Kommunisten erhielten 1 855 000 (21,9 Prozent) und die den Kommunisten nahestehende Sozialistische Partei 1 132 000 Stimmen (13,4 Prozent). Die antikommunistischen Sozialisten, die auf seiten der Regierungspartei stehen, verzeich- neten 7,7 Prozent, die neofaschistische Soziale
Bewegung 4 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Auch in den Städten und Gemeinden, deren Wahlergebnisse noch unvollständig sind, scheinen die Kommunisten viel an Boden verloren zu haben. Besonders auffällig sind die Verluste der Kommunisten in den Gemeinden mit weniger als 3000 Einwohnern. Von den Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern, aus denen die Ergebnisse vorliegen, werden 103 eine Christlich-Demokratische und 48 eine kommunistische Mehrheit haben. Die Wahlbeteiligung war mit 90 Prozent außerordentlich hoch.
Von den 28 Provinzhauptstädten sind 22 schon definitiv an die Regierungsparteien gefallen; nur in fünf siegten die Kommunisten. Bisher war das Verhältnis in den größeren Städten umgekehrt 11:17 gewesen.
Kleine Weltchronik
TÜBINGEN. Die FDP-Fraktion des Landtags von Württemberg-Hohenzollem hat einen einstimmig beschlossenen Antrag eingebracht, in dem sie die Staatsregierung ersucht, „bei der Bundesregierung im Namen der Menschlichkeit eindringlich dahin vorstellig zu werden, daß der wegen Kriegsverbrechen unter unerträglichen Bedingungen im interalliierten Gefängnis von Spandau in Haft gehaltene Konstantin Freiherr von Neurath, der im 79. Lebensjahr steht, alsbald freigelassen wird“.
STUTTGART. 94,2 Prozent der insgesamt 650 000 in Gewerkschaften organisierten Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes im Bundesgebiet haben sich b%5 der Urabstimmung der „Gewerkschaften öffentliche Dienste, Transport und Verkehr“ für die Gewerkschaftsforderung auf eine Gehalts- und Lohnerhöhung ausgesprochen.
FRANKFURT. General J. Lawton Collins, Chef des Generalstabes der amerikanischen Armee, ist aus Paris zu einem zweitägigen Besuch in der amerikanischen Besatzungszone eingetroffen. General Collins reist heute nach Salzburg weiter.
MAINZ. Der Kultusminister von Rheinland- Pfalz, Dr. Adolf Süsterhenn, hat sich am Mittwoch gegen das von der Rektorenkonferenz in Bonn seinerzeit verfügte Verbot des öffentlichen Farbentragens für Studenten ausgesprochen. Süsterhenn erklärte das Farbentragen der Studenten für einen Bestandteil der verfassungsrechtlich garantierten Vereinigungsfreiheit.
BONN. Die Zollinhaltserklärungen zu den über Berlin-O 17 geleiteten Kriegsgefangenenpaketen sind nach einer Mitteilung der Postverwaltung der Sowjetzone oft nicht ordnungsgemäß ausgefüllt. Allgemein gehaltene Inhaltsbezeichnungen wie Kleidung oder Lebensmittel seien unzureichend. Die Bestimmungen müssen genau beachtet werden, da die Pakete sonst zurückgehen.
BONN. Die Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat über die Wahl von 24 Richtern für den Bundesverfassungsgerichtshof stehen unmittelbar bevor. Für den Posten des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gilt zur Zeit als aussichtsreichster Anwärter Staatspräsident Dr. Gebhard Müller. Die Verhandlungen dürften bei der Wichtigkeit des Gegenstands längere Zeit dauern.
MÜLHEIM/RUHR. Das erste nach dem Kriege in Deutschland gebaute Segelflugzeug startete am Mittwoch auf dem Flughafengelände Essen-Mülheim zu mehreren Flügen. Die „Espenlaub“ wurde von ihrem Konstrukteur, dem Flugpionier Gottlob Espenlaub, geflogen. Espenlaub startete im Autoschlepp.
HAMBURG. Auf 20 Fischkuttern liefen 100 zur Zeit an der Nordseeküste lebende Helgoländer Fischer am Mittwochabend nach ihrer alten Heimatinsel aus, um erneut gegen die Benutzung der Insel als Bombenabwurfgebiet zu protestieren. Ein Sprecher der Gruppe teilte mit, daß man mit der „Invasion“ gleichzeitig weitere kommmunistische Versuche verhindern wolle, die Insel als Propagandaobjekt zu mißbrauchen. Darüber hinaus wolle man der „Ausplünderung der Insel“ durch Schrottsucher ein Ende bereiten.
EASINGTON (England). Die Zahl der Todesopfer der schweren Kohlenexplosion bei Easing- ton im Bergbaugebiet von Newcastle hat sich auf 16 erhöht. Ein Mitglied der Rettungsmannschaften ist in den gasgefüllten Schächten tödlich verunglückt. Noch immer sind etwa 70 Bergleute von der Außenwelt abgeschnitten. Es besteht kaum Aussicht auf ihre Rettung.
SAIGON. Der Sohn des französischen Oberkommandierenden in Indochina, Oberleutnant Bernard de Lattre de Tassigny, ist nach Mitteilung des französischen Hauptquartiers bei den Kämpfen in Nordindochina gefallen.
Umsaijs.euer 4 Piozen*
Einigung erzielt
BONN. Die Verhandlungen zwischen den Fachministern und den Wirtschaftsexperten der Bonner Koalitionsparteien haben jetzt zu dem Ergebnis geführt, daß die Umsatzsteuer nicht auf 4,5, sondern nur auf 4 Prozent erhöht werden soll. Die Sonderumsatzsteuer soll in Form einer „echten Luxussteuer“ erhoben werden. Gleichzeitig soll ein Notstandsprogramm zur Arbeitsbeschaffung mit den Geldern desArbeitslosenversicherungsstocks durchgeführt werden.
Von den geplanten neuen Steuersätzen und dem Fortfall der Zoll-, Einkommens- und Körperschaftssteuervergünstigungen erhoffen sich die Regierungsparteien die Deckung de* 3,7 Milliarden-Defizits im neuen Haushaltsplan, allerdings nur, wenn sich die Hoffnung des Finanzministers auf Senkung der Besatzungskosten erfüllt. An der Erhöhung der Sozialrenten um 25 Prozent und der Gehälter der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes um 20 Prozent halten die Regierungsparteien fest. Doch ist es noch offen, ob auch die Pensionen erhöht werden. Da* Kabinett wird sich mit den neuen Kompromissen in einer der nächsten Sitzungen befassen, um — so schnell es geht — zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen.
Für einen echten Föderalismus
Gegen „partikularistischen Egoismus“
DÜSSELDORF. Die Ministerpräsidenten von Bayern und Nordrhein-Westfalen, Dr. Han* E h a r d und Karl Arnold, nahmen auf einem Regierungsempfang in Düsseldorf gegen einen „partikularistischen Egoismus“ der Länder Stellung und sprachen sich für einen echten Föderalismus aus. „Eine gewisse Einflußnahme“ der westdeutschen Länder auf die Außenpolitik des Bundes über den Bundesrat sei durchaus vertretbar. Dies bedeute keine Einmischung in die Zuständigkeit der Bundesregierung, sondern vielmehr eine Förderung der Außenpolitik zugunsten des Volksganzen.
4000 Kandidaten in Franki eich
Nur 150 Frauen auf den Listen
PARIS. Nach der vom französischen Innenministerium veröffentlichten Übersicht haben sich insgesamt 4100 Kandidaten, darunter auffallenderweise nur 150 Frauen, als Kandidaten für die am 17. Juni neu zu wählende Nationalversammlung aufstellen lassen. Sie verteilen sich auf 16 Parteien bzw. Parteigruppen und erscheinen auf insgesamt 801 Wahllisten für die über 100 Wahlbezirke, in die Frankreich, Algerien und die überseeischen Gebiete eingeteilt sind. In das bisherige Parlament werden statt bisher 621 insgesamt 627 Abgeordnete einziehen. Von 26 300 000 Franzosen im wahlfähigen Alter werden etwa zwei Millionen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen können, da sie es versäumt haben, sich in die Wahllisten einzutragen.
Regierungsneubildung
Bleibt Koalition ÖVP-SPÖ bestehen?
WIEN. Die Demission und Neubildung der österreichischen Regierung nach dem Amtsantritt des neuen Bundespräsidenten Dr. h. c. Körner wird in unterrichteten politischen Kreisen WiSns nicht vor Ende Juni erwartet. Zurzeit ist noch völlig offen, ob das Wahlergebnis in grundsätzlichen Veränderungen der Regierungszusammensetzung seinen Niederschlag finden wird. Es wird jedoch angenommen, daß ÖVP und SPÖ an der bisherigen Koalition festhalten.
Die österreichische Volkspartei zeigt nach der Bundespräsidentenwahl das Bestreben, sich die Stimmen der Gleißner-Wähler auch in Zukunft zu erhalten. Die Parteileitung kündigte an, die ÖVP werde auch Reformen nicht scheuen, um sich des Vertrauens von mehr al» zwei Millionen Wähler würdig zu erweisen.— Das „Komitee der überparteilichen Einigung“, das im ersten Wahlgang Prof. Breitner al* Kandidaten unterstützte, hat nunmehr beschlossen, sich nicht aufzulösen.
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Der verschlossene MUND
Roman von Doris Eicke
^ Alle Hechte Verlagthaut Reutlingen
VI.
Langsamer, zögernder als anderswo wird es im Norden Frühling. Hier, wo das Blau des Himmels fahler, die Farben der Landschaft gedämpfter, die Vegetation karger ist, läßt er nicht spielerisch eine nur schlummernde Fülle wieder auferstehen, nein, hier wird der Frühling dem langen Winter abgetrotzt, und in scharfen Stürmen, die gewaltig vom Nordmeer daherbrausen, geboren. Was er an einem Tage gibt, das scheint er am anderen reuevoll wieder zurückzunehmen, kaum wagt die Sonne einen warmen Strahl, wirft er ihr Regenschauer ins Gesicht, und fröstelnd ducken sich zu früh zurüdegekehrte Vögel in das bergende Nest. Am Waldrand riecht es nach verborgenen Veilchen, und die Birken strecken die ersten hellen Spitzen fragend gegen den imgewissen Himmel aus.
Frühling! Zuerst spürt man ihn am Matterwerden der Glieder, dann im unruhiger pulsenden Blut, schon steht er im Kalender, und erst ganz zuletzt entfaltet er draußen den lange gehüteten Festschmuck, wie ein eitles Dimdlein, das sich zum Tanze schmückt.
Andreas Arbeitstage im Esplanade gehen zu Ende. Man schreibt den 15. April 1931, und jetzt gibt es kein Halten mehr. Die drei Jahre sind um! Andrea singt diese Worte in stets neuer Melodie, am Morgen und am Abend, sie singt sie mit der Kehle, im Herzen und ganz verschwiegen auch im Blut. Die drei Jahre sind um! Bald wird sie wieder eine Frau sein wie andere, einen Mann
haben, den sie liebt, ein Kind, das sie treu umsorgt. Leben und Lachen werden einziehen in die gleichen Räume, die so viel Tränen, so viel lichtlose Verweiflung gesehen haben. Bald wird der Dreiklang ihres Lebens wieder voll und tief ertönen: Detlev — Niels — Andrea.
Will Syamken ist wieder allein. Aus den beiden Tagen, die Ulricke bleiben wollte, waren zwei Wochen geworden, mit zerquälten, mit mühsam beherrschtem Grimm ertragenen Tagen und glühenden Nächten einer vergifteten, um ihre Seele bestohlenen Liebe, bis sie der Haß ihrer Ungleichheit wieder auseinandertrieb. Ulricke war auf ihr Gut gefahren, gesättigt und ihren Triumph genießend, Will war zurückgeblieben, voller Widerwillen gegen seine eigenen vier Wände, zerfahren und sich selber gram. Er hatte mit wechselnden Erfolg mehrmals versucht, Andrea zu sprechen, er hatte ein fast gieriges Verlangen nach ihrer anständigen, klaren Persönlichkeit, als könne er sich an ihrer Gegenwart reinwaschen von allen Schlacken dieser Wochen. Andrea aber zeigte sich scheu und gehemmt, der Strom von freundschaftlicher Wärme, der sie an jenem Nachmittag verbunden, war geheimnisvoll unterbrochen; statt miteinander zu sprechen, machten sie Konversation. Syamken wußte ganz genau, was das bedeutete: sie hatte ihn gewogen und. zu leicht befunden.
Am 16. April fuhr Andrea nach Hause. Am Dobben wurden die Bäume schon grün. Im Vorgärtchen blühten Leberblümchen zwischen Tuffsteinen, und der Forsythienstrauch hatte seine leuchtend gelben Sternchen aufgesetzt. Da floh Andrea im Übermaß ihres Empfindens die Treppe zu ihrer kleinen Wohnung hinauf, warf sich in einen Sessel und weinte vor Glück.
Ruhiger geworden, öffnete sie dann die Fenster und ließ die rauhe, würzige Luft zusammen mit dem Himmelslicht einströmen, dann wütete sie ein paar Stunden mit aller
lei Putzgeräten herum, bis alles vor Sauberkeit blitzte. Andächtig bezog sie die beiden Betten mit blütenweißem, kühlen Leinen und richtete auch Detlevs Bettchen neu. Mittag war längst vorüber, als sie sich hastig die Zeit nahm, ein frugales Mahl zu richten. Sie wußte ja nicht, wann Niels wiederkam, ob er sie benachrichtigte oder jählings überfiel, und sie wollte bereit sein. Zuletzt ging sie noch an die Ecke der Straße und kaufte einen großen Strauß Osterblumen, mit stäubenden Kätzchen dazwischen, den stellte sie auf den Tisch. Zufrieden überschaute sie ihr Werk.
Am anderen Tag holte sie Detlev ab. Wäh-" rend sie seinen Koffer packte und ihre Schwiegermutter ihr mit heimlichen Tränen all die kleinen Hosen und Jäckchen herbeitrug, die seine Ausrüstung ausmachten, versuchte sie vergeblich, ihr Herz gegen den Kummer der alten Frau zu verhärten. Schließlich war Detlev ihr Kind, und die Großmutter hatte ihn lange genug für sich allein gehabt. Jedesmal aber, wenn ihr Auge den strammen, kleinen Jungen streifte, der so gesund und vorbildlich gepflegt aussah, regte sich ihr Gewissen, und als sie den Koffer schloß und die alte Frau mit gefalteten Händen kummervoll danebenstand, schmolz das künstliche Eis in ihrer Brust und sie nahm sie herzlich in die Arme.
„Ich danke Dir für alles, was Du für Detlev getan hast, liebe Mutter! Er sieht prächtig aus, Niels wird seine helle Freude an ihm haben.“
Da lächelte die alte Frau unter Tränen.
„Ach Gott, der Junge, wäre er nur schon wieder da!“
„Den ersten Tag mußt Du ihn mir lassen, aber dann schick ich ihn Dir.“
„Das mach man so,> min Deem.“
Detlev brüllte aus Leibeskräften, als seine. Oma Zurückbleiben wollte, und mobilisierte die ganze stille Neustädter Straße mit seinem Geschrei. Er verband zwar mit seiner Mutter
die Vorstellung von guten Dingen, die sia mitbrachte, aber mit ihr gehen und seine Oma allein lassen, das wollte er nicht. Andrea mußte ihn schließlich dadurch überlisten, daß sie das müde geweinte und unvermittelt in tiefen Schlaf versunkene Häufchen Elenid behutsam in den Wagen bettete, den Koffer quer darüberlegte und den ganzen Weg zu Fuß zurückging.
Die alte Frau stand noch lange am Fenster, bis die Schatten der Abenddämmerung da* Zimmer hinter ihr füllten und sie seine Leere nicht mehr sah. Gottergeben räumte sie den bunten Becher, den kleinen tiefen . Teller mit den Bärenkindem, Detlevs Löffel und Schieber auf die Seite, bis er einmal wiederkam, dann verscheuchte sie entschlossen die lähmende Traurigkeit. Sie hatte den Kleinen Sechs Monate lang umsorgen, sein munteres Geplauder hören und sein weiche* . Gesichtchen ah dem ihren fühlen dürfen. Damit hatte ihr das Schicksal ein unerwartete* Geschenk gemacht und ihr die Wartezeit auf ihren Sohn verkürzen helfen. Jetzt wollte sie ein wenig ausruhen bis er kam, denn ein so < lebhaftes kleines Kind brachte nicht nur Freude, sondern auch Müh und Plage. Sie war nun allein und konnte ihre Kräfte sammeln für das große Ereignis, ihren einzigen Sohn nach drei Jahren wieder in die Arme zu schließen.
Mehr noch als die Menschen in den Steinwüsten ihrer Städte hatte Niels Merck da* Werden des Frühlings gespürt, wenn er zweimal am Tage in langer, gemächlicher Wanderung die Wälder durchstreifte. Mehrmals hatte er schon den Kuckuck rufen hören. Hier in der Natur war Mercks Antlitz voll Frieden und jede seiner Bewegungen voll neuer Kraft. Seine hohe Gestalt war schmal geblieben, doch ohne die krankhafte Magerkeit I seiner russischen Jahre, seine Gesichtsfarbe war frisch, von gesunder, leichter Bräune, wie sie die Märzsonne verleiht.
(Fortsetzung folgt)