NUMMER 83

FREITAG, 1. JUNI 1951

Verständigung bleibt das Ziel

Saardebatte des Bundestags: Saarbevölkerung wird immer deutsch bleiben

Von unserer Bonner Redaktion

BONN. Der Bundestag nahm am Mittwoch in einer sechsstündigen Debatte zum Saarpro­blem Stellung. In seiner Regierungserklärung stellte Bundeskanzler Dr. Adenauer fest: Auch nach dem Schumanbrief und dem folgen­den Verbot der DPS an der Saar wird die Re­gierung an ihrer Politik der Integration Euro­pas festhalten. Sie wird gleichzeitig in Ver­handlungen mit der französischen Regierung über die Hohe Kommission und unter Ein­schaltung des Straßburger Europarats ihrer Forderung auf Wiederherstellung der demo­kratischen Freiheit an der Saar Nachdrude verleihen. Zu einer Störung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und des Aufbaus Westeuropas dürfe die Saarfrage nicht werden. Von diesem Grundsatz werde sich die Bundesregierung am allerwenigsten durch Ministerpräsident Hoffmann aus Saarbrücken abbringen lassen. In einer Ent­schließung billigte der Bundestag gegen die Stimmen der KPD und bei Stimmenthaltung der SPD die Regierungspolitik in der Saar­frage. Ein Zentrumsantrag, der einen Volks­entscheid an der Saar unter Einschaltung der Vereinten Nationen zum Ziele hat, wurde dem Bundestagsausschuß für Auswärtiges über­wiesen.

In seiner Rede, die der Bundeskanzler vor vollbesetztem Hause und überfüllten Tribünen hielt, erklärte Adenauer weiter:Die Saar ist von je deutsches Land gewesen und ihre Be­völkerung wird für immer deutsch bleiben. Die Regierung lehne jeden Versuch ab, an der Saar vollendete Tatsachen zu schaffen, die ei­nem Friedensvertrag oder einem anderen Ver­trag zwischen Deutschland und Frankreich vorgreifen würden.

Ob das Saargebiet von Frankreich annek­tiert oder zu einem zweiten Luxemburg ge­macht werde, sei vom deutschen Standpunkt aus völlig gleichgültig. Immer würde dies eine Losreißung von Deutschland bedeuten und die Saarpolitiker, die sich für die Lösung einsetz­ten, würden in deutschen Augen als Separati­sten gelten.

Nach der Bekanntgabe zahlreicher Doku­mente, aus denen die Verletzung der demo­kratischen Freiheiten an der Saar hervorgeht, erklärte der Bundeskanzler, er hoffe,daß die französische Regierung ihren Einfluß in Saar­brücken wiederum geltend machen wird, um einen bedauerlichen Mißgriff (gemeint ist das Verbot der DPS) gutzumachen. Wenn die Bundesregierung auf ihrem bisher eingeschla­genen Weg fortfahre und ruhige Nerven be­wahre, könnte es mit einer ebenso ruhig den­kenden französischen Regierung auch schon vor einem Friedensvertrag zu einer Einigung in der Saarfrage kommen.Die endgültige Lö­sung kann nur gesichert werden, wenn die Saarbevölkerung zuvor durch eine gründliche Erörterung Gelegenheit gehabt hat, sich über ihre eigenen Wünsche klar zu werden. Darum müßte der Saarbevölkerung der Weg nach Bonn ebenso offen stehen wie der nach Paris. Es gebe keine saarländischen Staatsangehöri­gen, sondern In den Augen der Bundesregie­rung nur Deutsche, die an der Saar lebten.

Abschließend erläuterte der Bundeskanzler die Note, die der Hohen Kommission am 29.

Ein weiterer Aufschub ?

Magee legt Berufung ein

WASHINGTON. Der amerikanische Bundes­richter M Bastian vom Bezirksgerichtshof von Columbia hat die Zivilklage des amerikani­schen Rechtsanwalts der sieben Landsberger Todeskandidaten, durch die die Hinrichtung der Verurteilten verhindert werden sollte, ab­gelehnt. Richter Bastian erklärte, daß der amerikanische Rechtsanwalt Magee bis zum 5. Juni gegen diese Entscheidung beim Court of Appeals Berufung einlegen könnte. Der bis zum kommenden Dienstag verfügte Hinrich­tungsaufschub könne jedoch unter keinen Um­ständen verlängert werden.

Mai überreicht worden war und in der die Regierungen der Westmächte an ihre Verant­wortung erinnert werden, die sie für die Ent­wicklung an der Saar gemeinsam tragen. Die letzten Vorfälle im Saargebiet machten ein Eingreifen der Alliierten notwendig.

Die SPD forderte in einer Erklärung, daß vor der Bereinigung der Situation im Saar­gebiet weder der Schumanplan noch ein ande­res internationales Abkommen mit Frankreich verwirklicht werden dürfe. Die Regierung habe nicht zu erkennen gegeben, daß sie der französischen Saarpolitik aktiver als bisher entgegentreten werde. Als Sprecher der SPD bezeichnete es Prof. Karl Schmid als Ziel der französischen Außenpolitik, die Saar schon vor einem Friedensvertrag von Deutschland loszureißen. Der Eintritt der Bundesrepublik in den Europarat und die Unterzeichnung des Schumanplanes hätten Paris in der Saarpolitik nur ermuntert.

Die von der Regierung eingelegte Rechtsver­wahrung hätte nur dann einen Sinn, wenn die praktische Politik dem vertretenen Rechts­

standpunkt entspreche. An der Saar handle es sich um 900 000 Menschen, denen man es ver­wehren wolle, sich zu ihrem Volke zu beken­nen. Nur darum sei auch die DPS verboten worden.

Krauß, Würmeling (CDU/CSU), Maier (DVP), Ewers (DP) und See los (Bayern- Partei) betonten dagegen ihre Billigung der Regierungspolitik. Wenn auch ihre Äußerun­gen sich mehr gegen Paris richteten, als es der Bundeskanzler getan hatte, stellten doch auch diese Sprecher fest, daß die deutsch­französische Verständigung das Ziel der deut­schen Politik bleiben müsse. Im Verlauf der Debatte, in der es ja nicht an Worten wie französischer Chauvinismus undLandes­verräter Hoffmann fehlte, wurde die ganze Entwicklung an der Saar von 1945 bis zum Verbot der DPS immer wieder herausgestellt. Das Thema Schumanplan ließen die meisten Sprecher im Hintergrund. Aber weder Regie­rung noch Opposition ließen einen Zweifel daran zu, daß bei der Einbringung des Schu- manplans im Bundestag die Saarfrage erneut eine Rolle spielen wird. Nach Adenauers Wor­ten wird sich bis dahin zeigen müssen,ob der durch das Verbot der DPS ohne unsere Schuld aufgeworfene Konflikt bereinigt wer­den kann. Wir werden uns auf allen zur Ver­fügung stehenden Wegen darum bemühen.

Regierungspartei erfolgreich

Die Wahlen in Norditalien ROM. Die norditalienischen Provinzial- und Gemeindewahlen am Sonntag und Montag ha­ben der Christlich-demokratischen Partei des Ministerpräsidenten de Gasperi und ihren Koalitionspartnern einen entscheidenden Sieg gebracht. Nach Angaben des Innenministe­riums schlugen die Christlichen Demokraten die Kommunisten etwa im Verhältnis von 2:1. Bei den Provinzialratswahlen konnte die Re­gierungspartei insgesamt 3 487 000 Stimmen (41,1 Prozent) auf sich vereinigen. Die Kom­munisten erhielten 1 855 000 (21,9 Prozent) und die den Kommunisten nahestehende Sozialisti­sche Partei 1 132 000 Stimmen (13,4 Prozent). Die antikommunistischen Sozialisten, die auf seiten der Regierungspartei stehen, verzeich- neten 7,7 Prozent, die neofaschistische Soziale

Bewegung 4 Prozent der abgegebenen Stim­men.

Auch in den Städten und Gemeinden, deren Wahlergebnisse noch unvollständig sind, schei­nen die Kommunisten viel an Boden verloren zu haben. Besonders auffällig sind die Ver­luste der Kommunisten in den Gemeinden mit weniger als 3000 Einwohnern. Von den Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern, aus denen die Ergebnisse vorliegen, werden 103 eine Christlich-Demokratische und 48 eine kommunistische Mehrheit haben. Die Wahl­beteiligung war mit 90 Prozent außerordent­lich hoch.

Von den 28 Provinzhauptstädten sind 22 schon definitiv an die Regierungsparteien ge­fallen; nur in fünf siegten die Kommunisten. Bisher war das Verhältnis in den größeren Städten umgekehrt 11:17 gewesen.

Kleine Weltchronik

TÜBINGEN. Die FDP-Fraktion des Landtags von Württemberg-Hohenzollem hat einen ein­stimmig beschlossenen Antrag eingebracht, in dem sie die Staatsregierung ersucht,bei der Bundesregierung im Namen der Menschlichkeit eindringlich dahin vorstellig zu werden, daß der wegen Kriegsverbrechen unter unerträglichen Bedingungen im interalliierten Gefängnis von Spandau in Haft gehaltene Konstantin Freiherr von Neurath, der im 79. Lebensjahr steht, als­bald freigelassen wird.

STUTTGART. 94,2 Prozent der insgesamt 650 000 in Gewerkschaften organisierten Ange­stellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes im Bundesgebiet haben sich b%5 der Urabstim­mung derGewerkschaften öffentliche Dienste, Transport und Verkehr für die Gewerkschafts­forderung auf eine Gehalts- und Lohnerhöhung ausgesprochen.

FRANKFURT. General J. Lawton Collins, Chef des Generalstabes der amerikanischen Armee, ist aus Paris zu einem zweitägigen Besuch in der amerikanischen Besatzungszone eingetroffen. General Collins reist heute nach Salzburg weiter.

MAINZ. Der Kultusminister von Rheinland- Pfalz, Dr. Adolf Süsterhenn, hat sich am Mitt­woch gegen das von der Rektorenkonferenz in Bonn seinerzeit verfügte Verbot des öffentlichen Farbentragens für Studenten ausgesprochen. Sü­sterhenn erklärte das Farbentragen der Studen­ten für einen Bestandteil der verfassungsrecht­lich garantierten Vereinigungsfreiheit.

BONN. Die Zollinhaltserklärungen zu den über Berlin-O 17 geleiteten Kriegsgefangenenpaketen sind nach einer Mitteilung der Postverwaltung der Sowjetzone oft nicht ordnungsgemäß ausge­füllt. Allgemein gehaltene Inhaltsbezeichnungen wie Kleidung oder Lebensmittel seien unzurei­chend. Die Bestimmungen müssen genau beach­tet werden, da die Pakete sonst zurückgehen.

BONN. Die Verhandlungen zwischen Bundes­tag und Bundesrat über die Wahl von 24 Rich­tern für den Bundesverfassungsgerichtshof ste­hen unmittelbar bevor. Für den Posten des Prä­sidenten des Bundesverfassungsgerichts gilt zur Zeit als aussichtsreichster Anwärter Staatspräsi­dent Dr. Gebhard Müller. Die Verhandlungen dürften bei der Wichtigkeit des Gegenstands längere Zeit dauern.

MÜLHEIM/RUHR. Das erste nach dem Kriege in Deutschland gebaute Segelflugzeug startete am Mittwoch auf dem Flughafengelände Essen-Mül­heim zu mehreren Flügen. DieEspenlaub wur­de von ihrem Konstrukteur, dem Flugpionier Gottlob Espenlaub, geflogen. Espenlaub startete im Autoschlepp.

HAMBURG. Auf 20 Fischkuttern liefen 100 zur Zeit an der Nordseeküste lebende Helgoländer Fischer am Mittwochabend nach ihrer alten Hei­matinsel aus, um erneut gegen die Benutzung der Insel als Bombenabwurfgebiet zu protestie­ren. Ein Sprecher der Gruppe teilte mit, daß man mit derInvasion gleichzeitig weitere kommmunistische Versuche verhindern wolle, die Insel als Propagandaobjekt zu mißbrauchen. Darüber hinaus wolle man derAusplünderung der Insel durch Schrottsucher ein Ende bereiten.

EASINGTON (England). Die Zahl der Todes­opfer der schweren Kohlenexplosion bei Easing- ton im Bergbaugebiet von Newcastle hat sich auf 16 erhöht. Ein Mitglied der Rettungsmann­schaften ist in den gasgefüllten Schächten tödlich verunglückt. Noch immer sind etwa 70 Berg­leute von der Außenwelt abgeschnitten. Es be­steht kaum Aussicht auf ihre Rettung.

SAIGON. Der Sohn des französischen Ober­kommandierenden in Indochina, Oberleutnant Bernard de Lattre de Tassigny, ist nach Mittei­lung des französischen Hauptquartiers bei den Kämpfen in Nordindochina gefallen.

Umsaijs.euer 4 Piozen*

Einigung erzielt

BONN. Die Verhandlungen zwischen den Fachministern und den Wirtschaftsexperten der Bonner Koalitionsparteien haben jetzt zu dem Ergebnis geführt, daß die Umsatzsteuer nicht auf 4,5, sondern nur auf 4 Prozent er­höht werden soll. Die Sonderumsatzsteuer soll in Form einerechten Luxussteuer erhoben werden. Gleichzeitig soll ein Notstandspro­gramm zur Arbeitsbeschaffung mit den Gel­dern desArbeitslosenversicherungsstocks durch­geführt werden.

Von den geplanten neuen Steuersätzen und dem Fortfall der Zoll-, Einkommens- und Körperschaftssteuervergünstigungen erhoffen sich die Regierungsparteien die Deckung de* 3,7 Milliarden-Defizits im neuen Haushalts­plan, allerdings nur, wenn sich die Hoffnung des Finanzministers auf Senkung der Be­satzungskosten erfüllt. An der Erhöhung der Sozialrenten um 25 Prozent und der Gehälter der Beamten und Angestellten des öffent­lichen Dienstes um 20 Prozent halten die Re­gierungsparteien fest. Doch ist es noch offen, ob auch die Pensionen erhöht werden. Da* Kabinett wird sich mit den neuen Kompro­missen in einer der nächsten Sitzungen be­fassen, um so schnell es geht zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen.

Für einen echten Föderalismus

Gegenpartikularistischen Egoismus

DÜSSELDORF. Die Ministerpräsidenten von Bayern und Nordrhein-Westfalen, Dr. Han* E h a r d und Karl Arnold, nahmen auf einem Regierungsempfang in Düsseldorf gegen einenpartikularistischen Egoismus der Län­der Stellung und sprachen sich für einen ech­ten Föderalismus aus.Eine gewisse Einfluß­nahme der westdeutschen Länder auf die Au­ßenpolitik des Bundes über den Bundesrat sei durchaus vertretbar. Dies bedeute keine Ein­mischung in die Zuständigkeit der Bundes­regierung, sondern vielmehr eine Förderung der Außenpolitik zugunsten des Volksganzen.

4000 Kandidaten in Franki eich

Nur 150 Frauen auf den Listen

PARIS. Nach der vom französischen Innen­ministerium veröffentlichten Übersicht haben sich insgesamt 4100 Kandidaten, darunter auf­fallenderweise nur 150 Frauen, als Kandida­ten für die am 17. Juni neu zu wählende Na­tionalversammlung aufstellen lassen. Sie ver­teilen sich auf 16 Parteien bzw. Parteigruppen und erscheinen auf insgesamt 801 Wahllisten für die über 100 Wahlbezirke, in die Frank­reich, Algerien und die überseeischen Gebiete eingeteilt sind. In das bisherige Parlament werden statt bisher 621 insgesamt 627 Abge­ordnete einziehen. Von 26 300 000 Franzosen im wahlfähigen Alter werden etwa zwei Mil­lionen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen können, da sie es versäumt haben, sich in die Wahllisten einzutragen.

Regierungsneubildung

Bleibt Koalition ÖVP-SPÖ bestehen?

WIEN. Die Demission und Neubildung der österreichischen Regierung nach dem Amtsan­tritt des neuen Bundespräsidenten Dr. h. c. Körner wird in unterrichteten politischen Kreisen WiSns nicht vor Ende Juni erwar­tet. Zurzeit ist noch völlig offen, ob das Wahl­ergebnis in grundsätzlichen Veränderungen der Regierungszusammensetzung seinen Nie­derschlag finden wird. Es wird jedoch ange­nommen, daß ÖVP und SPÖ an der bisherigen Koalition festhalten.

Die österreichische Volkspartei zeigt nach der Bundespräsidentenwahl das Bestreben, sich die Stimmen der Gleißner-Wähler auch in Zukunft zu erhalten. Die Parteileitung kün­digte an, die ÖVP werde auch Reformen nicht scheuen, um sich des Vertrauens von mehr al» zwei Millionen Wähler würdig zu erweisen. DasKomitee der überparteilichen Einigung, das im ersten Wahlgang Prof. Breitner al* Kandidaten unterstützte, hat nunmehr be­schlossen, sich nicht aufzulösen.

i

Ä

Der verschlossene MUND

Roman von Doris Eicke

^ Alle Hechte Verlagthaut Reutlingen

VI.

Langsamer, zögernder als anderswo wird es im Norden Frühling. Hier, wo das Blau des Himmels fahler, die Farben der Land­schaft gedämpfter, die Vegetation karger ist, läßt er nicht spielerisch eine nur schlummernde Fülle wieder auferstehen, nein, hier wird der Frühling dem langen Winter abge­trotzt, und in scharfen Stürmen, die gewaltig vom Nordmeer daherbrausen, geboren. Was er an einem Tage gibt, das scheint er am anderen reuevoll wieder zurückzunehmen, kaum wagt die Sonne einen warmen Strahl, wirft er ihr Regenschauer ins Gesicht, und fröstelnd ducken sich zu früh zurüdege­kehrte Vögel in das bergende Nest. Am Wald­rand riecht es nach verborgenen Veilchen, und die Birken strecken die ersten hellen Spitzen fragend gegen den imgewissen Him­mel aus.

Frühling! Zuerst spürt man ihn am Mat­terwerden der Glieder, dann im unruhiger pulsenden Blut, schon steht er im Kalender, und erst ganz zuletzt entfaltet er draußen den lange gehüteten Festschmuck, wie ein eitles Dimdlein, das sich zum Tanze schmückt.

Andreas Arbeitstage im Esplanade gehen zu Ende. Man schreibt den 15. April 1931, und jetzt gibt es kein Halten mehr. Die drei Jahre sind um! Andrea singt diese Worte in stets neuer Melodie, am Morgen und am Abend, sie singt sie mit der Kehle, im Herzen und ganz verschwiegen auch im Blut. Die drei Jahre sind um! Bald wird sie wie­der eine Frau sein wie andere, einen Mann

haben, den sie liebt, ein Kind, das sie treu umsorgt. Leben und Lachen werden ein­ziehen in die gleichen Räume, die so viel Tränen, so viel lichtlose Verweiflung gesehen haben. Bald wird der Dreiklang ihres Le­bens wieder voll und tief ertönen: Detlev Niels Andrea.

Will Syamken ist wieder allein. Aus den beiden Tagen, die Ulricke bleiben wollte, wa­ren zwei Wochen geworden, mit zerquälten, mit mühsam beherrschtem Grimm ertragenen Tagen und glühenden Nächten einer vergif­teten, um ihre Seele bestohlenen Liebe, bis sie der Haß ihrer Ungleichheit wieder aus­einandertrieb. Ulricke war auf ihr Gut ge­fahren, gesättigt und ihren Triumph genie­ßend, Will war zurückgeblieben, voller Wi­derwillen gegen seine eigenen vier Wände, zerfahren und sich selber gram. Er hatte mit wechselnden Erfolg mehrmals versucht, An­drea zu sprechen, er hatte ein fast gieriges Verlangen nach ihrer anständigen, klaren Persönlichkeit, als könne er sich an ihrer Ge­genwart reinwaschen von allen Schlacken dieser Wochen. Andrea aber zeigte sich scheu und gehemmt, der Strom von freundschaft­licher Wärme, der sie an jenem Nachmittag verbunden, war geheimnisvoll unterbrochen; statt miteinander zu sprechen, machten sie Konversation. Syamken wußte ganz genau, was das bedeutete: sie hatte ihn gewogen und. zu leicht befunden.

Am 16. April fuhr Andrea nach Hause. Am Dobben wurden die Bäume schon grün. Im Vorgärtchen blühten Leberblümchen zwischen Tuffsteinen, und der Forsythienstrauch hatte seine leuchtend gelben Sternchen aufgesetzt. Da floh Andrea im Übermaß ihres Empfin­dens die Treppe zu ihrer kleinen Wohnung hinauf, warf sich in einen Sessel und weinte vor Glück.

Ruhiger geworden, öffnete sie dann die Fenster und ließ die rauhe, würzige Luft zusammen mit dem Himmelslicht einströmen, dann wütete sie ein paar Stunden mit aller­

lei Putzgeräten herum, bis alles vor Sauber­keit blitzte. Andächtig bezog sie die beiden Betten mit blütenweißem, kühlen Leinen und richtete auch Detlevs Bettchen neu. Mit­tag war längst vorüber, als sie sich hastig die Zeit nahm, ein frugales Mahl zu richten. Sie wußte ja nicht, wann Niels wiederkam, ob er sie benachrichtigte oder jählings über­fiel, und sie wollte bereit sein. Zuletzt ging sie noch an die Ecke der Straße und kaufte einen großen Strauß Osterblumen, mit stäu­benden Kätzchen dazwischen, den stellte sie auf den Tisch. Zufrieden überschaute sie ihr Werk.

Am anderen Tag holte sie Detlev ab. Wäh-" rend sie seinen Koffer packte und ihre Schwiegermutter ihr mit heimlichen Tränen all die kleinen Hosen und Jäckchen herbei­trug, die seine Ausrüstung ausmachten, ver­suchte sie vergeblich, ihr Herz gegen den Kummer der alten Frau zu verhärten. Schließ­lich war Detlev ihr Kind, und die Großmut­ter hatte ihn lange genug für sich allein ge­habt. Jedesmal aber, wenn ihr Auge den strammen, kleinen Jungen streifte, der so gesund und vorbildlich gepflegt aussah, regte sich ihr Gewissen, und als sie den Koffer schloß und die alte Frau mit gefalteten Hän­den kummervoll danebenstand, schmolz das künstliche Eis in ihrer Brust und sie nahm sie herzlich in die Arme.

Ich danke Dir für alles, was Du für Det­lev getan hast, liebe Mutter! Er sieht präch­tig aus, Niels wird seine helle Freude an ihm haben.

Da lächelte die alte Frau unter Tränen.

Ach Gott, der Junge, wäre er nur schon wieder da!

Den ersten Tag mußt Du ihn mir lassen, aber dann schick ich ihn Dir.

Das mach man so,> min Deem.

Detlev brüllte aus Leibeskräften, als seine. Oma Zurückbleiben wollte, und mobilisierte die ganze stille Neustädter Straße mit seinem Geschrei. Er verband zwar mit seiner Mutter

die Vorstellung von guten Dingen, die sia mitbrachte, aber mit ihr gehen und seine Oma allein lassen, das wollte er nicht. Andrea mußte ihn schließlich dadurch überlisten, daß sie das müde geweinte und unvermittelt in tiefen Schlaf versunkene Häufchen Elenid behutsam in den Wagen bettete, den Koffer quer darüberlegte und den ganzen Weg zu Fuß zurückging.

Die alte Frau stand noch lange am Fenster, bis die Schatten der Abenddämmerung da* Zimmer hinter ihr füllten und sie seine Leere nicht mehr sah. Gottergeben räumte sie den bunten Becher, den kleinen tiefen . Teller mit den Bärenkindem, Detlevs Löf­fel und Schieber auf die Seite, bis er einmal wiederkam, dann verscheuchte sie entschlos­sen die lähmende Traurigkeit. Sie hatte den Kleinen Sechs Monate lang umsorgen, sein munteres Geplauder hören und sein weiche* . Gesichtchen ah dem ihren fühlen dürfen. Da­mit hatte ihr das Schicksal ein unerwartete* Geschenk gemacht und ihr die Wartezeit auf ihren Sohn verkürzen helfen. Jetzt wollte sie ein wenig ausruhen bis er kam, denn ein so < lebhaftes kleines Kind brachte nicht nur Freude, sondern auch Müh und Plage. Sie war nun allein und konnte ihre Kräfte sam­meln für das große Ereignis, ihren einzigen Sohn nach drei Jahren wieder in die Arme zu schließen.

Mehr noch als die Menschen in den Stein­wüsten ihrer Städte hatte Niels Merck da* Werden des Frühlings gespürt, wenn er zwei­mal am Tage in langer, gemächlicher Wan­derung die Wälder durchstreifte. Mehrmals hatte er schon den Kuckuck rufen hören. Hier in der Natur war Mercks Antlitz voll Frie­den und jede seiner Bewegungen voll neuer Kraft. Seine hohe Gestalt war schmal ge­blieben, doch ohne die krankhafte Magerkeit I seiner russischen Jahre, seine Gesichtsfarbe war frisch, von gesunder, leichter Bräune, wie sie die Märzsonne verleiht.

(Fortsetzung folgt)