NUMMER 82

MITTWOCH, 3 0. MAI 1951

Bemerkungen zum Tage

Was für Japan recht ist. . .

jk. Jede Ausfuhr von Waren nach der Chi­nesischen Volksrepublik bedarf ab 1. Juni der vorherigen Genehmigung durch die zentrale Genehmigungsstelle. So bestimmt ein Erlaß des Bundeswirtschaftsministeriums. Damit hat die Bundesregierung einerEmpfehlung der UN entsprochen. Wer mag sonst noch dieser Empfehlung Folge geleistet haben? Wahr­scheinlich nicht viele UN-Mitgliedstaaten. Wenn Truman auch gesagt hat, amerikanische Dollarhilfe würde nicht nach jenen Ländern fließen, die abseits ständen, so bleibt doch zu bedenken, daß nicht alle Länder Empfänger von Dollarhilfe sind.

Die Bundesrepublik jedoch muß auf Dollar­hilfe reflektieren. Am direkten Handel mit Rotchina ist sie nicht so sehr interessiert als am übrigen Osthandel. Hier verlaufen viele wichtige Lebenslinien ihrer Außenhandelsbe­ziehungen. Nach einem Bericht des USA-Han- delsministeriums hat der gesamte Ostexport Westeuropas im Jahre 1950 nicht weniger als 1804 Millionen DM betragen; die Bundesrepu­blik war daran aber nur mit 246 Millionen DM oder 13,6 Prozent beteiligt. Eine schmerz­liche Disproportionalität.

Die Kontrollinstrumente der Besatzungs­mächte haben offenbar gut funktioniert, und wir selbst haben es an unserer Devisenbilanz gemerkt. Das Londoner BlattObserver ver­gleicht unsere Lage im Ost-Westhandel mit der Situation Hongkongs und Japans.Es sollte klargemacht werden, so heißt es dort, daß in einem Land wie Deutschland oder in einem Hafen wie Hongkong, wo die kommu­nistische Grenze eingespielte Handelsgrenzen überschneidet, die Überwachung allen lau­fenden Handels eine ungeheuer schwierige Aufgabe ist. Vielleicht kann der (amerika­nische) Kongreß wie durch das Beispiel Ja­pan davon überzeugt werden, daß einiger zweifelhafter Handel mit kommunistischen Ländern unvermeidbar ist; in Japan haben die amerikanischen Besatzungsbehörden kürz­lich bekanntgegeben, daß die Ausfuhr von Ei­sen- und Stahlwaren nach China nicht be­schnitten werden soll, weil die beiden Natio­nen ein historisches Handelssystem haben und die japanische Wirtschaft geschädigt würde, falls man den Handel abschneiden sollte.

Eine Stimme der Vernunft. Wir haben ihr nur hinzuzufügen, daß heute die Wirtschaft nicht weniger unser Schicksal ist als die Po­litik. Gute Wirtschaftsbeziehungen haben be­stehende Spannungen nie verschärft, aber meist gemildert. Abgesehen davon, daß durch die Behinderung des deutschen Ost-Westhan­dels die deutsche Wirtschaft ebenfalls geschä­digt wird und daß für die Bundesrepublik billig sein sollte, was für Japan recht ist.

TibetsBefreiung ratifiziert

Jetzt einBundesstaat Rotchinas

PEKING. Die seit einem Jahr von Peking betriebene Angliederung Tibets an das kom­munistische China wurde jetzt mit einem Ab­kommen besiegelt, das nach einmonatigen Ver­handlungen zwischen Vertretern der zentra­len Volksregierung Chinas und der tibeta­nischenRegional-Regierung in Peking zu­stande kam. Mit der Unterzeichnung des Ver­trags am 23. Mai ist Tibet ein militärischer Bezirk Rotchinas unter dem Befehl eines kom­munistischen Generals geworden. Tibet er­hält zwar regionale Autonomie, die Führung auswärtiger Angelegenheiten Tibets wurde jedoch in die Hände Pekings gelegt.

Maßgebende politische Kreise in Neu-Delhi erklärten zu dem Abkommen, es enthalte ziemlich harte Bedingungen für die Tibeta­ner und lasse noch viele Fragen offen. Es wird besonders vermerkt, daß der Dalai-Lama, der seit Generationen die Würde des geistlichen Oberhaupts Tibets in sich vereinigt, jetzt nur noch zeitliche Gewalt ausüben darf und die nach tibetanischer Auffassung höher einge­schätzte geistliche Würde seinem traditionel­len Widersacher, dem Pantschen-Lama abtre­ten mußte.

Nach dem Wahlsieg Körners

Änderungen der innenpolitischen Konstellation Österreichs

Von unserem E. B.-Österreich-Korrespondenten

WIEN. Mit 49,7 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde am Sonntag, wie bereits ge­meldet, der sozialistische Bürgermeister von Wien,Generala.D.Dr.h.c. Theodor Körner, im zweiten Wahlgang zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt. Das Ergebnis war vor der Wahl zwar in den Bereich der Möglichkeit gezogen, ein Sieg Dr. Gleiß- n e r s aber für wahrscheinlicher gehalten worden. Die Entscheidung brachten die ehe­maligen Breitner-Wähler, die zu über zwei Drittel sich entweder für Dr. Körner ent­schieden oder weiße Stimmzettel abgaben. Die Zahl der ungültigen Stimmen rund 188 000 entspricht etwa den Breitner-Wählem in Wien und Niederösterreich, wo der Verein der Unabhängigen (VdU), entgegen den Parolen der Parteileitung das Stichwort ausgegeben hatten, weiße Stimmzettel abzugeben. Diese 188 000 Stimmen, zu den 2 004 290 Stimmen Dr. Gleißners dazugerechnet, hätten diesem eine Mehrheit von rund 20 000 Stimmen ge­bracht.

Es zeigte sich, daß das Mißtrauen in die Parteileitung der Volkspartei in den Kreisen der nicht zu ihr gehörigen Bürgerlichen zu stark war, um sich in letzter Minute umstim­men zu lassen. Als Reaktion auf den Druck der letzten Jahre scheint das Bedürfnis dieser Wählerschicht, der Volkspartei dafür eins aus­zuwischen, die stärkste Triebfeder gewesen zu sein. Die Volkspartei selbst hatte allerdings nur vereinzelt in Oberösterreich, der Steier­mark und Salzburg etwas getan, um einen künftigen Kurswechsel glaubhaft zu machen. Im übrigen beharrte sie auf einer kompromiß­losen Ablehnung der andersdenkenden Bür­gerlichen mit dem am Sonntag sichtbaren Erfolg.

Die Folgen des Wahlsieges des sozialisti­schen Kandidaten sind weittragend. Zunächst bedeutet er eine weitere Stärkung der sozia­listischen Stellung. Der Kampf um die ver­staatlichten Betriebe, der das Verhältnis der Koalitionspartner in letzter Zeit trübte, dürfte damit zunächst für die Sozialisten entschieden sein. Die persönlichen Angriffe zwischen den

beiden Regierungsparteien während des Wahlkampfes haben darüber hinaus Risse im Koalitionsgefüge sichtbar werden lassen, die wohl nur durch die weltpolitischen Notwen­digkeiten wieder zusammengefügt werden können.

Die Volkspartei kann einem weiteren Ab­bröckeln ihrer Position nur durch sofortige Reformen Vorbeugen. Die Warner wurden von der Parteileitung so lange nicht ernst genom­men, bis der Schock der Bundespräsidenten­wahl eingetreten ist. Nur eine Konzentration der bürgerlichen Kräfte vermag den sozialisti­schen Auftrieb auszubalancieren. Bevor dies möglich ist, müssen aber jene Hasser in den Reihen der Volkspartei von maßgebenden Po­sten entfernt werden, die allen liberalen und nationalen Bürgerlichen unversöhnlich gegen­überstehen.

In diesem Zusammenhang sei an die Anre­gung maßgebender Politiker der Volkspartei vor der Stichwahl erinnert, alle positiven Kräfte Österreichs in der Regierung zusam­menzufassen und dem Breitner-Komitee einen Ministersessel anzubieten. Damit würde dann das eintreten, wogegen sich die Koalitions­partner früher immer gesträubt hatten: eine grundlegende Änderung der österreichischen innenpolitischen Konstellation und eine Auf­lockerung des bisherigen Proporzes durch ein drittes Element, das nicht zu selten das Züng­lein an der Waage wäre. Diese Gruppe ist nicht mit dem VdU zu verwechseln, dessen Einfluß weiterhin im Schwinden zu sein scheint. Zum Unterschied zum VdU-Obmann Dr. Kraus hat Prof. Breitner peinlichst eine Stellungnahme für eine der beiden Parteien bei den Stichwahlen vermieden. Damit hat er seiner Gruppe aber auch die Möglichkeit eröffnet, sich mit Volkspartei wie Sozialisten zu verständigen. Es ist daher durchaus mög­lich, daß die Gegner des Wahlkampfes mor­gen Zusammenarbeiten werden, Bundesprä­sident Körner mit dem vermutlichen neuen Bundeskanzler Dr. Gleißner. Die Mäßigung der Parteienerklärungen nach erfolgter Wahl lassen jedenfalls den Weg dazu offen.

Kleine Weltchronik

TÜBINGEN. In der neuen Nummer des Staats­anzeigers für Württemberg-Hohenzollern er­scheint unter dem 30. Mai eine wörtliche Wie­dergabe der Ausführungen, die Staatspräsident Dr. Gebhard Müller und Innenminister Renner zur Südweststaatfrage vor dem Bundestag und dem Bundesrat machten.

STUTTGART. Vorbehaltlich der Zustimmung des Landtags hat das württemberg-badische Ka­binett am Montag die Bereitstellung von 3,7 Mil­lionen DM für die 850 Mann starke Bereitschafts­polizei des Landes beschlossen.

NÜRNBERG. Der stellvertretende Sowjetzo­nenministerpräsident Nuschke wies in Rum­melsburg bei Nürnberg eine Erklärung des Bun­desministeriums für gesamtdeutsche Fragen, er habe an der Tagung für den evangelischen Kir­chenbau illegal teilgenommen, zurück und er­klärte, er sei auf eine offizielle Einladung hin gekommen.

BONN. Bundeskanzler Dr. Adenauer wird voraussichtlich am 14. Juni zu dem bereits ge­meldeten offiziellen Besuch der italienischen Re­gierung nach Rom fliegen. Die Bundesre­gierung hat ihren bisherigen Generalkonsul in Rom, Clemens von Brentano, zum ersten Bot­schafter der Bundesrepublik bei der italieni­schen Regierung ernannt.

BIELEFELD. Das Oberste Britische Berufungs­gericht in Herford bestägtigte am Montag das Urteil gegen den 28jährigen Schlosser Friedrich Janzen aus Duisburg, der am 20. April von einem britischen Gericht in Düsseldorf zum Tod durch den Strang verurteilt worden war, weil er am 10. März bei einer Schlägerei einen bri­tischen Soldaten durch Messerstiche getötet hatte.

HAMBURG. Der von Einheiten der national­chinesischen Regierung vor fünf Wochen aufge­brachte deutsche FrachtdampferMai Rickmers"

ist nach Mitteilung der Reederei wieder freige­geben worden.

LONDON. Großbritannien hat nach einer Mit­teilung des britischen Außenministeriums eine dreiköpfige Kommission gebildet, die in der bri­tischen Zone Deutschlands die Rückgabe von Eigentumswerten an Opfer des NS-Regimes be­schleunigen soll.

EASINGTON (England). Bei einer ungewöhn­lich schweren Explosion in einer Kohlengrube sind am Dienstag etwa 70 Bergleute von der Außenwelt abgeschnitten worden. Trotz fieber­hafter Arbeiten konnte bisher keine Verbindung mit den Verschütteten aufgenommen werden.

PARIS. Das französische Verteidigungsmini­sterium hat am Montag allen Offizieren und Mannschaften streng verboten, in Uniform an Wahlversammlungen teilzunehmen.

ROM. Der Leichnam Papst Pius X. ist am Montag aus seiner Gruft in der Peterskirche ausgegraben worden. Die Mumie wurde dem Bleisarg entnommen, wird untersucht und soll gegebenenfalls neu präpariert werden. Am kom­menden Sonntag findet die Seligsprechung Papst Pius X. statt. Anschließend wird der Leichnam einige Tage aufgebahrt werden.

KAPSTADT. Vor dem Parlamentsgebäude der südafrikanischen Hauptstadt kam es am Montag zu ernsten Zusammenstößen zwischen der Poli­zei und 50 000 Kriegsteilnehmern, die gegen die Rassentrennungspolitik der Regierung protestier­ten. Etwa 30 Personen wurden verletzt.

TOKIO. Nach einem Bericht des japanischen Außenministeriums sind jetzt alle Verfahren gegen japanische Kriegsverbrecher abgeschlos­sen. In etwa 5000 behandelten Fällen wurden 1000 Angeklagte zum Tode und 400 zu lebens­länglichem Gefängnis verurteilt. Von den 1000 Todesurteilen sind bisher 850 vollstreckt worden.

Heuß gratuliert Körner

Vereidigung am 20. Juni

WIEN. Bundespräsident Prof. Heuß über­mittelte am Dienstag dem neugewählten öster­reichischen Bundespräsidenten Dr. h. c. Theo­dor. Körner folgendes Glückwunschtele­gramm:Eurer Exzellenz spreche ich zu Ihrer Wahl zum Bundespräsidenten auch im Namen der Bundesrepublik aufrichtige Glückwünsche aus.

Österreichs neuer Bundespräsident wurde am 25. April 1873 in der ungarischen Stadt Komorn geboren. Am Ende des ersten Welt­krieges war Körner Generalstabschef der ersten österreichischen Armee. Nach dem Kriege beriet er seine Partei, die Sozialisten, als Sachverständiger für Militärfragen. 1928 wurde er als Vertreter der Stadt Wien in den Bundesrat entsandt, 1934 ,mit anderen Sozia­listen von der Regierung Dollfuß verhaftet. Nach demAnschluß verschloß er sich allen Bemühungen, ihn für das deutsche OKW zu gewinnen. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er verhaftet. Nach dem zweiten Weltkrieg beteiligte sich Körner an der Neugründung der Sozialistischen Partei; im Sommer 1945 wählten ihn alle Parteien zum Bürgermeister von Wien. Die Vereidigung Körners findet voraussichtlich am 20. Juni statt.

Finanzkräftiges Land

Württemberg-Baden

STUTTGART. Württemberg-Baden ist un­ter allen Bundesländern das weitaus finanz­kräftigste, geht aus dem Entwurf einer Ver­ordnung zum Länderfinanzausgleich hervor, den die Bundesregierung dem Bundesrat zur Stellungnahme übersandt hat. Obwohl Würt­temberg-Baden mit 164 DM je Einwohner im vergangenen Haushaltsjahr bei weitem nicht so viel an Steuereinnahmen kassierte wie an­dere Länder, z. B. Hamburg mit 254 DM, steht das Land mit einerveredelten Einnahme von 165,15 DM je Einwohner an erster Stelle.

Die Bundesländer schulden dem Bund zu­sammen 428 Millionen DM. Davon entfallen 184,2 Millionen auf rückständige Interessen­quoten aus dem Haushaltsjahr 1950/51, der Rest geht auf das Haushaltsjahr 1949/50 zu­rück. Die Länder sind verpflichtet, dieses De­fizit abzudecken.

Südbadische Klage überreicht

FREIBURG. Die südbadische Regierung hat am Montag ihre angekündigte Klage gegen dasBlitzgesetz des Bundestags beim Bun­desverfassungsgericht eingereicht. Sie bean­tragt die Feststellung der Nichtigkeit des er­sten Gesetzes über die Neugliederung im Süd­westen, das die Landtagsperioden in Würt­temberg-Hohenzollern und Südbaden verlän­gert, und des zweiten Gesetzes über die Neu­gliederung, das das Verfahren der Volksab­stimmung regelt. Zum zweiten Gesetz hat die badische Regierung gleichzeitig einen Antrag gestellt, den Vollzug vorläufig abzusetzen, bis das Bundesverfassungsgericht über die Klage entschieden hat. In der formalen Begründung zählt die Regierung die Punkte auf, die sie als verfassungswidrig ansieht.

Erneuter Hinrichtungsauischub

Um weitere sieben Tage

WASHINGTON. Der Vollstreckungsauf­schub für die Hinrichtung der sieben Lands­berger Häftlinge wurde am Montagabend durch den Bundesrichter amDistrict Court of Columbia, Walter M. Bastian, erneut um sieben Tage bis zum 5. Juni ver­längert. Der Bundesrichter will damit dem amerikanischen Rechtsanwalt Warren M a - g e e die Möglichkeit geben, gegen das zu er­wartende Urteil, ob der Einspruch Magees beim Distriktgericht gerechtfertigt sei, Beru­fung einzulegen. Magee hatte bei dem Bezirks­gericht Zivilklage erhoben, da die Verfassung der Deutschen Bundesrepublik die Todes­strafe verbiete und die USA die deutsche Ver­fassung anerkannt hätten.

Der oerschlossene MUND

Roman von Doris Eicke

^ Alle Rechte Verlegthaut Reutlingen

Das spielt keine Rolle, trotzdem ist es ab­surd und setzt beide in meinen Augen herab, tief herab, sagte Andrea erregt.

Was wollen Sie, es ist eine Art Haßliebe. Wenn Sie einmal fünfzehn Jahre Hoteldienst hinter sich haben wie ich, wundem Sie sich über nichts mehr.

Andrea starrte ihm betroffen nach. Sie hatte das beklemmende Gefühl, daß etwas Unreines ihre schöne Freude auszulöschen drohe. Das einzige, was sie bisher an Ulricke Syamken aufrichtig bewundert hatte, war ihre Kultur, jetzt, nach Stumpfs Eröffnung, kam sie ihr vor wie eine schön übertünchte Fassade, die nur falsche Edelsteine hütete. Diese reiche, junge Gräfin hatte eine ausgezeichnete Erzie­hung genossen, sie war in der ganzen euro­päischen Literatur zu Hause, sie urteilte ab­solut treffsicher über Malerei und unterschied jeden Komponisten der klassischen Schule schon bei den ersten Tönen. Ihre gesellschaft­liche Sicherheit war vollkommen, ihr Esprit bekannt. War sie aber wirklich hinter die Dinge gedrungen, hatte sie etwas von dem edlen Geist dieser kulturellen Werke in sich aufgenommen? Verriet sie nicht den Sinn alles Großen, wenn sie die bloße körperliche Lust In den Armen eines Mannes zu suchen im­stande war, den ihr geistiges Ich verabscheute und für den sie am Tag nichts übrig hatte als ätzenden Spott und eiskalte Überlegen­heit? Andrea schauderte vor dieser Verdre­hung der Begriffe, aber auch Will war ihr durch dieses Wissen jäh entfremdet. Ob Niels etwas von dieser Sachlage ahnte? Wenn sie daran öer 1 '- c : -. Svamken heute von

seelischer Freundschaft vorgepredigt hatte, schämte sie sich beinahe. Welch naiver Ver­such am untauglichen Objekt! Woher Stumpf nur dieses Wissen hatte? Er war alles andere als ein Schwätzer und Wül im Grunde zuge­tan. Syamkens hatten zu Beginn ihrer Ehe monatelang im Esplanade gewohnt, auch war Will, das wußte sie selbst, im stark ange­heiterten Zustande nicht eben diskret. Wem nichts heilig ist, der hat auch keine Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen.

Ich gehe nicht mehr ohne Niels zu ihm, dachte Andrea, und es war ihr noch hinter­her unbehaglich, daß sie mehrere Stunden mit ihm allein in seiner Wohnung gewesen war. Die Erinnerung an den hübschen Nachmittag war ihr mm gründlich verdorben.Was ist Niels für ein Prachtsmensch daneben, dachte sie stolz,bei ihm ist alles so gesund, so lau­ter, so würdig. Er ist wie ein Fels, unbeirr­bar in seinen Grundsätzen, wie dumm und kindisch war ich, daß ich je seinen Wert ver­kannte. Das Verlangen, seinen Brief zu le­sen, übersprudelte sie nun plötzlich mit der Gewalt einer stürmischen Welle, sie konnte ihm nicht widerstehen. Im Schutz ihrer Schreibmaschine, mit einem Ohr die Geräu­sche im Gang kontrollierend, las sie ihn.

Mein süßes kleines Mädchen!

Wirst Du mir glauben, daß ich Deinen Brief vom letzten Siebenundzwanzigsten erst kürzlich bekam? Ich verstehe nun Dein ver­letztes Schweigen, obwohl Du eine derartige Möglichkeit doch in den Bereich Deiner Er­wägungen hättest ziehen sollen. Aber ich mache Dir keinen Vorwurf. Unser Leben ist eine Kette von Irrtümem, deren Ursache un­sere menschliche Unvollkommenheit ist. Un­ter Liebenden darf es keinen lauten Vorwurf geben, nur ein leises Mahnen, ein Bitten vielleicht um die liebevolle Bereitschaft, die naturbedingte menschliche Unzulänglichkeit mit dem Mantel verständnisvoller Freund­schaft zuzudeck«n.

Zu Deinem Entschluß, in Deinen Beruf zu­rückzukehren, will ich nichts sagen, denn diese Stellungnahme wäre überholt; Uber meiner innigen Liebe zu Dir steht mit gol­denen Lettern:Was Du auch tust, ist wohl­getan. Mein Glaube an Dich und an den blanken Kern Deines Wesens ist zu echt, als daß er durch irgend etwas erschüttert wer­den könnte.

Andry, mute ich Dir zuviel zu, wenn ich Dich um den gleichen Glauben bitte? Lerne meine menschliche Unzulänglichkeit geduldig ertragen, so wie es der Sinn der Liebe ist, die Mängel des anderen, für ihn leidend, für ihn beschämt, aber mit der größten Nachsicht hinzunehmen, denn nichts geschieht ja bös­willig, um Dir Leid zu bereiten, das weißt Du. Zweifel, mein Liebstes, sind die Schau­feln des Totengräbers, der der Liebe ein Grab gräbt, halte sie Deiner Seele fern mit aller Kraft. Ich werde Dir in den letzten Wochen vor meiner Rückkehr nicht mehr schreiben und auch keine Briefe mehr von Dir empfangen können, nimm auch diese Tatsache auf in Deinen unerschütterlichen Glauben. Einmal werde ich Dir alles erklä­ren können, denn was immer Dich in diesen Jahren schmerzlich bewegte, es gibt eine na­türliche Erklärung dafür.

Ich bitte Dich nun um eins, Andry: wenn Du mich erwartest, so vergiß nicht, daß ein Mann durch drei Jahre harter Arbeit nicht jünger werden kann. Du wirst meine Schlä­fen weiß Anden und mein Gesicht gealtert. Bitte, mach Dich mit dieser Vorstellung ver­traut. Innerlich aber bin ich ganz der ge­blieben, der ich immer war:

Dein Dich liebender Niels.

Andrea saß lange in erstarrter Bewe­gungslosigkeit hinter ihrer Maschine, den Brief im Schoß. Zu Beginn war sie unaus­sprechlich glücklich, aber auch in ihrem ei­genen Kleinmut beschämt gewesen. Der Schluß aber traf sie mit der Wucht einr=

Hiebes. Sie durfte ihm nicht mehr schreiben, sie, die monatelang in bösem Trotz auf diese Möglichkeit verzichtet hatte. Sie konnte ihn nicht um Verzeihung bitten und sich recht- fertigen. Nun war es, als hätte ein grausiges Nichts ihn verschluckt, und als hallte der Schrei ihrer Seele ins Leere. O Niels, mußte das sein? Niels, ihr junger, strahlender Lieb­ster kam mit weißen Haaren zurück, vorzei­tig gealtert? Wie ein Blitz einen dunklen Hintergrund erhellt, begriff sie plötzlich, was das hieß, und eine glühende, würgende Scham ließ sie aufstöhnen und das Gesicht in den Händen verbergen. In hundert Briefen hatte sie ihm ihre Not, ihre Einsamkeit, ihr un­gestilltes Glücksverlangen geklagt, und er hatte ihr Leid still zu dem seinen gelegt und auch dieses in seiner großen Güte mitge­tragen. Seine eigene Not aber war nie bis auf seine Lippen gestiegen, er hatte sie be­wußt in dem Glauben gelassen, es gehe ihm gut, so lange, bis sein gebleichtes Haar und gealtertes Antlitz ihre eigene Sprache rede­ten. Und auch jetzt war es sicherlich nur der Wunsch gewesen, ihr ein Erschrecken zu ersparen, der ihn sprechen ließ. Wie stark war Niels! Wie gut! Und wie erbärmlich klein und selbstsüchtig war sie selbst da­neben gewesen.

Aus verschütteter Erinnerung sah Andrea auf einmal jenes Gesicht am Fenster auf­tauchen, das Niels ähnlich gesehen hatte, ohne das zerfurchte, entsetzlich magere Ge­sicht und das weiße Haar Niels selbst hätte sein können. Andrea schauderte in sich zu­sammen. So vielleicht mußte sie sich ihren Mann vorstellen, so bitter verändert, ein Schatten seiner selbst. Dieser Gedanke wurde ihr entsetzlich schwer.

Es ist ja nur die Hülle, die unwichtige Schale um einen edlen Kern", flüsterte sie mit bleichen Lippen. In ihrem Bett aber weinte sie bittere Tränen um diese sinnlose

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