NUMMER 82
MITTWOCH, 3 0. MAI 1951
Bemerkungen zum Tage
Was für Japan recht ist. . .
jk. Jede Ausfuhr von Waren nach der Chinesischen Volksrepublik bedarf ab 1. Juni der vorherigen Genehmigung durch die zentrale Genehmigungsstelle. So bestimmt ein Erlaß des Bundeswirtschaftsministeriums. Damit hat die Bundesregierung einer „Empfehlung“ der UN entsprochen. Wer mag sonst noch dieser Empfehlung Folge geleistet haben? Wahrscheinlich nicht viele UN-Mitgliedstaaten. Wenn Truman auch gesagt hat, amerikanische Dollarhilfe würde nicht nach jenen Ländern fließen, die abseits ständen, so bleibt doch zu bedenken, daß nicht alle Länder Empfänger von Dollarhilfe sind.
Die Bundesrepublik jedoch muß auf Dollarhilfe reflektieren. Am direkten Handel mit Rotchina ist sie nicht so sehr interessiert als am übrigen Osthandel. Hier verlaufen viele wichtige Lebenslinien ihrer Außenhandelsbeziehungen. Nach einem Bericht des USA-Han- delsministeriums hat der gesamte Ostexport Westeuropas im Jahre 1950 nicht weniger als 1804 Millionen DM betragen; die Bundesrepublik war daran aber nur mit 246 Millionen DM oder 13,6 Prozent beteiligt. Eine schmerzliche Disproportionalität.
Die Kontrollinstrumente der Besatzungsmächte haben offenbar gut funktioniert, und wir selbst haben es an unserer Devisenbilanz gemerkt. Das Londoner Blatt „Observer“ vergleicht unsere Lage im Ost-Westhandel mit der Situation Hongkongs und Japans. „Es sollte klargemacht werden“, so heißt es dort, „daß in einem Land wie Deutschland oder in einem Hafen wie Hongkong, wo die kommunistische Grenze eingespielte Handelsgrenzen überschneidet, die Überwachung allen laufenden Handels eine ungeheuer schwierige Aufgabe ist. Vielleicht kann der (amerikanische) Kongreß wie durch das Beispiel Japan davon überzeugt werden, daß einiger zweifelhafter Handel mit kommunistischen Ländern unvermeidbar ist; in Japan haben die amerikanischen Besatzungsbehörden kürzlich bekanntgegeben, daß die Ausfuhr von Eisen- und Stahlwaren nach China nicht beschnitten werden soll, weil die beiden Nationen ein historisches Handelssystem haben und die japanische Wirtschaft geschädigt würde, falls man den Handel abschneiden sollte.
Eine Stimme der Vernunft. Wir haben ihr nur hinzuzufügen, daß heute die Wirtschaft nicht weniger unser Schicksal ist als die Politik. Gute Wirtschaftsbeziehungen haben bestehende Spannungen nie verschärft, aber meist gemildert. Abgesehen davon, daß durch die Behinderung des deutschen Ost-Westhandels die deutsche Wirtschaft ebenfalls geschädigt wird und daß für die Bundesrepublik billig sein sollte, was für Japan recht ist.
Tibets „Befreiung“ ratifiziert
Jetzt ein „Bundesstaat“ Rotchinas
PEKING. Die seit einem Jahr von Peking betriebene Angliederung Tibets an das kommunistische China wurde jetzt mit einem Abkommen besiegelt, das nach einmonatigen Verhandlungen zwischen Vertretern der zentralen Volksregierung Chinas und der tibetanischen „Regional-Regierung“ in Peking zustande kam. Mit der Unterzeichnung des Vertrags am 23. Mai ist Tibet ein militärischer Bezirk Rotchinas unter dem Befehl eines kommunistischen Generals geworden. Tibet erhält zwar regionale Autonomie, die Führung auswärtiger Angelegenheiten Tibets wurde jedoch in die Hände Pekings gelegt.
Maßgebende politische Kreise in Neu-Delhi erklärten zu dem Abkommen, es enthalte ziemlich harte Bedingungen für die Tibetaner und lasse noch viele Fragen offen. Es wird besonders vermerkt, daß der Dalai-Lama, der seit Generationen die Würde des geistlichen Oberhaupts Tibets in sich vereinigt, jetzt nur noch zeitliche Gewalt ausüben darf und die nach tibetanischer Auffassung höher eingeschätzte geistliche Würde seinem traditionellen Widersacher, dem Pantschen-Lama abtreten mußte.
Nach dem Wahlsieg Körners
Änderungen der innenpolitischen Konstellation Österreichs
Von unserem E. B.-Österreich-Korrespondenten
WIEN. Mit 49,7 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde am Sonntag, wie bereits gemeldet, der sozialistische Bürgermeister von Wien,Generala.D.Dr.h.c. Theodor Körner, im zweiten Wahlgang zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt. Das Ergebnis war vor der Wahl zwar in den Bereich der Möglichkeit gezogen, ein Sieg Dr. Gleiß- n e r s aber für wahrscheinlicher gehalten worden. Die Entscheidung brachten die ehemaligen Breitner-Wähler, die zu über zwei Drittel sich entweder für Dr. Körner entschieden oder weiße Stimmzettel abgaben. Die Zahl der ungültigen Stimmen — rund 188 000 — entspricht etwa den Breitner-Wählem in Wien und Niederösterreich, wo der Verein der Unabhängigen (VdU), entgegen den Parolen der Parteileitung das Stichwort ausgegeben hatten, weiße Stimmzettel abzugeben. Diese 188 000 Stimmen, zu den 2 004 290 Stimmen Dr. Gleißners dazugerechnet, hätten diesem eine Mehrheit von rund 20 000 Stimmen gebracht.
Es zeigte sich, daß das Mißtrauen in die Parteileitung der Volkspartei in den Kreisen der nicht zu ihr gehörigen Bürgerlichen zu stark war, um sich in letzter Minute umstimmen zu lassen. Als Reaktion auf den Druck der letzten Jahre scheint das Bedürfnis dieser Wählerschicht, der Volkspartei dafür eins auszuwischen, die stärkste Triebfeder gewesen zu sein. Die Volkspartei selbst hatte allerdings nur vereinzelt in Oberösterreich, der Steiermark und Salzburg etwas getan, um einen künftigen Kurswechsel glaubhaft zu machen. Im übrigen beharrte sie auf einer kompromißlosen Ablehnung der andersdenkenden Bürgerlichen mit dem am Sonntag sichtbaren Erfolg.
Die Folgen des Wahlsieges des sozialistischen Kandidaten sind weittragend. Zunächst bedeutet er eine weitere Stärkung der sozialistischen Stellung. Der Kampf um die verstaatlichten Betriebe, der das Verhältnis der Koalitionspartner in letzter Zeit trübte, dürfte damit zunächst für die Sozialisten entschieden sein. Die persönlichen Angriffe zwischen den
beiden Regierungsparteien während des Wahlkampfes haben darüber hinaus Risse im Koalitionsgefüge sichtbar werden lassen, die wohl nur durch die weltpolitischen Notwendigkeiten wieder zusammengefügt werden können.
Die Volkspartei kann einem weiteren Abbröckeln ihrer Position nur durch sofortige Reformen Vorbeugen. Die Warner wurden von der Parteileitung so lange nicht ernst genommen, bis der Schock der Bundespräsidentenwahl eingetreten ist. Nur eine Konzentration der bürgerlichen Kräfte vermag den sozialistischen Auftrieb auszubalancieren. Bevor dies möglich ist, müssen aber jene Hasser in den Reihen der Volkspartei von maßgebenden Posten entfernt werden, die allen liberalen und nationalen Bürgerlichen unversöhnlich gegenüberstehen.
In diesem Zusammenhang sei an die Anregung maßgebender Politiker der Volkspartei vor der Stichwahl erinnert, alle positiven Kräfte Österreichs in der Regierung zusammenzufassen und dem Breitner-Komitee einen Ministersessel anzubieten. Damit würde dann das eintreten, wogegen sich die Koalitionspartner früher immer gesträubt hatten: eine grundlegende Änderung der österreichischen innenpolitischen Konstellation und eine Auflockerung des bisherigen Proporzes durch ein drittes Element, das nicht zu selten das Zünglein an der Waage wäre. Diese Gruppe ist nicht mit dem VdU zu verwechseln, dessen Einfluß weiterhin im Schwinden zu sein scheint. Zum Unterschied zum VdU-Obmann Dr. Kraus hat Prof. Breitner peinlichst eine Stellungnahme für eine der beiden Parteien bei den Stichwahlen vermieden. Damit hat er seiner Gruppe aber auch die Möglichkeit eröffnet, sich mit Volkspartei wie Sozialisten zu verständigen. Es ist daher durchaus möglich, daß die Gegner des Wahlkampfes morgen Zusammenarbeiten werden, Bundespräsident Körner mit dem vermutlichen neuen Bundeskanzler Dr. Gleißner. Die Mäßigung der Parteienerklärungen nach erfolgter Wahl lassen jedenfalls den Weg dazu offen.
Kleine Weltchronik
TÜBINGEN. In der neuen Nummer des Staatsanzeigers für Württemberg-Hohenzollern erscheint unter dem 30. Mai eine wörtliche Wiedergabe der Ausführungen, die Staatspräsident Dr. Gebhard Müller und Innenminister Renner zur Südweststaatfrage vor dem Bundestag und dem Bundesrat machten.
STUTTGART. Vorbehaltlich der Zustimmung des Landtags hat das württemberg-badische Kabinett am Montag die Bereitstellung von 3,7 Millionen DM für die 850 Mann starke Bereitschaftspolizei des Landes beschlossen.
NÜRNBERG. Der stellvertretende Sowjetzonenministerpräsident Nuschke wies in Rummelsburg bei Nürnberg eine Erklärung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, er habe an der Tagung für den evangelischen Kirchenbau illegal teilgenommen, zurück und erklärte, er sei auf eine offizielle Einladung hin gekommen.
BONN. Bundeskanzler Dr. Adenauer wird voraussichtlich am 14. Juni zu dem bereits gemeldeten offiziellen Besuch der italienischen Regierung nach Rom fliegen. — Die Bundesregierung hat ihren bisherigen Generalkonsul in Rom, Clemens von Brentano, zum ersten Botschafter der Bundesrepublik bei der italienischen Regierung ernannt.
BIELEFELD. Das Oberste Britische Berufungsgericht in Herford bestägtigte am Montag das Urteil gegen den 28jährigen Schlosser Friedrich Janzen aus Duisburg, der am 20. April von einem britischen Gericht in Düsseldorf zum Tod durch den Strang verurteilt worden war, weil er am 10. März bei einer Schlägerei einen britischen Soldaten durch Messerstiche getötet hatte.
HAMBURG. Der von Einheiten der nationalchinesischen Regierung vor fünf Wochen aufgebrachte deutsche Frachtdampfer „Mai Rickmers"
ist nach Mitteilung der Reederei wieder freigegeben worden.
LONDON. Großbritannien hat nach einer Mitteilung des britischen Außenministeriums eine dreiköpfige Kommission gebildet, die in der britischen Zone Deutschlands die Rückgabe von Eigentumswerten an Opfer des NS-Regimes beschleunigen soll.
EASINGTON (England). Bei einer ungewöhnlich schweren Explosion in einer Kohlengrube sind am Dienstag etwa 70 Bergleute von der Außenwelt abgeschnitten worden. Trotz fieberhafter Arbeiten konnte bisher keine Verbindung mit den Verschütteten aufgenommen werden.
PARIS. Das französische Verteidigungsministerium hat am Montag allen Offizieren und Mannschaften streng verboten, in Uniform an Wahlversammlungen teilzunehmen.
ROM. Der Leichnam Papst Pius X. ist am Montag aus seiner Gruft in der Peterskirche ausgegraben worden. Die Mumie wurde dem Bleisarg entnommen, wird untersucht und soll gegebenenfalls neu präpariert werden. Am kommenden Sonntag findet die Seligsprechung Papst Pius X. statt. Anschließend wird der Leichnam einige Tage aufgebahrt werden.
KAPSTADT. Vor dem Parlamentsgebäude der südafrikanischen Hauptstadt kam es am Montag zu ernsten Zusammenstößen zwischen der Polizei und 50 000 Kriegsteilnehmern, die gegen die Rassentrennungspolitik der Regierung protestierten. Etwa 30 Personen wurden verletzt.
TOKIO. Nach einem Bericht des japanischen Außenministeriums sind jetzt alle Verfahren gegen japanische Kriegsverbrecher abgeschlossen. In etwa 5000 behandelten Fällen wurden 1000 Angeklagte zum Tode und 400 zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Von den 1000 Todesurteilen sind bisher 850 vollstreckt worden.
Heuß gratuliert Körner
Vereidigung am 20. Juni
WIEN. Bundespräsident Prof. Heuß übermittelte am Dienstag dem neugewählten österreichischen Bundespräsidenten Dr. h. c. Theodor. Körner folgendes Glückwunschtelegramm: „Eurer Exzellenz spreche ich zu Ihrer Wahl zum Bundespräsidenten auch im Namen der Bundesrepublik aufrichtige Glückwünsche aus.“
Österreichs neuer Bundespräsident wurde am 25. April 1873 in der ungarischen Stadt Komorn geboren. Am Ende des ersten Weltkrieges war Körner Generalstabschef der ersten österreichischen Armee. Nach dem Kriege beriet er seine Partei, die Sozialisten, als Sachverständiger für Militärfragen. 1928 wurde er als Vertreter der Stadt Wien in den Bundesrat entsandt, 1934 ,mit anderen Sozialisten von der Regierung Dollfuß verhaftet. Nach dem „Anschluß“ verschloß er sich allen Bemühungen, ihn für das deutsche OKW zu gewinnen. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er verhaftet. Nach dem zweiten Weltkrieg beteiligte sich Körner an der Neugründung der Sozialistischen Partei; im Sommer 1945 wählten ihn alle Parteien zum Bürgermeister von Wien. Die Vereidigung Körners findet voraussichtlich am 20. Juni statt.
Finanzkräftiges Land
Württemberg-Baden
STUTTGART. Württemberg-Baden ist unter allen Bundesländern das weitaus finanzkräftigste, geht aus dem Entwurf einer Verordnung zum Länderfinanzausgleich hervor, den die Bundesregierung dem Bundesrat zur Stellungnahme übersandt hat. Obwohl Württemberg-Baden mit 164 DM je Einwohner im vergangenen Haushaltsjahr bei weitem nicht so viel an Steuereinnahmen kassierte wie andere Länder, z. B. Hamburg mit 254 DM, steht das Land mit einer „veredelten Einnahme“ von 165,15 DM je Einwohner an erster Stelle.
Die Bundesländer schulden dem Bund zusammen 428 Millionen DM. Davon entfallen 184,2 Millionen auf rückständige Interessenquoten aus dem Haushaltsjahr 1950/51, der Rest geht auf das Haushaltsjahr 1949/50 zurück. Die Länder sind verpflichtet, dieses Defizit abzudecken.
Südbadische Klage überreicht
FREIBURG. Die südbadische Regierung hat am Montag ihre angekündigte Klage gegen das „Blitzgesetz“ des Bundestags beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Sie beantragt die Feststellung der Nichtigkeit des ersten Gesetzes über die Neugliederung im Südwesten, das die Landtagsperioden in Württemberg-Hohenzollern und Südbaden verlängert, und des zweiten Gesetzes über die Neugliederung, das das Verfahren der Volksabstimmung regelt. Zum zweiten Gesetz hat die badische Regierung gleichzeitig einen Antrag gestellt, den Vollzug vorläufig abzusetzen, bis das Bundesverfassungsgericht über die Klage entschieden hat. In der formalen Begründung zählt die Regierung die Punkte auf, die sie als verfassungswidrig ansieht.
Erneuter Hinrichtungsauischub
Um weitere sieben Tage
WASHINGTON. Der Vollstreckungsaufschub für die Hinrichtung der sieben Landsberger Häftlinge wurde am Montagabend durch den Bundesrichter am „District Court of Columbia“, Walter M. Bastian, erneut um sieben Tage — bis zum 5. Juni — verlängert. Der Bundesrichter will damit dem amerikanischen Rechtsanwalt Warren M a - g e e die Möglichkeit geben, gegen das zu erwartende Urteil, ob der Einspruch Magees beim Distriktgericht gerechtfertigt sei, Berufung einzulegen. Magee hatte bei dem Bezirksgericht Zivilklage erhoben, da die Verfassung der Deutschen Bundesrepublik die Todesstrafe verbiete und die USA die deutsche Verfassung anerkannt hätten.
Der oerschlossene MUND
Roman von Doris Eicke
^ Alle Rechte Verlegthaut Reutlingen
„Das spielt keine Rolle, trotzdem ist es absurd und setzt beide in meinen Augen herab, tief herab“, sagte Andrea erregt.
„Was wollen Sie, es ist eine Art Haßliebe. Wenn Sie einmal fünfzehn Jahre Hoteldienst hinter sich haben wie ich, wundem Sie sich über nichts mehr.“
Andrea starrte ihm betroffen nach. Sie hatte das beklemmende Gefühl, daß etwas Unreines ihre schöne Freude auszulöschen drohe. Das einzige, was sie bisher an Ulricke Syamken aufrichtig bewundert hatte, war ihre Kultur, jetzt, nach Stumpfs Eröffnung, kam sie ihr vor wie eine schön übertünchte Fassade, die nur falsche Edelsteine hütete. Diese reiche, junge Gräfin hatte eine ausgezeichnete Erziehung genossen, sie war in der ganzen europäischen Literatur zu Hause, sie urteilte absolut treffsicher über Malerei und unterschied jeden Komponisten der klassischen Schule schon bei den ersten Tönen. Ihre gesellschaftliche Sicherheit war vollkommen, ihr Esprit bekannt. War sie aber wirklich hinter die Dinge gedrungen, hatte sie etwas von dem edlen Geist dieser kulturellen Werke in sich aufgenommen? Verriet sie nicht den Sinn alles Großen, wenn sie die bloße körperliche Lust In den Armen eines Mannes zu suchen imstande war, den ihr geistiges Ich verabscheute und für den sie am Tag nichts übrig hatte als ätzenden Spott und eiskalte Überlegenheit? Andrea schauderte vor dieser Verdrehung der Begriffe, aber auch Will war ihr durch dieses Wissen jäh entfremdet. Ob Niels etwas von dieser Sachlage ahnte? Wenn sie daran öer’’ 1 '- c : -. Svamken heute von
seelischer Freundschaft vorgepredigt hatte, schämte sie sich beinahe. Welch naiver Versuch am untauglichen Objekt! Woher Stumpf nur dieses Wissen hatte? Er war alles andere als ein Schwätzer und Wül im Grunde zugetan. Syamkens hatten zu Beginn ihrer Ehe monatelang im Esplanade gewohnt, auch war Will, das wußte sie selbst, im stark angeheiterten Zustande nicht eben diskret. Wem nichts heilig ist, der hat auch keine Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen.
„Ich gehe nicht mehr ohne Niels zu ihm“, dachte Andrea, und es war ihr noch hinterher unbehaglich, daß sie mehrere Stunden mit ihm allein in seiner Wohnung gewesen war. Die Erinnerung an den hübschen Nachmittag war ihr mm gründlich verdorben. „Was ist Niels für ein Prachtsmensch daneben“, dachte sie stolz, „bei ihm ist alles so gesund, so lauter, so würdig. Er ist wie ein Fels, unbeirrbar in seinen Grundsätzen, wie dumm und kindisch war ich, daß ich je seinen Wert verkannte.“ Das Verlangen, seinen Brief zu lesen, übersprudelte sie nun plötzlich mit der Gewalt einer stürmischen Welle, sie konnte ihm nicht widerstehen. Im Schutz ihrer Schreibmaschine, mit einem Ohr die Geräusche im Gang kontrollierend, las sie ihn.
„Mein süßes kleines Mädchen!
Wirst Du mir glauben, daß ich Deinen Brief vom letzten Siebenundzwanzigsten erst kürzlich bekam? Ich verstehe nun Dein verletztes Schweigen, obwohl Du eine derartige Möglichkeit doch in den Bereich Deiner Erwägungen hättest ziehen sollen. Aber ich mache Dir keinen Vorwurf. Unser Leben ist eine Kette von Irrtümem, deren Ursache unsere menschliche Unvollkommenheit ist. Unter Liebenden darf es keinen lauten Vorwurf geben, nur ein leises Mahnen, ein Bitten vielleicht um die liebevolle Bereitschaft, die naturbedingte menschliche Unzulänglichkeit mit dem Mantel verständnisvoller Freundschaft zuzudeck«n.
Zu Deinem Entschluß, in Deinen Beruf zurückzukehren, will ich nichts sagen, denn diese Stellungnahme wäre überholt; Uber meiner innigen Liebe zu Dir steht mit goldenen Lettern: „Was Du auch tust, ist wohlgetan.“ Mein Glaube an Dich und an den blanken Kern Deines Wesens ist zu echt, als daß er durch irgend etwas erschüttert werden könnte.
Andry, mute ich Dir zuviel zu, wenn ich Dich um den gleichen Glauben bitte? Lerne meine menschliche Unzulänglichkeit geduldig ertragen, so wie es der Sinn der Liebe ist, die Mängel des anderen, für ihn leidend, für ihn beschämt, aber mit der größten Nachsicht hinzunehmen, denn nichts geschieht ja böswillig, um Dir Leid zu bereiten, das weißt Du. Zweifel, mein Liebstes, sind die Schaufeln des Totengräbers, der der Liebe ein Grab gräbt, halte sie Deiner Seele fern mit aller Kraft. Ich werde Dir in den letzten Wochen vor meiner Rückkehr nicht mehr schreiben und auch keine Briefe mehr von Dir empfangen können, nimm auch diese Tatsache auf in Deinen unerschütterlichen Glauben. Einmal werde ich Dir alles erklären können, denn was immer Dich in diesen Jahren schmerzlich bewegte, es gibt eine natürliche Erklärung dafür.
Ich bitte Dich nun um eins, Andry: wenn Du mich erwartest, so vergiß nicht, daß ein Mann durch drei Jahre harter Arbeit nicht jünger werden kann. Du wirst meine Schläfen weiß Anden und mein Gesicht gealtert. Bitte, mach Dich mit dieser Vorstellung vertraut. Innerlich aber bin ich ganz der geblieben, der ich immer war:
Dein Dich liebender Niels.“
Andrea saß lange in erstarrter Bewegungslosigkeit hinter ihrer Maschine, den Brief im Schoß. Zu Beginn war sie unaussprechlich glücklich, aber auch in ihrem eigenen Kleinmut beschämt gewesen. Der Schluß aber traf sie mit der Wucht einr=
Hiebes. Sie durfte ihm nicht mehr schreiben, sie, die monatelang in bösem Trotz auf diese Möglichkeit verzichtet hatte. Sie konnte ihn nicht um Verzeihung bitten und sich recht- fertigen. Nun war es, als hätte ein grausiges Nichts ihn verschluckt, und als hallte der Schrei ihrer Seele ins Leere. O Niels, mußte das sein? Niels, ihr junger, strahlender Liebster kam mit weißen Haaren zurück, vorzeitig gealtert? Wie ein Blitz einen dunklen Hintergrund erhellt, begriff sie plötzlich, was das hieß, und eine glühende, würgende Scham ließ sie aufstöhnen und das Gesicht in den Händen verbergen. In hundert Briefen hatte sie ihm ihre Not, ihre Einsamkeit, ihr ungestilltes Glücksverlangen geklagt, und er hatte ihr Leid still zu dem seinen gelegt und auch dieses in seiner großen Güte mitgetragen. Seine eigene Not aber war nie bis auf seine Lippen gestiegen, er hatte sie bewußt in dem Glauben gelassen, es gehe ihm gut, so lange, bis sein gebleichtes Haar und gealtertes Antlitz ihre eigene Sprache redeten. Und auch jetzt war es sicherlich nur der Wunsch gewesen, ihr ein Erschrecken zu ersparen, der ihn sprechen ließ. Wie stark war Niels! Wie gut! Und wie erbärmlich klein und selbstsüchtig war sie selbst daneben gewesen.
Aus verschütteter Erinnerung sah Andrea auf einmal jenes Gesicht am Fenster auftauchen, das Niels ähnlich gesehen hatte, ohne das zerfurchte, entsetzlich magere Gesicht und das weiße Haar Niels selbst hätte sein können. Andrea schauderte in sich zusammen. So vielleicht mußte sie sich ihren Mann vorstellen, so bitter verändert, ein Schatten seiner selbst. Dieser Gedanke wurde ihr entsetzlich schwer.
„Es ist ja nur die Hülle, die unwichtige Schale um einen edlen Kern", flüsterte sie mit bleichen Lippen. In ihrem Bett aber weinte sie bittere • Tränen um diese sinnlose
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