NUMMER 80
SAMSTAG, 2 6. MAI 1951
Bemerkungen zum Tage
In den Iodeszellen
cz. Am Donnerstag sah es noch so aus, als würde das trübe Kapitel Landsberg mit dem Vollzug der Hinrichtungen an den sieben letzten dort befindlichen Todeskandidaten aus den Kriegsverbrecherprozessen abgeschlossen. Doch in letzter Stunde erfolgte ein neuerlicher Aufschub für fünf Tage. Konnte man bisher, wenn man beide Augen zudrückte, das grause Spiel hinnehmen als ein Bemühen, nach den teilweise recht „großzügig“ gehandhabten Urteilsfindungen auch den letzten Einwänden der Verteidigung gegen die Hinrichtungen Rechnung zu tragen, so dünkt es uns, daß es jetzt genug sei. Damit wird nicht Stellung genommen zu den Urteilen selbst. Wir sind vielmehr davon überzeugt, daß sie zurecht erfolgten. Rechtfertigt das aber, daß man jahrelang Menschen unter dem Galgen leben läßt, sie in die Todeszellen schickt, wieder herausholt, erneut hineinsteckt und immer wieder letzte Besuche der nächsten Verwandten ansetzt? Diese Verfahrensweise ist alles andere als.human. Sie steht auf gleicher Ebene mit all den Torturen, die das Buch der Unmenschlichkeit füllen. Vizekanzler Blücher urteilte treffend, als er von der Gefahr der Entstehung einer „neuen nationalistischen Legende“ sprach. Dieselben Männer, vor Jahren als Kriegsverbrecher hingerichtet, ohne daß ernster Widerspruch erhoben worden wäre, drohen heute zu Märtyrern zu werden. Diese Gefahr ist übergroß, und daher sollten es sich die Amerikaner reiflich überlegen, ob sie die Todesurteile nicht in lebenslängliche Haftstrafen umwandeln. Und das sofort, nicht erst nach weiteren Monaten des Zuwartens. Unserer Ansicht nach gibt es nichts mehr zu überlegen. Der Vollzug der Hinrichtungen würde heute — nach diesem Schrecken ohne Ende für die Häftlinge — von der großen Mehrzahl unserer Bevölkerung nicht mehr gebilligt werden. Das „Spiel mit dem Tode“ dauert schon zu lange. Die Gegner der Demokratie, und es sind ihrer leider schon wieder mehr als genug, lauern auf solches Propagandamaterial.
Moralischer Druck ?
Jk. Zum Gesetz über die vorläufige Änderung des Einkommen- und Körperschaftssteuergesetzes hat die SPD einen bemerkens* werten Antrag eingebracht. Nach ihm sollen, soweit es sich um veranl'agte Einkommensteuer handelt, bei den Finanzämtern Listen geführt werden, aus denen Name, Wohnort und das für das betreffende Jahr erklärte und das veranlagte Einkommen ersichtlich sind. Diese Listen seien öffentlich zur Einsichtnahme für jedermann zugänglich zu machen. Begründung des Antrages: durch eine solche Maßnahme könne die Steuerehrlichkeit gefördert werden.
Allerdings: die Hebung der Steuermoral ist eine Aufgabe, die aller Anstrengungen wert ist; darin stimmen wir mit der SPD durchaus überein. Steuerhinterziehungen sind bei solcher Enge der Verhältnisse keine Kavaliersdelikte mehr. Ob das Ziel einer größeren Steuerehrlichkeit indessen durch die von der SPD vorgeschlagene Offenlegung der Einkommen zu erreichen wäre, möchten wir bezweifeln. Wer es nämlich bereits unternommen hat, Steuer zu hinterziehen, hat auch schon dafür Sorge getragen, daß seine Bilanz- und Steuererklärungszahlen dies nicht zum Ausdruck bringen.
Vielleicht hat die Vorlage aber ein ganz anderes Ziel. Wäre es nicht denkbar, daß auf dem Wege über die Offenlegung der Einkommensverhältnisse ein moralischer Druck auf gewisse Schichten der Einkommensbezieher ausgeübt werden soll, ihre Gewinne tunlichst im Rahmen zu halten? Eine solche Nebenabsicht würde allerdings dem nominellen Ziel der Vorlage eher abträglich sein. Aber noch ist sie ja erst in zweiter Lesung beschlossen, diese Vorlage; man sagt, weil zahlreiche Abgeordnete der Koalitionsparteien gefehlt hätten ... Warten wir also die dritte, die entscheidende Lesung ab.
Italien im Wahlfieber
Gallup-Untersuchung ergibt knappe Mehrheit für Regierungsfront Von unserem Mailänder Korrespondenten Carlo Mündt
R o m, im Mai
Vom Ausgang der Ende Mai und Anfang Juni in 4676 Gemeinden und zahlreichen Provinzen stattfindenden Wahlen wird es abhän- gen, ob die Kommunistische Partei Italiens einen revolutionären Kurs einschlägt. Falls die Linkssozialisten Nennis, die auf dem letzten Parteikongreß von einer Million Parteibuchträger sprachen, sich durchsetzen sollten, würde der Leader Togliatti mit seinem gemäßigten Kurs recht behalten, im anderen Falle käme es endgültig zur Radikalisierung durch die „Harten“, die seit langer Zeit behaupten, daß Nenni ohne Anhang im Land ist. Die Sozialkommunisten, die 1946 eine ganze Reihe von Gemeinden erobern konnten, geben sich keiner Täuschung hin: der Verlust vieler Bürgermeisterämter steht ihnen bevor. Aber auch die Leitung der Massenpartei der Christlichen Demokraten bereitet sich auf eine fühlbare Stimmeneinbuße gegenüber den Generalwahlen vom 18. April 1948 vor, bei denen sie von der Angst vor dem Kommunismus begünstigt wurde und rund 50% aller wählenden Italiener für sich hatte.
N eo f a s ch i s t en ohne Hoffnungen
Am Sonntag treten die Bewohner von 2735 Gemeinden an die Urnen, unter ihnen die Mailänder, Genuesen, Venezianer und.Bolognesen. Am 10. Juni folgt der Rest der Städte und Dörfer, darunter die ehemaligen roten Hochburgen Turin und Florenz. Wenn auch Städte wie Rom, Neapel, Bari und Palermo diesmal nicht mit antreten, so ist diese Wahl doch die erste große Erprobung der allgemeinen Stimmung nach drei Jahren und sie ist als die Generalprobe für die Wahlen zu Kammer und Senat 1953 anzusehen. Untersuchungen nach dem Gallup-Verfahren ergaben im April, daß 21 % der Befragten für die äußerste Linke eingestellt waren, ohne Zweifel weniger als 1948 und sehr viel weniger als 1946. Für die Christlichen Demokraten erklärten sich
39 %,*für „sozialistische Parteien“ nicht weniger als 18 °/o. Damit ist bewiesen, daß in Italien etwa 39 % aller Wähler links stehen. Die Rechten, zu der man in der Untersuchung die monarchistische und die liberale Partei wie andere kleinere Gruppen gezählt hat, vereinigten 8 % auf sich und die Neofaschisten der MSI können nur jeden 20. Wähler (5 %) für sich buchen. 9 °/o wußten nicht, für wen sie sich erklären sollten.
Die Regierungsfront würde die Christlichen Demokraten (39 %), die sog. demokratische Rechte (8 %) und die Sozialdemokraten und Republikaner (6 % von den angegebenen allgemeinen 18% der sozialistischen Gruppen) mit 53 % umfassen.
Die Wahlpolemik hat die schärfsten Formen angenommen und die Parteien lassen erkennen, daß es wieder einmal um Truman und Stalin geht und weniger um eine gute Verwaltung.
Täglich 70 Schmuggelfälle
Trotz verschärfter Kontrollen in Berlin
BERLIN. An den Westberliner Grenzen zum sowjetischen Besatzungsgebiet werden, wie der Leiter des Zonenkontrollamts in Westberlin, Heuschober, mitteilte, täglich etwa 70 Fälle von illegalem Warenverkehr auf gedeckt, darunter 20—30 größere Schmuggelaktionen. An allen Hauptzufahrtsstraßen nach Westberlin wurde jetzt ein ständiger Streifendienst eingesetzt, der durch schnelle Verfolgungswagen unterstützt wird. Sämtliche Angestellten des Berliner Interzonen-Grenzdienstes sind Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft und damit berechtigt, Beschlagnahmen oder vorläufige Festnahmen zu verfügen. Zurzeit wird erörtert, ob die Streifen mit Waffen ausgerüstet werden sollen. Auch auf den Westberliner Wasserstraßen ist ein regelmäßiger Kontroll- dienst eingerichtet worden.
Kleine Weltchronik
FRANKFURT. Die amerikanische Armee will STEG-Waren im Werte von rund 75 Millionen DM zurückerwerben. Die amerikanische Armee soll vor allem an Kraftfahrzeugen, Maschinenteilen und allgemeinen Ersatzteilen interessiert sein.
BONN. In den Nachmittagsstunden des Fronleichnamstages entlud sich über der Bundeshauptstadt ein von wolkenbruchartigem Regen begleitetes Gewitter, das den gesamten Straßenverkehr für kurze Zeit lahmlegte. Mehrere Bäume stürzten um, wobei es einige Verletzte gab. Viele Keller gerieten unter Wasser.
BONN. Der Hauptausschuß der FDP forderte am Donnerstag in einer Entschließung die Überprüfung und den Abschluß aller Verfahren gegen Kriegsgefangene in den westlichen Ländern. Er appellierte insbesondere an Frankreich, „durch einen Abschluß der Verfahren die psychologischen Schranken zu beseitigen, die diese für die Bildung einer echten Schicksalsgemeinschaft des bedrohten Westens bedeuten“.
KÖLN. Die im Marburger Bund organisierten angestellten Ärzte der staatlichen und kommunalen Krankenanstalten werden vom 26. bis zum 29. Mai an der Urabstimmung über die Beteiligung an einem allgemeinen Streik im öffentlichen Dienst teilnehmen.
DÜSSELDORF. Im ersten Quartal dieses Jahres hat sich die Mitgliederzahl der 16 dem Deutschen Gewerkschaftsbund angeschlossenen Fachgewerkschaften um 191 612 erhöht. Der DGB hat damit insgesamt 5 641 602 Mitglieder.
MARBURG. Der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy traf zu einem überraschenden Besuch in Marburg ein, „um das deutsche Studentenleben einmal in seiner wahren Form und ohne große Vorbereitungen“ kennenzulernen. McCloy erörterte u. a. mit dem Club der Marburger Dozenten Erziehungsfragen.
ÜLZEN. Die letzten noch in Dänemark lebenden deutschen Flüchtlinge, darunter auch Deutsche aus der Sowjetzone, werden innerhalb der
nächsten vier Wochen im Flüchtlingsdurchgangslager Ülzen-Bohldamm erwartet.
BERLIN. Der stellvertretende Ministerpräsident der Sowjetzonenrepublik, Otto Nuschke (Ost-CDU), ist am Donnerstag in seiner Eigenschaft als Minister für kirchliche Angelegenheiten zur fünften Tagung für evangelischen Kirchenbau nach Nürnberg abgereist. Er wurde von der Kirchenkanzlei der evangelischen Kirche in Deutschland eingeladen.
LONDON. Der britische Außenminister Herbert Morrison ist am Donnerstagabend von seinen Besuchen in der Bundesrepublik und Österreich nach London zurückgekehrt. Über die Ergebnisse seiner Besprechungen mit den führenden Politikern beider Länder äußerte er sich sehr befriedigt.
MOSKAU. Die geplante Einbeziehung der Türkei und Griechenlands in den Atlantikpakt wird von der Sowjetpresse jetzt erstmalig kommentiert und heftig angegriffen. Die Aufnahme der beiden Staaten, schreibt die „Krasnaja Swedsa“, das Blatt der Roten Armee, sei nur ein Vorwand der amerikanischen „Imperialisten“, um militärische Stützpunkte errichten zu können.
TEHERAN. Neun sowjetische Flugzeuge sind in der nordpersischen Stadt Meschhed eingetroffen, um gemeinsam mit Spezialisten aus Großbritannien und den USA an der Bekämpfung der größten Heuschreckenschwärme teilzunehmen, die Persien seit 50 Jahren heimsuchten.
ADDIS ABEBA. Zwei schwedische Schulflugzeuge sind am Donnerstag in der Nähe von Addis Abeba zusammengestoßen und brennend abgestürzt. Fünf abessinlsche Flugschüler fanden den Tod.
SAIGON. In einer am Freitag herausgegebenen amtlichen Erklärung haben die französischen Behörden in Indochina jede Verantwortung für die kürzliche Hinrichtung von 20 Geiseln und die behinderte Berichterstattung darüber abgelehnt. Die Hinrichtungen seien unter der Jurisdiktion des vietnamesischen Staatschefs Bao Dai erfolgt.
Vormarsch nach Norden
Erneut über den 38 Breitengrad TOKIO. Die Streitkräfte der UN setzten am Freitag in Korea ihren schnellen Vormarsch nach Norden auf allen Frontabschnitten fort. Vereinzeltes Artillerie- und Granatfeuer ließ die Absicht der Chinesen erkennen, den alliierten Vormarsch zu verzögern.
Im Ostabschnitt der Front haben die Truppen der UN erneut den 38. Breitengrad überschritten. Ein gewaltiger Strom alliierter Panzer- und Artillerieverbände ergoß sich auf nordkoreanisches Gebiet, nachdem Vorausabteilungen die kommunistische Front aufgerissen hatten.
Der Vorsitzende des gemeinsamen Stabe» der amerikanischen Streitkräfte, General B r a d 1 e y, teilte am Donnerstag mit, die tatsächlichen Gesamtverluste der amerikanischen Streitkräfte in Korea betrügen 141 955 Mann Davon seien 69 276 Kampfverluste, 72 679 Mann seien durch andere Einwirkungen ausgefallen. Gefallen seien bisher insgesamt 10 680 Mann, durch andere Einwirkungen 612 ums Leben gekommen. 13 349 Mann werden vermißt.
Meldungen der amerikanischen Presse, von sowjetischer Seite seien Friedensfühler zu einer Beilegung des Koreakonflikts ausgestreckt worden, hat das amerikanische Außenministerium ausdrücklich dementiert.
Unterrichtete Beobachter in Korea äußerten am Freitag die Vermutung, daß die UN-Trup- pen bis zu einer Linie nördlich der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang vorstoßen, an der engsten Stelle der Halbinsel haltmachen würden und eine Pufferzone von etwa 130 km Tiefe bis zur mandschurischen Grenz« bestehen ließen. Ein neuerlicher Vorstoß bi» zur mandschurischen Grenze wird nicht für wahrscheinlich gehalten.
Lohnsteuersenkung in Ostzone
Trotzdem noch höher als in Bundesrepublik
BERLIN. Der Sowjetzonenministerrat beschloß am Donnerstag, die Steuern der Lohnempfänger und der „schaffenden Intelligenz“ zu senken. Trotzdem werden die Lohnsteuersätze auch nach dieser Senkung in der Sowjetzone im allgemeinen noch höher liegen als im Bundesgebiet und in Westberlin. Die Steuersätze bei der Lohnsteuer werden um durchschnittlich 10 Prozent gesenkt. Bei einem Monatslohn von 365 Ostmark beträgt die Lohnsteuer jetzt beispielsweise 41.40 Ostmark (bisher 46 Ostmark). Für den gleichen Monatslohn beläuft sich die Steuer in Westberlin und im Bundesgebiet auf 38.75 DM.
Außerdem beschloß der Ministerrat, die Preise bei Genußmitteln, wie Spirituosen, Bier und Tabakwaren, zu senken, und zwar um 20 bis 24 Prozent. In den staatlichen Läden der Handelsorganisation (HO) sind die Verkaufspreise für Marmelade, Dauerbackwaren und Süßwaren um durchschnittlich 20 Prozent gesunken. Ein Kilo Zucker wird künftig statt zwölf nur noch neun Ostmark kosten.
Prozeß gegen Remer
Verächtlichmachung der Bundesregierung VERDEN. Am Freitag begann in Verden/Aller ein Prozeß gegen den 39jährigen ehemaligen Generalmajor Remer, dem vorgeworfen wird, in öffentlichen Versammlungen der Sozialistischen Reichspartei die Bundesregierung, insbesondere Bundeskanzler Dr. Adenauer, verächtlich gemacht zu haben. Remer gab die ihm zur Last gelegte Äußerung im wesentlichen zu. Seine Behauptung, die Bundesregierung sei eine Befehlsempfangsstation der Westmächte, sei keine Beleidigung, sondern eine Tatsache. Seine Erklärung, die Mitglieder der Bundesregierung sollten als Fallschirmjäger über den russischen Linien abspringen, dann sei auch er bereit, den grauen Rock wieder anzuziehen, entspreche dem Denken vieler. Bei seiner Behauptung, die Bundesregierung habe für den Fall eines Kriegsausbruchs bereits ihre Flucht vorbereitet, habe er sich stets auf eine in deutschen bzw. kanadischen Zeitungen abgedruckte Meldung bezogen. Dagegen bestritt Remer, daß er gesagt habe, die deutsche Jugend solle nur deshalb Soldat werden, um den Ministem ihre Sessel zu erhalten.
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Der verschlossene MUND
17]
Roman von Doris Eicke
Alle Redite Verlagshaus Ueutlingen
„Na ja — man weiß nie, wo bei Dir der Ernst aufhört und der Spaß anfängt. Über- haupt, Du bist ja ein netter Kerl, und ich mag Dich gut leiden, aber Du würdest sehr gewinnen, wenn Du etwas weniger oberflächlich wärst. Man hat bei Dir immer den Verdacht, daß Du nichts wirklich ernst nimmst, Deine alte Freundschaft mit Niels vielleicht ausgenommen. Ich finde das schade.“
„Dich zum Beispiel nehme ich ziemlich ernst —.“
„Ich will aber nicht ziemlich, sondern ganz ernst genommen werden. Mit Niels hast Du Oft die interessantesten Gespräche, ich weiß das von ihm, komme ich aber dazu, gerätst Du vom tiefen Wasser gleich ins seichte, und das ärgert mich.“
„Bist Du denn eine so gute Schwimmerin?“ „Probiere es mal! Im Emst, Will, ich rede nicht gern lauter liebenswürdigen Unsinn mit Leuten, die ich leiden mag.“
„Ich werde mich bessern, aber heute noch nicht. Du mußt nämlich sowieso in fünf Minuten gehen. Iß noch etwas Kuchen.“
„Ach“, sagte Andry gedehnt und schaute auf ihre Armbanduhr, „ist es schon so weit? Ich habe noch gar keine Lust zu gehen.“ „Aber der Brief“, erinnerte sie Syamken erstaunt, „der muß Dir doch auf den Nägeln brennen.“
„Gar nicht. Die Vorfreude ist so unbeschreiblich schön, daß die Wirklichkeit gar nicht besser sein kann. Was meinst Du, wie reizvoll es sein wird, immer nur einen einzigen Satz auf einmal zu lesen, 'hn ganz \x> sich aufzu
nehmen, zu erfühlen und sich vorzustellen, was wohl im nächsten stehen wird. Dieses Spiel wird so beglückend sein, daß ich seinen Beginn gern noch ein wenig hinausschiebe, um damit auch sein Ende ferner zu rücken.“
„Du Kind!“ sagte er fast zärtlich. „Man könnte Niels beneiden, aber tatsächlich ist es der einzige, dem ich Dich gönne.“
„Ach Will, Du könntest doch überhaupt nichts mit mir anfangen.“
„Warum nicht? Nur der Mann, der die Eine nicht findet, geht zu den Vielen.“
„Hast Du denn jemals ernsthaft nach der Einen gesucht?“
„Auch Niels suchte nicht und fand sie doch.“ Er besaß die innere Bereitschaft zur Liebe. „Die habe ich ständig."
„Das bezweifle ich. Du bist für jedes Abenteuer aufgeschlossen —.“
„Kann man denn vorher wissen, ob es nicht zur Liebe führt? Ich bin eben neugierig.“
„Ich glaube, Du hast noch nie richtig geliebt, so daß es Dich gepackt und geschüttelt hätte.“ „Stimmt, aber diese Hitzegrade halte ich auch nicht für .notwendig, mir genügen die meinigen.“
„Will, ob Du doch anrufst? Ich bin ein inkonsequentes Frauenzimmer —.“
„Das ist ein Vorrecht Deines Geschlechts.“ Der Nachurlaub war in zwei Minuten bewilligt, und Andrea seufzte erleichtert, als das in Ordnung war.
„Ich habe gerade so Lust, Dir ins Gewissen zu reden. Meiner Meinung nach bekommt jeder Mann annähernd die Sorte Liebe, die er verdient.“
„Danke!“ sagte Syamken lakonisch.
„Ich glaube“, fuhr sie fort und kämpfte sichtlich mit ihren Hemmungen, „Du überschätzest die Wichtigkeit einer gewissen Seite der Liebe.“
„Diese Wichtigkeit drängt sich einem auf." „Aber man darf nicht zulassen, daß sie das Eigentliche überspielt.“
„Was ist das Eigentliche?“
„Die seelische Basis, die liebende Freundschaft.“
„Hat sie sich bei Dir bewährt in diesen Jahren?“ fragte er etwas spöttisch. Andrea starrte ihn betroffen an.
„Deine Frage ist nicht ganz unberechtigt“, gab sie zu. „Aber wir standen noch am Anfang. Wir kannten uns erst zweieinhalb Jahre, als die große Trennung kam, und das ist wenig. Alle Impulse aus dem tierischen Bereich wie Hunger, Durst, körperliches Liebesver- langen sind stark und gebieterisch, die seelischen Beziehungen aber wachsen und vertiefen sich langsam. Niels, der stärker nach innen lebt als ich, war darin schon viel weiter, bei ihm hat sich die seelische Bindung bewährt, ich mußte noch um ihre Bewährung ringen.“
„Andrea — ich weiß nicht, ob Du ganz ehrlich bist. Ich hatte immer den Eindruck, als ob Dir der Mann in Niels ebensosehr fehlte wie der — Freund.“
Das schmale Antlitz der jungen Frau überzog sich bei diesen Worten mit brennender Röte.
„Hab ich nicht recht? Es ist ganz falsch, daß Du Dich dieser Wahrheit schämst. Ein reicher Mensch wie Du muß auch diese Seite des Lebens bejahen.“
„Trotzdem, Will, ist die geistige Hingabe an den anderen das Entscheidende, jedenfalls in einer auf die Dauer abgestimmten Bindung."
„Das kommt auf die Temperamente an, und gerade da sehe ich die Gefahr eines Mißklanges zwischen Dir und Niels. Er wird immer mehr Geist als Körper sein, und das wird sich mit den Jahren so verstärken, daß Du Dich fest in der Hand halten mußt. Früher als Du denkst, wirst Du in die Lage kommen, Deine Theorien in die Praxis umsetzen zu müssen, darum ist es gut, wenn Du ehrlich an sie glaubst. Wahrheit ist für jeden Menschen, was er ehrlich für wahr hält, also auch —“, Syamken brach ab und lauschte. „Hast Du nichts gehört? Mir kam es vor, als
drehte draußen jemand einen Schlüssel im Schoß!“
„Ich habe nichts gemerkt. Im großen ganzen siehst Du Niels richtig, mich aber nicht ganz. Die Entwicklungsstufe, auf der Niels steht, empfinde ich als die höhere und trachte darum danach, mich zu ihr hinaufzuentwickeln.“ „Ich glaube nicht, daß es sich hier um ein« Entwicklungsstufe handelt. Niels hat ganz einfach das kühlere Blut, seine Reagenz auf sinnliche Reize ist die schwächere als die Deine, das ist kein Verdienst, vom Standpunkt der Natur aus vielleicht sogar ein Mangel.“
„Ein interessantes Gesprächsthema!“ sagte eine spöttische Stimme im Hintergrund, wo eine durch schwere Portieren verdeckte Tür ins Schlafzimmer führte. Wie vom Donner gerührt fuhren sie herum. Unter dem dunkelgrünen Tuch, das sie mit der Hand zurückgerafft hatte, stand Ulricke Syamken. „Es ist sicher eine dankenswerte Aufgabe für Dich, das gute Kind aufzuklären.“
Syamken hatte sich schnell gefaßt. „Dunkelgrün ist zwar eih dekorativer Hintergrund für Deine Blondheit, Ulricke, aber willst Du Dich nicht vielleicht bei uns niederlassen, da Du nun einmal da bist?“ Er stand auf und rückte einen Sessel heran. „Bitte!“ „Gib mir eine Zigarette! Tag, Andrea. Dich erwartete ich nicht hier zu finden.“
„Du warst sicher auf größere Sensationen gefaßt, daher der gedämpfte Auftritt. Möchtest Du Tee?“
„Selbstverständlich.“
„Kommst Du direkt aus St. Moritz?“ ermannte sich nun auch Andrea, die in Gegenwart von Wills schöner, eleganter Frau stets von tausend Hemmungen überfallen wurde.
„Mit ein paar Zwischenstationen, ja. Ich hatte plötzlich genug vom Schnee, außerdem schrieb Mama, daß Butzi Masern habe.“
„So? Mir hat sie nichts dergleichen mitgeteilt.“ (Fortsetzung folgt)