NUMMER 78

MITTWOCH, 23. MAI 1951

Bemerkungen zum Tage

Hotfmanns Torheiten

cz. Mit tiefem Bedauern muß eine erneute Verschärfung an der Saar durch Verbot der Demokratischen Partei (DPS) registriert wer­den. Ministerpräsident Hoffmann scheint es geradezu darauf anzulegen, das Saarland im­mer wieder zum Gegenstand von Erörterungen zu machen, die nicht sehr schmeichelhaft für ihn sind, bestätigt er doch damit den ihm wie­derholt gemachten Vorwurf, er habe einen Polizeistaat errichtet, der vor allem dazu diene, eine Annäherung der Saar an die Bundesrepu­blik unter Hervorhebung der Bindungen an Frankreich zu verhindern. Sein Verhalten ist jedenfalls sowohl dem Europagedanken als auch dem deutsch-französischen Verhältnis in keiner Weise förderlich, so daß der Vorwurf, den er gegen die DPS richtete, sie störe die europäische Einigung, auf ihn selbst zurück­fällt. Allein schon diese Erwägung hätte ihn von der Torheit eines Verbots der Demokrati­schen Partei abhalten müssen, ob ihm diese Partei in ihrer politischen Zielsetzung nun paßt oder nicht. Gleichgültig auch, ob der fran­zösische Außenminister seine Mißbilligung über das Verhalten der DPS ihm schriftlich zustellte. Bundeskanzler Adenauer traf ins Schwarze, als er das Partei verbot ein Symp­tom für die Schwäche des Regimes Hoffmann bezeichnete. Von einer umstürzlerischen Tätig­keit der DPS kann doch beim besten Willen keine Rede sein, zumal in der Saarfrage bis zum Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland noch alles offen ist. Auch hier müßte die Selbsterkenntnis Platz greifen, daß mit einem Verbot wenig getan ist. Hätte Hoff­mann sich in vergangenen Jahren selbst um ein annehmbares Verhältnis zur Bundesregie­rung bemüht, wäre nicht nur manche Polemik um den Status der Saar unterblieben, sondern hätte es auch nie zur Bildung der jetzt verbo­tenen DPS kommen brauchen. Uns selbst mag dieses undemokratische Verhalten aber ver­deutlichen, wie wenig man mit Verboten aus­richtet, wie sie anderswo beurteilt werden und daß es immer besser ist, Probleme in eigener Initiative einer Lösung näher zu bringen, als mit Mitteln gegen unliebsame Lösungsver­suche vorzugehen, die nur etwas verhindern, aber keine einzige Frage beantworten.

Weitgehend einig

Blücher kritisiert Ruhrbehörde

PARIS. Britische, amerikanische und fran­zösische Regierungssachverständige sind am Montagnachmittag zu Besprechungen über eine evtl. Auflösung der Ruhrbehörde bzw. die Übernahme ihrer Funktionen durch die Montanunion in Paris zusammengetreten. Nach Mitteilung gutunterrichteter Kreise in Paris wurde bereits in dieser ersten Sitzung zwi­schen den Vertretern der drei Staaten weit­gehendes Einvernehmen erzielt. Man erwar­tet, daß Großbritannien und die USA der Auflösung der internationalen Ruhrbehörde zustimmen werden.

Gegen den letzten Beschluß der internatio­nalen Ruhrbehörde, der die deutsche Kohlen­exportquote auch für das dritte Quartal 1951 auf 6,2 Millionen t festgesetzt hat, wandte sich in Bonn Vizekanzler und ERP-Minister Franz Blücher in sehr scharfer Form. Er beschuldigte die Ruhrbehörde, die struktu­relle Sonderlage der Bundesrepublik und ih­ren außerordentlich gestiegenen Kohlenbedarf bei diesem Beschluß völlig außer acht gelas­sen zu haben. Eine deutsche Kohlenkrise würde sich auf die Gesamteuropäische Wirt­schaft genau so auswirken wie die Zahlungs­bilanzkrise. Blücher betonte, daß Deutschland bereit sei,, zur Überwindung der europäischen Kohlenkrise so viel zu exportieren, wie irgend mit den deutschen Interessen vereinbar. Ein Export von 5,122 Millionen t, wie er von den deutschen Vertretern gefordert wurde, sei je­doch die ,,allerhöchste Grenze für den Koh­lenexport.

Schäffer bleibt bei Sonderumsa^steuer

Bundesregierung verhandelt mit Bundestagsfraktionen über Steuerprobleme

Die armen Junggesellen

hjs. Wenn man den Statistikern Britanniens Glauben schenken darf, müßte ein Sultan fast so alt werden wie Methusalem. Und dies we-

BONN. Die Finanz- und Wirtschaftssachver­ständigen der Bonner Regierungsfraktionen verhandelten am Montag mit dem Bundeskanz­ler, dem Bundesfinanzminister und dem Bun­deswirtschaftsminister über das gesamte Pro­blem der Anforderungen an den Bundeshaus­halt und ihre Deckung. Auf einer Pressekon­ferenz erklärte Dr. Adenauer, daß eine 25- prozentige Rentenerhöhung und das Herauf­setzen der Beamtengehälter im Mittelpunkt der Beratungen gestanden hätten. Eine beson­dere Kommission sei damit beauftragt, die Be­schlüsse zu formulieren.

Aus Regierungskreisen verlautet, daß Bun­desfinanzminister Schäffer an der Sonderum­satzsteuer festhält. Der Entwurf dieses Geset­zes wurde dem Bundesrat am vergangenen Wochenende zur Stellungnahme zugeleitet. In einem Memorandum bezeichnete Schäffer es als seine Hauptaufgabe, das Volkseinkommen durch gesteigerte Produktion und neue Ar­beitsmöglichkeiten zu mehren und die Lebens­haltung der breiten Masse Stufe für Stufe zu heben. Um das labile Preis- und Lohn­gefüge aber durch steuerliche Maßnahmen nicht zu gefährden, habe er den Weg gewählt, neben einem wesentlich verstärkten Ausschöp­fen der Einkommen- und Körperschaftssteuer und einer Erhöhung des Tarifs der Umsatz-

Kommt es zum Streik?

Urabstimmung der ÖTV STUTTGART. Rund 650 000 Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik werden nach einem Beschluß der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Trans­port und Verkehr (ÖTV) am Freitag und Sams­tag darüber abstimmen, ob sie ihre Lohnfor­derungen mit einem Streik durchsetzen wollen, nachdem alle in den letzten Monaten geführten Verhandlungen der Tarifpartner gescheitert sind. Die Gewerkschaftsleitung erklärte am Montag in Stuttgart, daß sie die letzten Ange­bote der kommunalen Arbeitgeberverbände und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder als völlig undiskutabel ablehne.

Steuer den gehobenen und den Luxusverbrauch durch einen scharfen Schnitt einzuengen und damit das Hineintreiben in eine Inflations­politik zu verhindern.

Aus Bonn wird bekannt, daß sich der Schwerpunkt der Diskussion um die Steuern und Finanzprobleme zunehmend von der Son­derumsatzsteuer auf das Erschließen neuer Einnahmequellen zur Finanzierung der Ren­tenerhöhung und der Erhöhung der Beamten­gehälter sowie -Pensionen verschiebe. Für diese beiden Ausgaben, die vom Parlament mit Nachdruck gefordert würden, stünden weder aus einer Sonderumsatzsteuer noch aus der als Ersatz dafür vorgeschlagenen Erhöhung der Umsatzsteuer auf 4Ü2 Prozent irgendwelche Mittel bereit. Einsparungen oder verstärktes Ausschöpfen der Einkommen- und Körper­schaftssteuer würden erst nach längerer Zeit finanziell wirksam. Das Problem, auf welche Art schnell Gelder beschafft werden könnten, bleibe daher vorerst ungelöst. Schäffer halte daran fest, daß die Steuerschraube nicht noch stärker angezogen werden könne.

Am Dienstag beschäftigte sich das Bundes­kabinett unter Vorsitz von Bundeskanzler Dr. Adenauer gleichfalls mit Problemen der künftigen Steuerpolitik. Entscheidungen sind noch keine getroffen Worden.

Von einem Streik würden u. a. sämtliche Verkehrs- und Versorgungsbetriebe der Städte und Gemeinden, das Schleusenpersonal der Binnenschiffahrt sowie alle Behördenangestell­ten einschließlich der gesamten Sozialversiche­rung betroffen. Ausgenommen sind nur die Po­lizei, Feuerwehr und das Gesundheitswesen.

Die Gewerkschaft forderte eine Lohner­höhung von rund 20 Pfennig pro Stunde für Arbeiter und eine mindestens 20prozentige Ge­haltsaufbesserung für die Angestellten im öf­fentlichen Dienst. Die Angebote der Tarifpart­ner belaufen sich nach Angaben der Gewerk­schaft ohne die bisher gewährten Zulagen auf 2 bis 6 Pfennig für den Arbeiterstundenlohn und eine Gehaltserhöhung von 15 Prozent weniger für die Angestellten.

gen seiner Frauen. Jawohl, denn es ist stati­stisch belegt, daß Ehefrauen lebensverlän­gernd auf ihre Gemahle wirken. Analog zu den Wechselwirkungen der Harmonie in jeder guten Ehe verlängert andererseits ein Ehe­mann auch das Leben seiner Gattin um einige Jahre doch ist das konservierende Fluidum des Ehemannes bei weitem nicht so intensiv wie das der Ehefrau.

Nach dem Bericht des königlichen Statisti­schen Amtes in London liegt in Großbritan­nien die Sterblichkeit bei Junggesellen im Al­ter von 45 bis 49 Jahren um 80 Prozent höher als bei Ehemännern. Eine andere Meldung, diesmal aus USA, stiftet Verwirrung. Wie Dr. Adams von der Penn-Universität in Penn­sylvania mitteilt, endet in den USA jede dritte Ehe mit einer Scheidung oder Trennung. Diese Scheidungstendenz hält weiter an. Wenn diese Paare die Statistiken des königlich bri­tischen Statistischen Amtes kennen würden, blieben sie bestimmt beieinander. Abgesehen davon, würde uns eine Statistik über die Le­bensaussichten der Haremsbesitzer brennend interessieren.

Entsdieidung bei McCioy

Revisionsanträge abgelehnt FRANKFURT. Das amerikanische Außenmi­nisterium hat den amerikanischen Hohen Kom­missar in Deutschland, John M c C1 o y, am Montag davon unterrichtet, daß der Revisions­antrag von fünf der zum Tode verurteilten Landsberger Häftlinge verworfen worden ist. Gleichzeitig zog das State Department seine Anweisung an McCioy zurück, die Urteilsvoll­streckung bis zur Erledigung der Revisionsan­träge auszusetzen. Das Schicksal der Lands­berger Häftlinge ist damit in die Hände des Hohen Kommissars gelegt, der die letzten An­weisungen zu treffen hat. Zwei Häftlinge un­terstehen der Gerichtsbarkeit des Justizmini­steriums, das vermutlich ebenfalls in Kürze über ihr Schicksal entscheiden soll.

Klausener-Mörder geständig

12 Jahre Zuchthaus beantragt

Kleine Weltchronik

WIESBADEN. Die hessische Regierung hat am Montag Redeverbote für den SRP-Vorsitzenden Dr. Fritz Doris und die SRP-Vorstandsmitglie- der v. Bothmer und Graf Westarp verfügt. Für Otto Ernst Remer bestand bereits Redeverbot.

BONN. Die ehemaligen Berufssoldaten seien nach wie vor bereit, ihr Vaterland zu verteidi­gen, kam in einer Verlautbarung des Bundes der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen (BVW) am Montag zum Ausdruck. Nach einer dreitägigen Tagung, an der 120 Vertreter der zwölf Landes­verbände teilnahmen der BVW zählt etwa 75 000 Mitglieder im Bundesgebiet, wurde in einer Erklärung gefordert, daß die diffamieren­den und entrechtenden Bestimmungen gegenüber den ehemaligen Berufssoldaten aufgehoben wür­den. Admiral a. D. Hansen wurde wieder zum ersten Vorsitzenden gewählt.

BONN. Der Präsident der Beratenden Ver­sammlung, der belgische Sozialistenführer Paul Henri Spaak, traf am Montagabend zu einem zweitägigeninoffiziellen Besuch in Bonn ein. Am Dienstagvormittag wurde der ehemalige bel­gische Ministerpräsident und Außenminister von Bundespräsident Heuß empfangen. Am Nachmit­tag hatte er eine Besprechung mit führenden so­zialdemokratischen Führern, heute vormittag wird er mit Bundeskanzler Adenauer Zusam­mentreffen.

HAMBURG. Schiffsjungen werden in Zukunft wieder auf Segelschiffen ihre Ausbildung erhal­ten und die Ozeane durchqueren. Die Reederei Schliewen hat die früheren deutschen Segel­schiffeAmir undPassat im Ausland auf­gekauft und will sie nach einer gründlichen Über­holung zur Ausbildung von 60 bis 80 Schiffs­jungen im Frachtverkehr einsetzen. Heimathafen der mit Hilfsmotoren ausgestatteten Segler wird Lübeck sein.

Berlin. Etwa 200 Sowjetsoldaten fanden sich am Sonntagnachmittag in der Reichstagsruine im britischen Sektor ein und gaben dort mehrere Pistolenschüses ab. Als die von Passanten be­nachrichtigte britische Militärpolizei eintraf, wa­ren die Rotarmisten schon wieder über die nahe Sektorengrenze in den Ostsektor zurückkehrt.

LONDON. Der amerikanische Vorsitzende des Exekutivausschusses der Atlantikpaktmächte, Ch. Spofford, forderte den Ausschuß auf, die Mög­lichkeit einer Aufnahme Griechenlands und der Türkei als Vollmitglieder in den Atlantikpakt zu prüfen.

LONDON. Großbritannien hat bei der Regie­rung des kommunistischen Chinas gegen die Ver­haftung ohne Gerichtsverfahren von etwa 50 westlichen Staatsangehörigen protestiert, auf den vor einem Monat erfolgten Einspruch jedoch bis­her keine Antwort erhalten. Es handelt sich um vier britische, sechs kanadische, drei australische und rund 35 amerikanische Staatsbürger, über die seit ihrer Festnahme jede Nachricht fehlt.

PARIS. Der Gesundheitszustand Marschall Pe- tains verschlechtert sich zusehends. Der Kranke soll sich in einem äußerst schwachen Zustand be­finden und praktisch keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Eine Ärztekommission wird sich demnächst nach der Insel Yeu begeben, um fest­zustellen, ob der gegenwärtige Zustand des Mar­schalls eine Überführung nach einem außerhalb der Festung gelegenen Ort erlaubt.

NEW YORK. Jugoslawien hat der UN in einem offiziellen Bericht mitgeteilt, daß es alle Kriegs­gefangenen des zweiten Weltkrieges repatriiert habe. Lediglich 431 Deutsche und 27 Österreicher befänden sich zur Verbüßung ihrer Strafen, zu denen sie als Kriminelle oder Kriegsverbrecher verurteilt wurden, noch im Gewahrsam der jugo­slawischen Behörden.

BERLIN. Der 47jährige frühere SS-Haupt- sturmführer Kurt Gildisch gestand am Montag vor dem Schwurgericht in Berlin- Moabit, daß er während der Röhm-Affäre am 30. Juli 1934 den Ministerialdirektor im Reichs­verkehrsministerium und Leiter derKatho­lischen Aktion, Dr. Erich Klausener, er­schossen hat.

Er habe den Mord an Klausener auf direk­ten Befehl des damaligen SS-Gruppenftihrers Heydrich durchgeführt.

Der Staatsanwalt beantragte am Montag ge­gen Gildisch eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren. Das Urteil wird am Donnerstag ver­kündet.

Urteile imPolizeiskandal

FRANKFURT. Nach mehr als sechswöchi­ger Verhandlung wurde am Montag unter großem Publikumsandrang im sogenannten Frankfurter Polizeiskandalprozeß das Urteil gegen die 13 Angeklagten verkündet. Das Landgericht Frankfurt verurteilte die beiden Hauptangeklagten, Kriminalassistent Kurt Henkel und Rechtsanwalt Dr. Willy La­fontaine, wegen Bestechung, Diebstahl« und Steuerhehlerei zu drei Jahren, neun Mo­naten bzw. drei Jahren Gefängnis und 1500 bzw. 5000 DM Geldstrafe. Die übrigen elf Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen zwi­schen sechs Monaten und 2*/a Jahren.

Die Verurteilten hatten große Mengen Schwarzhandelswaren veruntreut und in ei­nigen Fällen gegen Entgelt den Schwarzhänd­lern zurückgegeben. Allein in einem Fall wa­ren rund 1,4 Millionenschwarze Zigaretten nur zum Schein beschlagnahmt worden.

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Der verschlossene MUND

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Roman von Doris Eicke

Alle Hechte Vertegihaut Reutlingen

V.

Die Sache mit Signor Bolla schien doch wohl falscher Alarm zu sein, jedenfalls lebte er weiterhin unangefochten im Reichshof und sandte Andrea zuweilen Blumen in allen Abstufungen hochroter Farbe. Meist versah er diese Sendungen mit einem in schmieri­gem Ton und in französischer Sprache ab­gefaßten Liebesbrief, der stilistisch wie or­thographisch mangelhaft war. Andrea ant­wortete ihm nie und nahm die Blumen auch nie in ihr eigenes Zimmer mit, die Halle kam dagegen zu ebenso billigem wie dekorativem Blumenschmuck.

Die Erfahrung mit Bolla hatte Andrea be­merkenswert ernüchtert. Sie schämte sich der kindischen Arglosigkeit, mit der sie dieses in seinen Begleitumständen so überspitzte Stellenangebot entgegengenommen hatte, als sei so etwas die Regel. So zurückhaltend sie sonst den im Hotel zahlreichen Annäherungs­versuchen gegenüber auch war, hier hatte der blinde Vergeltungstrieb sie alle Vorsicht vergessen lassen. Ihre große Geste des Pro­testes und des beleidigten Stolzes hätte mit Sicherheit kläglich geendet, womöglich mit einem Hilfeschrei an Syamken oder an Niels selbst. Eine solche Erkenntnis war heilsam für sie, und sie war sich dessen durchaus bewußt.

Was sie seit langem nicht mehr getan hatte, die Wochen bis zu Niels Rückkehr zu zählen, gewann plötzlich neuen Reiz. Ver­schüttete Hoffnung begann sich leise zu regen, erstorbene Sehnsucht blühte verborgen und

noch zaghaft neu in ihr auf. Der sichtbare Ausdruck dieser sich anbahnenden und ihr selbst noch kaum bewußten Wandlung ihrer Gefühle, waren ihre fast täglichen Anrufe bei Will. Schamhaft verschwieg sie dabei den wirklichen Grund, aber ihre Vorwände waren meist so dürftig und durchsichtig, daß Syam­ken die Lage durchaus richtig beurteilte und mit Ungeduld Mercks angekündigten Brief erwartete. Er begriff nicht, warum Niels so lange dafür brauchte. Bei aller aufrichtigen Freundschaft identifizierte er sich nicht ge­nügend mit ihm, um das tiefe seelische Leid dieses verschlossenen Mannes ganz zu erfas­sen. Es hatte in Syamkens Leben noch nie eine Frau gegeben, die er ernst genug ge­nommen hätte, um an ihr zu leiden. Frauen waren für ihn ein unerläßlicher Faktor des Lebensgenusses, aber nichts, das irgendwie an die Fundamente rührte. Im Grunde ver­urteilte er die Art von Liebe, wie Merck sie empfand, als übertrieben bürgerlich, um nicht ein schärferes Wort zu gebrauchen. Treue war etwas sündhaft Langweiliges, im Neh­men wie im Geben, in der Abwechslung allein lagen Farbe und Reiz. Man konnte seiner Frau. Ulricke, vieles nachsagen, aber spieß­bürgerlich war sie nicht. Nach kleinen, im Grunde amüsanten Anwandlungen von Eifer­sucht, kam sie stets schnell zur Vernunft und ließ mit sich reden.

Syamken hatte Niels zweimal kurz hinter­einander besucht. Man hatte ihm ein hüb­sches, großfenstriges Zimmer zugewiesen, das er mit einem Major der Bremer Schutz­polizei teilte. Das Sanatorium war fast nur von Bremern belegt, was gewisse Gefahren in sich barg, doch waren es vornehmlich Be­amte der Hansestadt und stammten somit aus Kreisen, in denen Niels sich nicht bewegt hatte. Den einen oder anderen kannte er vom Sehen. Die ganze Zeit über, die er in Mölln war, verfolgte ihn die Sorge, einen Bekann­ten zu treffen. Wäre er von Natur aus nicht so beharrlich gewesen, so hätte er dieser zu

spät erkannten Gefahr wegen nachträglich noch das Sanatorium gewechselt. Nun aber hatte er sich hier eingewöhnt, der Chefarzt, als Neustädter Kind ein engerer Landsmann von ihm, sagte ihm zu. Er wußte, daß dieser Um­stand für seine Heilung wichtig war. Bei seiner zurückhaltenden Natur wirkte er leicht steif und war auch wirklich schwer zugäng­lich. Seine seelische Krise hatte diese Tat­sache noch verstärkt. Ein Arzt, der nicht seine Sympathie und vor allem seine Achtung als Mensch besessen hätte, wäre auf ihn von ge­ringem Einfluß geblieben. So aber fügte er sich willig in alles und war offensichtlich ein Musterpatient. Es gab bei ihm nirgends ver­steckte Rauchwaren oder Alkohol.

Nach Anlagen des Pneumothorax hatte er zunächst einige Tage fest gelegen. Mit diesen verband ihn später fast keine Erinnerung mehr, weil er sie fast restlos durchschlafen hatte, manchmal war es sogar schwer gewe­sen, ihn zu den Mahlzeiten zu wecken. Diese Schlafsucht war den Schwestern unheimlich, denn sie wußten von seinem persönlichen Schicksal nichts.

Nach einer Woche hatte sich Mercks Aus­sehen verblüffend gewandelt, die Augen wa­ren klar und wie reingefegt von aller trü­ben Erschöpfung, die tiefen Schatten unter den Augen begannen zu weichen. Als Niels aufstehen durfte und sich zum ersten Male wieder selbst rasierte, schaute er fast bestürzt in den Spiegel, dämpfte aber dann seine auf­keimende Freude mit der Vermutung, er habe hier einen jener schönfärberischen Spiegel vor sich, wie sie Friseure und Schneiderinnen mit Vorliebe brauchen. Er glaubte die Wand­lung erst, als er Syamkens unverhohlenes Er­staunen sah.

Niels machte nun dreimal täglich einen län­geren Spaziergang, dazwischen absolvierte er gewissenhaft seine Liegekuren. Er war in die Gegend verliebt. Wohl lag das in der Nähe von Lübeck befindliche Mölln in der Nord­deutschen Tiefebene und wußte nichts von

den klimatischen Vorzügen einer Gebirgshöhe, doch war seine Lage ausgesprochen idyllisch, eingebettet in große Laub- und Fichtenwäl­der. Hier konnte sich Niels stundenlang er­gehen, und ihre fast heilige Ruhe legte sich wohltuend auf sein Gemüt und gab ihm die Kraft, auf einen neuen Anfang und eine Wie­dervereinigung mit Andry im alten Sinn ihrer zauberhaften Liebe zu hoffen.

Der Brief, der endlich in der vierten Woche den Weg zu Syamken fand, hatte viele Vor­gänger gehabt, deren unrühmliches Ende im Aufflackem eines Streichholzes ihm immer wieder notwendig erschienen war. Hatte ihn früher da9 Bewußtsein gehemmt, daß seine Briefe Wort für Wort gelesen und mit äußer­stem Mißtrauen selbst auf einen verborgenen Sinn geprüft wurden, so quälte ihn jetzt die Sorge, Andrys liebesgeschärftem Instinkt durch ein unbedachtes Wort etwas von seiner inneren Verfassung zu verraten. So wie sie all die Jahre in dem irrigen Glauben gewe­sen war, es gehe ihm seinen glänzenden Ge­haltsverhältnissen entsprechend, so sollte sie bis zuletzt von Sorgen um sein Ergehen .ver­schont bleiben. Dieses Verlangen mit der Not­wendigkeit in Einklang zu bringen, sie wenig­stens andeutungsweise auf seine äußere Ver­änderung vorzubereiten, verursachte ihm viel Kopfzerbrechen.

Als Andrea von Syamken am Telephon ver­langt wurde, wußte sie sofort, daß Niels ge­schrieben hatte. Ihr Herz klopfte unruhig, und ihre Stimme klang zaghaft, als sie sich mel­dete.

Andrea, heute habe ich eine gute Nach­richt für Dich.

Ich weiß: Niels hat geschrieben.

Er hat auch einen Brief für Dich beige­legt.

Für mich? Warum schreibt er denn zu Dir? Früher ging doch alle Post über Bre­men.

Das wird er Dir selber erklären."

(Fortsetzung folgt)