NUMMER 78
MITTWOCH, 23. MAI 1951
Bemerkungen zum Tage
Hotfmanns Torheiten
cz. Mit tiefem Bedauern muß eine erneute Verschärfung an der Saar durch Verbot der Demokratischen Partei (DPS) registriert werden. Ministerpräsident Hoffmann scheint es geradezu darauf anzulegen, das Saarland immer wieder zum Gegenstand von Erörterungen zu machen, die nicht sehr schmeichelhaft für ihn sind, bestätigt er doch damit den ihm wiederholt gemachten Vorwurf, er habe einen Polizeistaat errichtet, der vor allem dazu diene, eine Annäherung der Saar an die Bundesrepublik unter Hervorhebung der Bindungen an Frankreich zu verhindern. Sein Verhalten ist jedenfalls sowohl dem Europagedanken als auch dem deutsch-französischen Verhältnis in keiner Weise förderlich, so daß der Vorwurf, den er gegen die DPS richtete, sie störe die europäische Einigung, auf ihn selbst zurückfällt. Allein schon diese Erwägung hätte ihn von der Torheit eines Verbots der Demokratischen Partei abhalten müssen, ob ihm diese Partei in ihrer politischen Zielsetzung nun paßt oder nicht. Gleichgültig auch, ob der französische Außenminister seine Mißbilligung über das Verhalten der DPS ihm schriftlich zustellte. Bundeskanzler Adenauer traf ins Schwarze, als er das Partei verbot ein Symptom für die Schwäche des Regimes Hoffmann bezeichnete. Von einer umstürzlerischen Tätigkeit der DPS kann doch beim besten Willen keine Rede sein, zumal in der Saarfrage bis zum Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland noch alles offen ist. Auch hier müßte die Selbsterkenntnis Platz greifen, daß mit einem Verbot wenig getan ist. Hätte Hoffmann sich in vergangenen Jahren selbst um ein annehmbares Verhältnis zur Bundesregierung bemüht, wäre nicht nur manche Polemik um den Status der Saar unterblieben, sondern hätte es auch nie zur Bildung der jetzt verbotenen DPS kommen brauchen. Uns selbst mag dieses undemokratische Verhalten aber verdeutlichen, wie wenig man mit Verboten ausrichtet, wie sie anderswo beurteilt werden und daß es immer besser ist, Probleme in eigener Initiative einer Lösung näher zu bringen, als mit Mitteln gegen unliebsame Lösungsversuche vorzugehen, die nur etwas verhindern, aber keine einzige Frage beantworten.
Weitgehend einig
Blücher kritisiert Ruhrbehörde
• PARIS. Britische, amerikanische und französische Regierungssachverständige sind am Montagnachmittag zu Besprechungen über eine evtl. Auflösung der Ruhrbehörde bzw. die Übernahme ihrer Funktionen durch die Montanunion in Paris zusammengetreten. Nach Mitteilung gutunterrichteter Kreise in Paris wurde bereits in dieser ersten Sitzung zwischen den Vertretern der drei Staaten weitgehendes Einvernehmen erzielt. Man erwartet, daß Großbritannien und die USA der Auflösung der internationalen Ruhrbehörde zustimmen werden.
Gegen den letzten Beschluß der internationalen Ruhrbehörde, der die deutsche Kohlenexportquote auch für das dritte Quartal 1951 auf 6,2 Millionen t festgesetzt hat, wandte sich in Bonn Vizekanzler und ERP-Minister Franz Blücher in sehr scharfer Form. Er beschuldigte die Ruhrbehörde, die strukturelle Sonderlage der Bundesrepublik und ihren außerordentlich gestiegenen Kohlenbedarf bei diesem Beschluß völlig außer acht gelassen zu haben. Eine deutsche Kohlenkrise würde sich auf die Gesamteuropäische Wirtschaft genau so auswirken wie die Zahlungsbilanzkrise. Blücher betonte, daß Deutschland bereit sei,, zur Überwindung der europäischen Kohlenkrise so viel zu exportieren, wie irgend mit den deutschen Interessen vereinbar. Ein Export von 5,122 Millionen t, wie er von den deutschen Vertretern gefordert wurde, sei jedoch die ,,allerhöchste Grenze für den Kohlenexport“.
Schäffer bleibt bei Sonderumsa^steuer
Bundesregierung verhandelt mit Bundestagsfraktionen über Steuerprobleme
Die armen Junggesellen
hjs. Wenn man den Statistikern Britanniens Glauben schenken darf, müßte ein Sultan fast so alt werden wie Methusalem. Und dies we-
BONN. Die Finanz- und Wirtschaftssachverständigen der Bonner Regierungsfraktionen verhandelten am Montag mit dem Bundeskanzler, dem Bundesfinanzminister und dem Bundeswirtschaftsminister über das gesamte Problem der Anforderungen an den Bundeshaushalt und ihre Deckung. Auf einer Pressekonferenz erklärte Dr. Adenauer, daß eine 25- prozentige Rentenerhöhung und das Heraufsetzen der Beamtengehälter im Mittelpunkt der Beratungen gestanden hätten. Eine besondere Kommission sei damit beauftragt, die Beschlüsse zu formulieren.
Aus Regierungskreisen verlautet, daß Bundesfinanzminister Schäffer an der Sonderumsatzsteuer festhält. Der Entwurf dieses Gesetzes wurde dem Bundesrat am vergangenen Wochenende zur Stellungnahme zugeleitet. In einem Memorandum bezeichnete Schäffer es als seine Hauptaufgabe, das Volkseinkommen durch gesteigerte Produktion und neue Arbeitsmöglichkeiten zu mehren und die Lebenshaltung der breiten Masse Stufe für Stufe zu heben. Um das labile Preis- und Lohngefüge aber durch steuerliche Maßnahmen nicht zu gefährden, habe er den Weg gewählt, neben einem wesentlich verstärkten Ausschöpfen der Einkommen- und Körperschaftssteuer und einer Erhöhung des Tarifs der Umsatz-
Kommt es zum Streik?
Urabstimmung der ÖTV STUTTGART. Rund 650 000 Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik werden nach einem Beschluß der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) am Freitag und Samstag darüber abstimmen, ob sie ihre Lohnforderungen mit einem Streik durchsetzen wollen, nachdem alle in den letzten Monaten geführten Verhandlungen der Tarifpartner gescheitert sind. Die Gewerkschaftsleitung erklärte am Montag in Stuttgart, daß sie die letzten Angebote der kommunalen Arbeitgeberverbände und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder als „völlig undiskutabel“ ablehne.
Steuer den gehobenen und den Luxusverbrauch durch einen scharfen Schnitt einzuengen und damit das Hineintreiben in eine Inflationspolitik zu verhindern.
Aus Bonn wird bekannt, daß sich der Schwerpunkt der Diskussion um die Steuern und Finanzprobleme zunehmend von der Sonderumsatzsteuer auf das Erschließen neuer Einnahmequellen zur Finanzierung der Rentenerhöhung und der Erhöhung der Beamtengehälter sowie -Pensionen verschiebe. Für diese beiden Ausgaben, die vom Parlament mit Nachdruck gefordert würden, stünden weder aus einer Sonderumsatzsteuer noch aus der als Ersatz dafür vorgeschlagenen Erhöhung der Umsatzsteuer auf 4Ü2 Prozent irgendwelche Mittel bereit. Einsparungen oder verstärktes Ausschöpfen der Einkommen- und Körperschaftssteuer würden erst nach längerer Zeit finanziell wirksam. Das Problem, auf welche Art schnell Gelder beschafft werden könnten, bleibe daher vorerst ungelöst. Schäffer halte daran fest, daß die Steuerschraube nicht noch stärker angezogen werden könne.
Am Dienstag beschäftigte sich das Bundeskabinett unter Vorsitz von Bundeskanzler Dr. Adenauer gleichfalls mit Problemen der künftigen Steuerpolitik. Entscheidungen sind noch keine getroffen Worden.
Von einem Streik würden u. a. sämtliche Verkehrs- und Versorgungsbetriebe der Städte und Gemeinden, das Schleusenpersonal der Binnenschiffahrt sowie alle Behördenangestellten einschließlich der gesamten Sozialversicherung betroffen. Ausgenommen sind nur die Polizei, Feuerwehr und das Gesundheitswesen.
Die Gewerkschaft forderte eine Lohnerhöhung von rund 20 Pfennig pro Stunde für Arbeiter und eine mindestens 20prozentige Gehaltsaufbesserung für die Angestellten im öffentlichen Dienst. Die Angebote der Tarifpartner belaufen sich nach Angaben der Gewerkschaft ohne die bisher gewährten Zulagen auf 2 bis 6 Pfennig für den Arbeiterstundenlohn und eine Gehaltserhöhung von 15 Prozent weniger für die Angestellten.
gen seiner Frauen. Jawohl, denn es ist statistisch belegt, daß Ehefrauen lebensverlängernd auf ihre Gemahle wirken. Analog zu den Wechselwirkungen der Harmonie in jeder guten Ehe verlängert andererseits ein Ehemann auch das Leben seiner Gattin um einige Jahre — doch ist das konservierende Fluidum des Ehemannes bei weitem nicht so intensiv wie das der Ehefrau.
Nach dem Bericht des königlichen Statistischen Amtes in London liegt in Großbritannien die Sterblichkeit bei Junggesellen im Alter von 45 bis 49 Jahren um 80 Prozent höher als bei Ehemännern. Eine andere Meldung, diesmal aus USA, stiftet Verwirrung. Wie Dr. Adams von der Penn-Universität in Pennsylvania mitteilt, endet in den USA jede dritte Ehe mit einer Scheidung oder Trennung. Diese Scheidungstendenz hält weiter an. Wenn diese Paare die Statistiken des königlich britischen Statistischen Amtes kennen würden, blieben sie bestimmt beieinander. Abgesehen davon, würde uns eine Statistik über die Lebensaussichten der Haremsbesitzer brennend interessieren.
Entsdieidung bei McCioy
Revisionsanträge abgelehnt FRANKFURT. Das amerikanische Außenministerium hat den amerikanischen Hohen Kommissar in Deutschland, John M c C1 o y, am Montag davon unterrichtet, daß der Revisionsantrag von fünf der zum Tode verurteilten Landsberger Häftlinge verworfen worden ist. Gleichzeitig zog das State Department seine Anweisung an McCioy zurück, die Urteilsvollstreckung bis zur Erledigung der Revisionsanträge auszusetzen. Das Schicksal der Landsberger Häftlinge ist damit in die Hände des Hohen Kommissars gelegt, der die letzten Anweisungen zu treffen hat. Zwei Häftlinge unterstehen der Gerichtsbarkeit des Justizministeriums, das vermutlich ebenfalls in Kürze über ihr Schicksal entscheiden soll.
Klausener-Mörder geständig
12 Jahre Zuchthaus beantragt
Kleine Weltchronik
WIESBADEN. Die hessische Regierung hat am Montag Redeverbote für den SRP-Vorsitzenden Dr. Fritz Doris und die SRP-Vorstandsmitglie- der v. Bothmer und Graf Westarp verfügt. Für Otto Ernst Remer bestand bereits Redeverbot.
BONN. Die ehemaligen Berufssoldaten seien nach wie vor bereit, ihr Vaterland zu verteidigen, kam in einer Verlautbarung des Bundes der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen (BVW) am Montag zum Ausdruck. Nach einer dreitägigen Tagung, an der 120 Vertreter der zwölf Landesverbände teilnahmen — der BVW zählt etwa 75 000 Mitglieder im Bundesgebiet —, wurde in einer Erklärung gefordert, daß die diffamierenden und entrechtenden Bestimmungen gegenüber den ehemaligen Berufssoldaten aufgehoben würden. Admiral a. D. Hansen wurde wieder zum ersten Vorsitzenden gewählt.
BONN. Der Präsident der Beratenden Versammlung, der belgische Sozialistenführer Paul Henri Spaak, traf am Montagabend zu einem zweitägigen „inoffiziellen“ Besuch in Bonn ein. Am Dienstagvormittag wurde der ehemalige belgische Ministerpräsident und Außenminister von Bundespräsident Heuß empfangen. Am Nachmittag hatte er eine Besprechung mit führenden sozialdemokratischen Führern, heute vormittag wird er mit Bundeskanzler Adenauer Zusammentreffen.
HAMBURG. Schiffsjungen werden in Zukunft wieder auf Segelschiffen ihre Ausbildung erhalten und die Ozeane durchqueren. Die Reederei Schliewen hat die früheren deutschen Segelschiffe „Amir“ und „Passat“ im Ausland aufgekauft und will sie nach einer gründlichen Überholung zur Ausbildung von 60 bis 80 Schiffsjungen im Frachtverkehr einsetzen. Heimathafen der mit Hilfsmotoren ausgestatteten Segler wird Lübeck sein.
Berlin. Etwa 200 Sowjetsoldaten fanden sich am Sonntagnachmittag in der Reichstagsruine im britischen Sektor ein und gaben dort mehrere Pistolenschüses ab. Als die von Passanten benachrichtigte britische Militärpolizei eintraf, waren die Rotarmisten schon wieder über die nahe Sektorengrenze in den Ostsektor zurückkehrt.
LONDON. Der amerikanische Vorsitzende des Exekutivausschusses der Atlantikpaktmächte, Ch. Spofford, forderte den Ausschuß auf, die Möglichkeit einer Aufnahme Griechenlands und der Türkei als Vollmitglieder in den Atlantikpakt zu prüfen.
LONDON. Großbritannien hat bei der Regierung des kommunistischen Chinas gegen die Verhaftung ohne Gerichtsverfahren von etwa 50 westlichen Staatsangehörigen protestiert, auf den vor einem Monat erfolgten Einspruch jedoch bisher keine Antwort erhalten. Es handelt sich um vier britische, sechs kanadische, drei australische und rund 35 amerikanische Staatsbürger, über die seit ihrer Festnahme jede Nachricht fehlt.
PARIS. Der Gesundheitszustand Marschall Pe- tains verschlechtert sich zusehends. Der Kranke soll sich in einem äußerst schwachen Zustand befinden und praktisch keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Eine Ärztekommission wird sich demnächst nach der Insel Yeu begeben, um festzustellen, ob der gegenwärtige Zustand des Marschalls eine Überführung nach einem außerhalb der Festung gelegenen Ort erlaubt.
NEW YORK. Jugoslawien hat der UN in einem offiziellen Bericht mitgeteilt, daß es alle Kriegsgefangenen des zweiten Weltkrieges repatriiert habe. Lediglich 431 Deutsche und 27 Österreicher befänden sich zur Verbüßung ihrer Strafen, zu denen sie als Kriminelle oder Kriegsverbrecher verurteilt wurden, noch im Gewahrsam der jugoslawischen Behörden.
BERLIN. Der 47jährige frühere SS-Haupt- sturmführer Kurt Gildisch gestand am Montag vor dem Schwurgericht in Berlin- Moabit, daß er während der Röhm-Affäre am 30. Juli 1934 den Ministerialdirektor im Reichsverkehrsministerium und Leiter der „Katholischen Aktion“, Dr. Erich Klausener, erschossen hat.
Er habe den Mord an Klausener auf direkten Befehl des damaligen SS-Gruppenftihrers Heydrich durchgeführt.
Der Staatsanwalt beantragte am Montag gegen Gildisch eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren. Das Urteil wird am Donnerstag verkündet.
Urteile im „Polizeiskandal“
FRANKFURT. Nach mehr als sechswöchiger Verhandlung wurde am Montag unter großem Publikumsandrang im sogenannten Frankfurter Polizeiskandalprozeß das Urteil gegen die 13 Angeklagten verkündet. Das Landgericht Frankfurt verurteilte die beiden Hauptangeklagten, Kriminalassistent Kurt Henkel und Rechtsanwalt Dr. Willy Lafontaine, wegen Bestechung, Diebstahl« und Steuerhehlerei zu drei Jahren, neun Monaten bzw. drei Jahren Gefängnis und 1500 bzw. 5000 DM Geldstrafe. Die übrigen elf Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und 2*/a Jahren.
Die Verurteilten hatten große Mengen Schwarzhandelswaren veruntreut und in einigen Fällen gegen Entgelt den Schwarzhändlern zurückgegeben. Allein in einem Fall waren rund 1,4 Millionen „schwarze Zigaretten“ nur zum Schein beschlagnahmt worden.
1
1
Der verschlossene MUND
15]
Roman von Doris Eicke
Alle Hechte Vertegihaut Reutlingen
V.
Die Sache mit Signor Bolla schien doch wohl falscher Alarm zu sein, jedenfalls lebte er weiterhin unangefochten im Reichshof und sandte Andrea zuweilen Blumen in allen Abstufungen hochroter Farbe. Meist versah er diese Sendungen mit einem in schmierigem Ton und in französischer Sprache abgefaßten Liebesbrief, der stilistisch wie orthographisch mangelhaft war. Andrea antwortete ihm nie und nahm die Blumen auch nie in ihr eigenes Zimmer mit, die Halle kam dagegen zu ebenso billigem wie dekorativem Blumenschmuck.
Die Erfahrung mit Bolla hatte Andrea bemerkenswert ernüchtert. Sie schämte sich der kindischen Arglosigkeit, mit der sie dieses in seinen Begleitumständen so überspitzte Stellenangebot entgegengenommen hatte, als sei so etwas die Regel. So zurückhaltend sie sonst den im Hotel zahlreichen Annäherungsversuchen gegenüber auch war, hier hatte der blinde Vergeltungstrieb sie alle Vorsicht vergessen lassen. Ihre große Geste des Protestes und des beleidigten Stolzes hätte mit Sicherheit kläglich geendet, womöglich mit einem Hilfeschrei an Syamken oder an Niels selbst. Eine solche Erkenntnis war heilsam für sie, und sie war sich dessen durchaus bewußt.
Was sie seit langem nicht mehr getan hatte, die Wochen bis zu Niels Rückkehr zu zählen, gewann plötzlich neuen Reiz. Verschüttete Hoffnung begann sich leise zu regen, erstorbene Sehnsucht blühte verborgen und
noch zaghaft neu in ihr auf. Der sichtbare Ausdruck dieser sich anbahnenden und ihr selbst noch kaum bewußten Wandlung ihrer Gefühle, waren ihre fast täglichen Anrufe bei Will. Schamhaft verschwieg sie dabei den wirklichen Grund, aber ihre Vorwände waren meist so dürftig und durchsichtig, daß Syamken die Lage durchaus richtig beurteilte und mit Ungeduld Mercks angekündigten Brief erwartete. Er begriff nicht, warum Niels so lange dafür brauchte. Bei aller aufrichtigen Freundschaft identifizierte er sich nicht genügend mit ihm, um das tiefe seelische Leid dieses verschlossenen Mannes ganz zu erfassen. Es hatte in Syamkens Leben noch nie eine Frau gegeben, die er ernst genug genommen hätte, um an ihr zu leiden. Frauen waren für ihn ein unerläßlicher Faktor des Lebensgenusses, aber nichts, das irgendwie an die Fundamente rührte. Im Grunde verurteilte er die Art von Liebe, wie Merck sie empfand, als übertrieben bürgerlich, um nicht ein schärferes Wort zu gebrauchen. Treue war etwas sündhaft Langweiliges, im Nehmen wie im Geben, in der Abwechslung allein lagen Farbe und Reiz. Man konnte seiner Frau. Ulricke, vieles nachsagen, aber spießbürgerlich war sie nicht. Nach kleinen, im Grunde amüsanten Anwandlungen von Eifersucht, kam sie stets schnell zur Vernunft und ließ mit sich reden.
Syamken hatte Niels zweimal kurz hintereinander besucht. Man hatte ihm ein hübsches, großfenstriges Zimmer zugewiesen, das er mit einem Major der Bremer Schutzpolizei teilte. Das Sanatorium war fast nur von Bremern belegt, was gewisse Gefahren in sich barg, doch waren es vornehmlich Beamte der Hansestadt und stammten somit aus Kreisen, in denen Niels sich nicht bewegt hatte. Den einen oder anderen kannte er vom Sehen. Die ganze Zeit über, die er in Mölln war, verfolgte ihn die Sorge, einen Bekannten zu treffen. Wäre er von Natur aus nicht so beharrlich gewesen, so hätte er dieser zu
spät erkannten Gefahr wegen nachträglich noch das Sanatorium gewechselt. Nun aber hatte er sich hier eingewöhnt, der Chefarzt, als Neustädter Kind ein engerer Landsmann von ihm, sagte ihm zu. Er wußte, daß dieser Umstand für seine Heilung wichtig war. Bei seiner zurückhaltenden Natur wirkte er leicht steif und war auch wirklich schwer zugänglich. Seine seelische Krise hatte diese Tatsache noch verstärkt. Ein Arzt, der nicht seine Sympathie und vor allem seine Achtung als Mensch besessen hätte, wäre auf ihn von geringem Einfluß geblieben. So aber fügte er sich willig in alles und war offensichtlich ein Musterpatient. Es gab bei ihm nirgends versteckte Rauchwaren oder Alkohol.
Nach Anlagen des Pneumothorax hatte er zunächst einige Tage fest gelegen. Mit diesen verband ihn später fast keine Erinnerung mehr, weil er sie fast restlos durchschlafen hatte, manchmal war es sogar schwer gewesen, ihn zu den Mahlzeiten zu wecken. Diese Schlafsucht war den Schwestern unheimlich, denn sie wußten von seinem persönlichen Schicksal nichts.
Nach einer Woche hatte sich Mercks Aussehen verblüffend gewandelt, die Augen waren klar und wie reingefegt von aller trüben Erschöpfung, die tiefen Schatten unter den Augen begannen zu weichen. Als Niels aufstehen durfte und sich zum ersten Male wieder selbst rasierte, schaute er fast bestürzt in den Spiegel, dämpfte aber dann seine aufkeimende Freude mit der Vermutung, er habe hier einen jener schönfärberischen Spiegel vor sich, wie sie Friseure und Schneiderinnen mit Vorliebe brauchen. Er glaubte die Wandlung erst, als er Syamkens unverhohlenes Erstaunen sah.
Niels machte nun dreimal täglich einen längeren Spaziergang, dazwischen absolvierte er gewissenhaft seine Liegekuren. Er war in die Gegend verliebt. Wohl lag das in der Nähe von Lübeck befindliche Mölln in der Norddeutschen Tiefebene und wußte nichts von
den klimatischen Vorzügen einer Gebirgshöhe, doch war seine Lage ausgesprochen idyllisch, eingebettet in große Laub- und Fichtenwälder. Hier konnte sich Niels stundenlang ergehen, und ihre fast heilige Ruhe legte sich wohltuend auf sein Gemüt und gab ihm die Kraft, auf einen neuen Anfang und eine Wiedervereinigung mit Andry im alten Sinn ihrer zauberhaften Liebe zu hoffen.
Der Brief, der endlich in der vierten Woche den Weg zu Syamken fand, hatte viele Vorgänger gehabt, deren unrühmliches Ende im Aufflackem eines Streichholzes ihm immer wieder notwendig erschienen war. Hatte ihn früher da9 Bewußtsein gehemmt, daß seine Briefe Wort für Wort gelesen und mit äußerstem Mißtrauen selbst auf einen verborgenen Sinn geprüft wurden, so quälte ihn jetzt die Sorge, Andrys liebesgeschärftem Instinkt durch ein unbedachtes Wort etwas von seiner inneren Verfassung zu verraten. So wie sie all die Jahre in dem irrigen Glauben gewesen war, es gehe ihm seinen glänzenden Gehaltsverhältnissen entsprechend, so sollte sie bis zuletzt von Sorgen um sein Ergehen .verschont bleiben. Dieses Verlangen mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, sie wenigstens andeutungsweise auf seine äußere Veränderung vorzubereiten, verursachte ihm viel Kopfzerbrechen.
Als Andrea von Syamken am Telephon verlangt wurde, wußte sie sofort, daß Niels geschrieben hatte. Ihr Herz klopfte unruhig, und ihre Stimme klang zaghaft, als sie sich meldete.
„Andrea, heute habe ich eine gute Nachricht für Dich.“
„Ich weiß: Niels hat geschrieben.“
„Er hat auch einen Brief für Dich beigelegt.“
„Für mich? Warum schreibt er denn zu Dir? Früher ging doch alle Post über Bremen.“
„Das wird er Dir selber erklären."
(Fortsetzung folgt)