NUMMER 69
MONTAG. 7. M A 1 1 »51
Bemerkungen zum Tage
„Allzu ehrgeizig”
lh. Aul dem Weg über die Länder hat die Bundesregierung die von der SED inspirierte Volksbefragung über die Remilitarisierung unterbunden, durch einen einstimmigen Beschluß des Bundeskabinetts wurde die „Reichsfront“ genannte SA der Sozialistischen Reichspartei unmittelbar verboten. Beide Verbote sind Akte der Notwehr der jungen Demokratie, die noch nicht gegen Zugluft gefeit ist und die offenbar auch keine Lust hat, sich wie die Ahne von Weimar infizieren zu lassen. Daß man politischen Glücksrittern, die in den Fußstapfen des größten Bankrotteurs der jüngeren deutschen Geschichte zu wandeln krampfhaft bemüht sind, rechtzeitig den Weg verlegt, werden alle, die seit 1933 mit Bewußtsein gelebt haben, bejahen. Bei der Aktion gegen die Volksbefragung über die Remilitarisierung jedoch kann die Bundesregierung nicht dieser vorbehaltlosen Zustimmung der Realisten sicher sein. Wenn es auch einleuchtet, daß die Abneigung der westdeutschen Bevölkerung gegen Krieg und Kommiß von den östlichen Machthabern für ihre propagandistischen und politischen Zwecke mißbraucht werden sollte, wenn es auch stimmt, daß im Grundgesetz keine Volksbefragung über die Remilitarisierung vorgesehen ist und man den Bundestag nicht einfach auflösen kann, um Ihn wegen der Remilitarisierungsfrage neu zu wählen, so hätten doch auch viele Nichtkommunisten eine eindeutigere Haltung der Bundesregierung in dieser Frage begrüßt. Die Gespräche zwischen den Generalen auf dem Petersberg und die „theoretische“ Offerte eines 150 OOO-Mann-Heeres sind keineswegs dazu angetan, erkennen zu lassen, daß der uns zugeworfene Ball mit der Aufschrift „Remilitarisierung“ von uns höchst unwillig aufgenommen wird. Die Worte, die von der Seite kommen, die zuerst mit dem Spiel begonnen hat, daß nämlich die Bundesregierung mit ihrer Forderung nach einer taktischen Luftwaffe „allzu ehrgeizig“ sei, sollten in Bonn richtig verstanden werden.
Gefängnis für Stahlschiebung
Gegen Illegalen West-Ost-Handel
BERLIN. In dem „Stahlprozeß“ vor dem Landgericht Berlin-Moabit wurde am Samstag der 45jährige Geschäftsführer der Berliner Zweigstelle der Gesellschaft für Eisen-, Stahl- und Blecherzeugnisse in Düsseldorf, Erich Käding, zu einem Jahr sechs Monaten Gefängnis und 50 000 DM Geldstrafe verurteilt. Das Gericht sah als erwiesen an, daß Käding von Januar bis März vorigen Jahres rund 8000 Tonnen Eisen- und Stahlwaren aus der Bundesrepublik nach Berlin gebracht und gegen Zahlung von 2,2 Millionen DM-West an das deutsch-sowjetische Transportunternehmen De- jutra in der Sowjetzone weitergeleitet habe. Der Staatsanwalt hatte zwei Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 200 000 DM beantragt. In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, daß der Angeklagte das Staatsinteresse verletzt und die staatliche Wirtschaftsordnung mißachtet habe
Heuß Unterzeichnete
Blltzgesetz und Neugliederungsgesetz
BONN. Bundespräsident Prof. Theodor Heuß hat die beiden Südweststaatsgesetze unterschrieben: Das „Blitzgesetz“, das die Legislaturperiode der Landtage verlängert, und das „Neugliederungsgesetz“, das das Verfahren für die Volksabstimmung regelt. Die beiden Gesetze erscheinen in Kürze im Bundesgesetzblatt.
Der südbadische Staatspräsident Leo W o h 1 e b versicherte am Samstag in Karlsruhe auf einer Tagung der altbadischen Bewegung, daß die Badener den Kampf um die Wiederherstellung des alten Landes Baden niemals aufgeben werden. Es wurde ein „Landesverband der Arbeitsgemeinschaften der Badener“ als eingetragener Verein konstituiert.
Wurde eine Armee angeboten?
Das Bundespresseamt erklärt: Nur Besprechungen „rein technischer Natur“
LONDON. Amtliche Kreise der Westmächte in London erklärten am Samstag, die Bundesrepublik habe den westlichen Alliierten die Aufstellung einer westdeutschen Armee in Stärke von 150 000 Mann und einer taktischen Luftwaffe mit leichten Bombern und Jägern zur Abwehr einer möglichen sowjetischen Aggression vorgeschlagen. Dieses Angebot sei bereits vor mehreren Wochen als Antwort auf eine westliche Anfrage gemacht worden, wie Westdeutschland am besten bei der Verteidigung des Westens helfen könne. Die Fragen, die in diesem Zusammenhang aufgetaucht seien, würden zurzeit in Bonn zwischen deutschen Vertretern und den stellvertretenden Hohen Kommissaren der drei westlichen Besatzungsmächte besprochen. In den nächsten Tagen stehe eine neue Besprechung bevor.
Es wird angenommen, daß die Westmächte den Vertretern der Bundesrepublik klar machen werden, ihre Vorschläge besonders hinsichtlich der Luftwaffe seien in Anbetracht der Versorgungsschwierigkelten des Westens „allzu ehrgeizig“. Von deutscher Seite sei angedeutet worden, die Bundesrepublik könne die Kemtruppe für die vorgeschlagene Armee in Stärke von 50 000 Mann Innerhalb von neun Monaten aufstellen. Dies Kemtruppe solle dann auf 150—200 000 Mann erweitert und General Eisenhower als Oberbefehlshaber der atlantischen Streitkräfte unterstellt werden. Nach
Berechnungen der Bonner Regierung könnten die ersten vollausgebildeten deutschen Verbände im Sommer 1952 einsatzbereit sein.
Nach diesen Darstellungen soll sich die geplante deutsche Armee aus straffen, schlagkräftigen Panzer- und Panzerschützendivisionen mit einer Stärke von je 10 000 Mann zusammensetzen. Divisionskommandeure sollen sogenannte „Generalinspekteure“ sein, die einer zivilen Verwaltungsstelle in Bonn unterstehen würden. Diese Verwaltungsstelle würde auch für die Aushebung von Rekruten, für Planung u. a. m. verantwortlich sein Die Schaffung eines Verteidigungsministeriums sei nicht beabsichtigt; ebenso sei kein neuer Generalstab geplant. Pläne für eine neue deutsche Kriegsmarine zur Verteidigung der Küsten seien noch nicht eingereicht worden.
Das Bundespresseamt erklärte zu diesen Meldungen, es handle sich um „reine Kombinationen“. Die Besprechungen zwischen deutschen und alliierten Sachverständigen auf dem Petersberg seien „rein technischer Natur“. Es gehe dabei darum, „vom Knopf des Infanteristen bis zum Panzer“ die Möglichkeiten eines deutschen Beitrags theoretisch zu klären, „um für eine spätere politische Entscheidung eine technische Grundlage zu schaffen“. Politische Gespräche über einen deutschen Verteidigungsbeitrag hätten überhaupt noch nicht begonnen.
Seebohm: Für „einfaches Reisen“
Tausend Fachleute beim Fremdenverkehrstag in Stuttgart
STUTTGART. Bundesverkehrsminister Dr. Hans Christoph Seebohm setzte sich am Samstag auf dem zweiten Deutschen Fremdenverkehrstag in Stuttgart dafür ein, daß noch mehr Reisemöglichkeiten’ für arbeitende Menschen geschaffen werden. An Stelle des vorgeschlagenen Begriffs „Sozialtouristik“ empfahl er den Namen „Das einfache Reisen“, das keine Kollektivreisen, sondern Billigkeit aus- drücken soll. Der Minister begrüßte die Wiedereinführung der deutschen Paßhoheit und die Aufhebung der Schiffsbaubeschränkung und forderte, daß auch die deutsche Lufthoheit wieder hergestellt werde. Der Presse wurde mitgeteilt, daß die durch den Ausländerbesuch im Bundesgebiet erzielte Deviseneinnahme im
vorigen Jahr rund zwei Millionen DM betragen habe. Der Frankfurter Oberbürgermeister Dr. W. Kolb teilte mit, daß in Kürze an der Universität Frankfurt ein Hochschulinstitut für Fremdenverkehr errichtet werde.
Dr. Reinhold Maier, Ministerpräsident von Württemberg-Baden, wies in seiner Begrüßungsansprache darauf hin, daß er „in einem Dilemma stehe“, da er als Regierungschef von Nordwürttemberg-Nordbaden einerseits kein Württemberger, andererseits kein Badener sei, sondern sich in einer Übergangsentwicklung befinde. Dr. Maier gab einen Überblick über die Schönheiten vor allem des nordbadischen Gebietes. An der Tagung nahmen rund 1000 Fachleute des Fremdenverkehrs teil.
Kleine Weltchronik
FRANKFURT. Der neue Sommerfahrplan der Bundesbahn, der am 20. Mai in Kraft tritt, bringt neue Verbindungen im internationalen Verkehr, kürzeren Reisezeiten und einen Ausbau des zuschlagfreien Städteschnellverkehrs. Neuheiten sind der „Rhein-Gold-Expreß" und der „Tauernexpreß“.
BONN. Der deutsche Bauernverband wandte sich am Samstag in Bonn gegen einen Beschluß der Landarbeitergewerkschaft, alle geltenden Lohnabkommen zu kündigen. Vor wenigen Wochen seien erst Lohnerhöhungen zugestanden worden als ausdrückliche Vorleistung auf künftige Mehreinnahmen aus den Getreide- und Zuk- kerrübenpreiserhöhungen und aus einer in Aussicht genommenen Milchpreiserhöhung.
DÜSSELDORF. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist durch die zuständigen Landtagsausschüsse ermächtigt worden, von sich aus die Beamtengehälter im Lande um 20 Prozent zu erhöhen, falls der Bund nicht bis Ende Mai eine ausreichende Erhöhung auf Bundesebene beschließt. Auch die Versorgungsbezüge und die Kinderzuschläge sollen in Nordrhein-Westfalen erhöht werden.
KÖLN. Die kürzlich von ehemaligen alten Mitgliedern der SPD gegründete „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD) hat gestern in Köln ihr zwölf Punkte umfassendes Programm veröffentlicht. Die Partei will „eine reine Arbeiterpartei“ sein. Sie fordert eine
umfassende Sozialisierung aller Unternehmen, einschließlich der Staatsbetriebe. Jeder Arbeiter soll monatlich mindestens 500 DM verdienen sowie in den Genuß einer hohen Jahresdividende kommen. Vorschläge für die Verwirklichung dieser Forderungen sind im Programm nicht enthalten.
ROM. Der persische Botschafter in Rom erklärte am Freitag, die persische Regierung beabsichtige, in der Erdölindustrie neben britischen Fachleuten auch deutsche, amerikanische, schweizerische und italienische Spezialisten zu beschäftigen. Der Beschluß zur Verstaatlichung der Erdölindustrie in Persien bedeute nicht eine prosowjetische Haltung.
DUBLIN. Die Neuwahlen des irischen Parlamentes, das Ende vergangener Woche aufgelöst wurde, sollen am 30. Mal stattfinden. Allgemein wird erwartet, daß die Parteien, die das Kabinett Costello unterstützen, den Wahlkampf gemeinsam führen werden, da sie nur so Aussicht haben, die Opposition Eamon de Valerae zu schlagen. Trotzdem rechnet man mit einer Rückkehr de Valeras in die Regierung.
SCHANGHAI. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass bestätigte am Sonntag, daß der Oberbefehlshaber der französischen Luftstreitkräfte in Ostasien, Generäl Hartemann, in Indochina mit seinem Flugzeug von Aufständischen abgeschossen worden sei und den Tod gefunden habe.
Maschinen nach dem Osten
GENF. Die westeuropäischen Länder haben der Sowjetunion und den Ostblockstaaten im Jahre 1950 zweimal soviel Maschinen geliefert wie 1948, geht aus einem von der Wirtschaftkommission der Vereinten Nationen für Europa veröffentlichten Bericht hervor. Im gleichen Zeitraum gingen die Maschinenexporte der USA in die europäischen Ostblockstaaten um 93 Prozent zurück.
Die größten Steigerungen in der Maschinenausfuhr nach Osteuropa erzielten die Bundesrepublik, Großbritannien und die Beneluxstaaten. Eine ähnliche Entwicklung wurde auch in anderen Empfängerstaaten der Europahilfe beobachtet, doch betrugen die westeuropäischen Maschinenexporte nach dem Osten nur 5 Prozent der Gesamtausfuhr, da gleichzeitig die Exporte nach andern Ländern erheblich gestiegen sind. Nach den Kominformländern führten die in der OEEC zusammengeschlossenen Länder 1950 Maschinen, Transoortmittel und Kraftwagen im Wert von 232,3 Millionen Dollar aus. Das sind 117,6 Millionen Dollar mehr als 1948. Westdeutschlands Maschinenexporte nach den Kominformländern nahmen von 1948 bis 1950 um fast das 20fache zu und erreichten 1950 einen Wert von 29,7 Millionen Dollar. Allerdings blieben sie damit immer noch um fast 80 Prozent hinter den entsprechenden Vorkriegsexporten zurück.
Wie Beamte der UNO-Wirtschaftskommission darlegten, bereitet die Zukunft der westeuropäischen Maschinenindustrie infolge des Mangels an wichtigen Rohstoffen große Sorge. Nach Ansicht der ECA muß Europa seine Ausfuhr im Maschinenbau erhöhen und daher die Industrialisierung vorantreiben, um die notwendigen Einfuhren bezahlen zu können. Andererseits wird die Produktion der europäischen Maschinenindustrie und damit die Ausfuhr eingeschränkt werden müssen, wenn es nicht gelingt, die Rohstofffrage zu lösen.
Spareinlagen gingen weiter zurück
FRANKFURT. Die seit Dezember vergangenen Jahres rückläufige Entwicklung der Spareinlagen hat sich nach Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft der Sparkassen- und Giroverbände auch im März in starkem Umfang fortgesetzt. Der Auszahlungsüberschuß, der sich im Februar auf 5,4 Mill. DM belief, erhöhte sich im März auf 13,7 Mill. DM. In den gleichen Monaten des Vorjahres war ein Einzahlungsüberschuß von 80,5 Mill. bzw. 77,5 Mill. DM erzielt worden. Als Voraussetzung für eine Förderung des Sparwillens wird von den Sparkassen die Stabilisierung des Lohn- und Preisgefüges angesehen. Der Gedanke, die Leistungsfähigkeit des Kapitalmarktes durch den Staat und damit durch den Steuerzahler zu ersetzen, wird als Dauerlösung abgelehnt.
30 Prozent mehr produziert als 1938
WASHINGTON. Nach einer Mitteilung der Marshallplanverwaltung lag die westeuropäische Industrieproduktion in dem am 31. März abgelaufenen Jahr um 30 Prozent über der Erzeugung von 1938. Insgesamt hat sich die Produktion im Vergleich zum Vorjahr um II Prozent erhöht. Einen Teil dieser erfolgreichen Entwicklung führt die ECA auf die Marshallplanhilfe zurück. Die Bundesrepublik überschrilt.nack -de r Aufstellu ng in diesem Jahr erstmals ihre VorkriegsprodüK- tion und erreichte im November mit einem Index von 114 einen neuen Nachkriegsrekord.
Die ersten Erfolge
PARIS. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Behebung der Zahlungsbilanzkrise gegenüber der EZU beginnen Früchte zu tragen. Nachdem die deutsche Zahlungsbilanz mit der EZU schon im März einen Überschuß von etwa 13 Millionen Dollar aufwies, ist nach einer Mitteilung der OEEC im April ein Überschuß von 30 Millionen Dollar erzielt worden. Noch im Februar hatte die Zahlungsbilanz mit der EZU mit einem Rekorddefizit von 58 Millionen Dollar abgeschlossen. Die günstige Entwicklung ermöglicht der Bundesregierung die beschleunigte Rückzahlung des Überbrückungskredites, den ihr die EZU eingeräumt hatte,
Griechenlandhandel wird forciert
HAMBURG. Am Samstag wurde der Griechenlandausschuß des Nah- und Mittelost-Vereins in Hamburg gegründet. In dem Ausschuß sind all* am Handel mit Griechenland interessierten Wirtschaftszweige der Bundesrepublik vertreten, Zu seinen Aufgaben gehört vor allem die Förderung der Außenhandelsbeziehungen und die Beratung bei kommenden Wirtschaftsverhandlungen zwischen den beiden Ländern.
A -
Der verschlossene MUND
Roman von Doris Eicke
i ® ä/ie Redite ¥erlagthaut Reutlingen
Darüber denke ich so viel nach, und zuweilen fließt mir der Mund über. Ich weiß, daß das nicht recht ist, Niels, Du würdest es niemals tun, Du würdest Dich nie bei Dritten über mich beklagen. Du bist viel stärker als ich, die ich Aussprache und Widerhall brauche. Die Strafe blieb denn auch nicht aus. Ein paar nichtssagende Worte, ein verlegenes Auf- dieseitestehen war alles, was ich erntete. Ich sah ihnen dennoch an, was sie dachten und nicht zu sagen wagten: Niels wird zu trösten wissen.
Ich weiß, dieser Gedanke ist primitiv und häßlich und trifft wahrscheinlich nicht zu. Seit ich ihn in Elsbeths und Marys Augen las, steht etwas zwischen uns. Sie sollen nicht so klein von Dir denken. Aber auch ich, Niels, denke zuweilen — kleinmütig.
Ach Niels, ich fühle es, daß dieser Brief Dich traurig macht. Wie aber könnte ich Dich fröhlich stimmen, da ich es doch selbst nicht bin? Meine Stimmung am heutigen Siebenundzwanzigsten hat nichts mit dem frohen Übermut unseres Sichflndens gemein, eher noch mit dem Tag darauf, als ich in den Ratsstuben so lange vergeblich auf Dich wartete. Weißt Du es noch? Du hattest eine Veranstaltung im Rathaus von fünf bis sechs und wolltest Dich anschließend mit mir treffen. In meiner Ungeduld, Dich wiederzusehen, war Ich natürlich schon viel früher da und verwünschte die schleichenden Minuten, die mich noch von dem Glück dieses Wiedersehens trennten. In all meiner Erwartung war ich doch ein wenig zaghaft, denn kaum aus dem kurzen Schlaf erwacht, wollte es auch mir
ganz unglaubwürdig scheinen, daß ich gestern am späten Nachmittag ahnungslos auf den Freimarkt gegangen und in der Nacht als Braut eines Mannes zurückgekehrt war, von dessen Existenz ich vor vierundzwanzig Stunden noch keine Ahnung hatte. Ich kann es nicht anders ausdrücken, als daß mein ganzes Sein nach Deiner Gegenwart schrie als der einzig möglichen Bestätigung meines unwahrscheinlichen Erlebens.
Wenn Ich an diese Stunde Zurückdenke, will sie mir noch heute als eine der größten Demütigungen meines Lebens erscheinen. Es wurde sechs Uhr, viertel nach sechs, halb sieben, dreiviertel sieben — und Du kamst nicht. Niels, noch heute fühle ich die fürchterliche Scham, die diese Tatsache mir bereitete, auf meinen Wangen brennen, und wenn ich dennoch sitzen blieb, so tat ich dies ohne Hoffnung und einfach nur, weil mir die Kraft fehlte, aufzustehen. Im Jammer dieser Enttäuschung sank mein ganzes wunderbares Erlebnis urplötzlich und mit stechender Grausamkeit auf die Stufe eines Fastnachtsscherzes herab. Alles, was ich so gläubig aufgenommen, so ehrlich erwidert hatte, Du meintest es also nicht ernst.
Das ist die Strafe, die verdiente Strafe für so viel Leichtsinn, für eine so blinde, impulsive Zuneigung, sagte ich mir selber. Ich wurde immer kleiner auf meinem Stuhl und fühlte mich so vernichtet, als hätte ich in der letzten Nacht etwas Unwürdiges und Unverzeihliches begangen, und tausend ungeweinta Tränen brannten in meinen Augen.
Niels, wie gut weiß ich das alles noch, meinen grenzenlosen Jammer, meinen erniedrigten Stolz, mein körperliches Unvermögen, aufzustehen und die Stätte dieser entsetzlichen Demütigung zu verlassen. Ich war so tief unglücklich, daß ich nicht mehr die Kraft zur Freude hatte, als Du dann plötzlich vor mir standest und Dich, erschrocken über meine geisterhafte Blässe, über mich beugtest. Niels,
am Ende wird es jetzt wieder so sein, wenn Du endlich, endlich wiederkommst, daß mein Herz sich leersehnte und sich nicht mehr freuen kann. Diesmal wird kein schuldbewußter, vergeßlicher Kellner mit einem versehentlich auf der Zentralheizung liegen gebliebenen, zu Dörrgemüse vertrockneten Blumenstrauß als rettender Engel auftauchen, kein Briefchen wird bitten, eine Stunde länger auf Dich zu warten, weil die Besprechung im Rathaus verschoben sei, und nichts wird sich in einem befreiten Gelächter endlich lösen — wie damals.
Detlev kann jetzt schon „Papa“ sagen, da aber niemand da ist, der sich in seiner Vorstellung mit diesem Wort verbindet, nennt er einfach jedes männliche Wesen so. Neulich marschierte eine Kompagnie Soldaten an uns vorüber, und er schrie mit solcher Begeisterung und Ausdauer „Papa!" in ihre Kolonne hinein, daß die Männer schon anfingen, unzarte Witze zu reißen, und ich schämte mich sehr.
Manchmal schaue ich den Kleinen an und denke: Er ist ein Stück von Niels, aber dieser Gedanke tröstet mich nicht. Detlev ist herzig, aber er ist ein kleines, von meiner Fürsorge abhängiges Kind, und ich sehne mich nach meinem Mann.
Verzeih mir diesen Brief, Niels, und wenn Du kannst, tröste Deine verzagte
Andry.
Merck legte sich in seinem Bett zurück und schloß die Augen. Zum erstenmal spürte er ganz die Wandlung, die zwischen diesen beiden Briefen lag, die heitere Kraft des ersten und die wilde Sehnsucht des zweiten Schreibens. Damals, als es eintraf, hatte es ihn schmerzlich getroffen mit seinem zum ersten Male klar formulierten Vorwurf, Er wußte selbst, daß seinen Briefen die innige Wärme fehlte, obwohl er an sich ein guter Briefschreiber war. Es gab kehle Möglichkeit, Andry dieses Rätsel zu lösen. Konnte er ihr
denn erklären, daß er bei allem, was er schrieb, das grinsende Gesicht des unvermeidlichen Zensors vor sich sah, das ihm, dem zurückhaltenden, beherrschten Hanseaten jedes Liebeswort in die Feder zurückdrängte? Ein solches Unterfangen wäre zwecklos gewesen, denn eine solche Erklärung hätte Andry doch nie erreicht. Die Tatsache allein, daß er ihr keine Silbe über seine Tätigkeit schreiben durfte, machte seine Briefe farblos und dürftig. So hatte sie nicht den mindesten Anteil an seinem jetzigen Leben, er schwebte für sie irgendwo in einem Vakuum. Ihre Vorstellungen über seinen Einsatz waren genau so hundertprozentig falsch, wie seine eigenen es gewesen waren, aber auch diesen Irrtum konnte er nicht berichtigen. Die kleinste Andeutung hätte genügt, den Brief „verloren“ gehen zu lassen. Seufzend und mit Überwindung griff Merck zu dem letzten Brief. Er war nur kurz, aber der wichtigste von allen:
Bremen, den 27. Oktober 1930
Lieber Niels!
Zum dritten Male, seit Du fort bist, jährt sich der Siebenundzwanzigste, dieser einst festliche Tag, der nichts von allem hielt, was er versprach. Ich bin des Wartens müde und habe lange nach einem Ausweg gesonnen, der diesem schrecklichen Vegetieren, das man Leben nennt, ein Ende machen könnte; nicht dem Leben selbst natürlich, nur seiner augenblicklichen, unerträglichen Form. Detlev Ist jetzt zwei Jahre und sechs Monate alt, ein kräftiges gesundes Kind, ich bringe ihn morgen zu Deiner Mutter, schließe unsere Wohnung zu und nehme wieder eine Stellung als Hotelsekretärin an.
Niels versteh mich um Gottes willen! Ich kann nicht mehr. Meine vier Wände stürzen auf mich herunter, und ich verliere den Verstand, wenn ich wie bisher Stunden damit verbringe, sie anzustarren. Mein kleine* Hauswesen ist schnell gemacht, und wenn id| noch so Ordnung halte! (Fort*. foUH