DES
L A T T S
25. Juni 1949
SCHWÄBISCHEN TAGB
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Erscheint jeden Samstag Nr- 74 / Seite 3
Der leidenschaftliche Fotograf I Von Herbert Reinhotd
Herr Anton Tschöpp, ein Beamter, den ein Beinleiden vorzeitig in Pension zwang, lebte unweit einer Mittelstadt bei Landleuten allein, aber vergnüglich, denn er kam mit jedermann aus, .obschon er einen Spleen besaß, nämlich den, ein seltenes Foto mit seiner Kamera zu erschleichen, wozu ihm jedes Mittel gutdünkte. Er wurde belächelt, doch das scherte ihn wenig, es genügte ihm, sein eigenes Leben zu leben und im übrigen durch die dank kleiner Geschenke verpflichtete Jugend zu erfahren, wo etwas los war. t
Eines Morgens fand sich Herr Tschöpp wider Erwarten nicht auf seinem gewohnten Stand auf dem Hauptplatz der Stadt ein. Viele vermißten ihn und fragten nach seinem Verbleib, bis sie von einem Jungen erfuhren, daß der Pensionär nicht kommen könne, weil ihm wahrhaftig der Auftrag geworden sei, für eine große Zeitschrift den berühmten schiefen Turm der alten Stadtkirche aufzunehmen. Der Bengel lachte, als er das umständlich sagte, und alle durchschauten sogleich. daß der Pensionär wieder einmal gefoppt werden sollte.
Was aber wußten die Leute von den Nöten und Freuden, die Anton Tschöpp diesen Morgen durchkostete. Die Post brachte ihm ein Schreiben, das geschäftsnüchtern einen Auftrag enthielt, und das war eine Chance, die er sich auf keinen Fall entgehen lassen durfte. Sofort wußte er, daß er eine Musteraufnahme zu schaffen hatte, die ihm ein für allemal einen Platz unter den Fotografen zu sichern hatte. Obschon ihn sein Leiden plagte, lief er hurt : g und suchte vor der in einem Häusermeer eingekeilten Kirche, kletterte in Etagen und auf Dächer und beschloß endlich, weil nichts anderes möglich war, beginnend und absteigend von einer Dackluke bis zum Erdgeschoß eines Hauses gegenüber den Turm stückweise zu knipsen, um späterhin das Ergebnis als Ganzes zu montieren.
Als er, die Kamera schußbereit, aus der Dachluke schaute, fiel sein Blick von ungefähr nicht auf die Turmspitze, der sein Augenmerk zu gelten hatte, sondern magisch angezogen in die Tiefe, wo sich die schulfreie Jugend des Stadtviertels zu einem lärmenden Spiel versammelt hatte. Er winkte hinunter, dann schickte er gerne Augen durch den Sucher, das Objekt seines Tuns anzu- peüen. Der Kirchturm war schief, das wußte d : e Welt längst, aber daß er voll morscher Schönheiten war, dürfte nur wenigen bekannt sein. Anton Tschöpp betätigte glücklich den Auslöser und stieg hernach treppab, nun aus der 4. Etage das zweite Bild zu machen.
Noch immer tummelte sich die Jugend unten, aber keins der Kleinen schaute zu dem Manne hinauf, der aus einem Fenster lehnte und fotografierte. Auch als er aus der 3. Etage und gleich darauf aus der 2. knipste und sogar grüßend rief, wurde er nicht beachtet. Erst als er, einen besonders schönen Teil des Turmes zum zweiten Male aufzu- nehmen, wiederum aus der 3. Etage lehnte und grimmig das eben noch lustige Gesicht verzog, weil es ihn in den Beinen zwackte, beobachtete ihn eine Mädchen, das bald eifrig winkte und etwas schrie. Seine Grimas- sen begeisterten es, und als er nach einem Blick nach oben zur Turmspitze plötzlich wild gestikulierte, stupste es eine Kameradin an, welche die Bewegungen Anton Tsehöpps verfolgte, doch nicht klug daraus wurde.
Herr Anton Tschöpp, der Fotograf aus Leidenschaft, glaubte den massigen Kirchturm plötzlich schwanken zu sehen. Im Augenblick stockte'ihm der Herzschlag, und er wußte nicht zu deuten warum: war es, weil ihm das Geschick in diesen Sekunden ein grausames Geschenk bot oder weil unzähligen aus der friedlichen Stadt da unten, den Kleinen und den Eltern, ein Unglück sondergleichen drohte. Er war eii Mann voll Herz trotz aller Besessenheit, das Bild seines Lebens zu erhaschen, und er tat zwei Dinge zugleich, riß die Kamera hoch und knipste und schrie hinunter, die Jugend zu warnen.
Der Kirchturm drohte einzustürzen! Schon wirbelte von oben fallender Staub, schon neigte sich das morsche Gemäuer auf die Seite,
aber noch ahnte außer Anton Tschöpp, der es mit aufgerissenen Augen sah und für die bedrohte Jugend unten nach einer Rettung suchte, niemand etwas, auch nicht einige Kirchgänger, die ahnungslos gelassen daherschritten. Anton Tschöpp schrie verzweifelt, und da das trotz aller Anstrengung nichts half, tat er ein übriges und opferte angesichts der Gefahr das Kostbarste, was er besaß, seine Kamera, die er nach einem schrillen Gebrüll auf den Kirchplatz fallen ließ.
Der Apparat zerschellte unten, und Kinder und Kirchgänger stürzten dahin, wo er auftraf. Man bückte sich über die Trümmer und wunderte sich über den Staub und die Steine, die nachpolterten, doch niemand kam darauf, daß einer hatte warnen wollen.'
Anton Tsehöpps Herz krampfte sich zusammen, als er erkannte, daß sein Opfer umsonst war. Eine Minute war schon vergangen, und es kam nun darauf an, keine zweite unnütz vergehen zu lassen. Er vergaß sein Leiden, und nach kurzem Ueberlegen überwand er seine kranken Beine und hetzte entschlossen treppab und unten aus der Tür. Unterwegs riß er sich die Kleider vom Leibe, und als er auf die Straße sprang, war er beinahe nackend. Eben warf ein Mann, die entsetzliche Gefahr erkennend, die Arme hoch und blieb ohnmächtig auf den Fleck gebannt, eben trommelten Mauerstücke nieder, da raste Anton Tschöpp brüllend, ein Irrsinniger mit klarem .Verstände, mitten unter Ju
gend und Kirchgänger, die vor ihm zurückwichen, doch bald hinter ihm nachstürmten, geradeaus in eine Gasse und weiter, bis er zusammenbrach.
Und als sich eine erregte Menge über den Erschöpften beugte*, stürzte am Kirchplatz mit weithin hallendem Getöse ein Kirchturm nieder, riß Gemäuer weg und schlug tiefe Löcher in das Platzpflaster. Durch die Stadt gellten Jammerrufe, Feuerwehren rasten heran, Aerzte eilten, Fachleute kamen, Gaffer und viele wehklagende Frauen, die ihre Jüngsten suchten und unter den Trümmern begraben wähnten.
Herr Anton Tschöpp kam zu sich, als er hörte, daß unter den Kirchturmtrüinmern Verlorene gesucht würden. Taumelig erhob er sich und schlug sich zu einem Polizeioffizier durch, dem er sagte, was er wußte und was er verursachte.
Herr Anton Tschöpp war längst nach seiner Wohnung unterwegs, als den Menschen in der Stadt aufging, was er geleistet hatte. Er hörte nimmer, daß alle des Lobes voll waren, er war froh, allein zu sein. Erst am nächsten Tage, da man ihm zu danken kam, sonnte er sich gemessen in seinem Ruhme. Doch er blieb der alte, bis seine Aufnahmen, die unbeschädigt geblieben waren, veröffentlicht wurden und Aufsehen erregten. Dann aber trug er den Kopf hoch, zu Recht oder zu Unrecht, das war ohne Bedeutung, für ihn und die anderen. Er blieb bis zu seinem Tode der Geachtetsten einer, ein vorzeitiger Pensionär, ein leidenschaftlicher Fotograf und der erklärte Freund der Jugend.
Ist Ihnen das klar?
/ Von Thadaäus Troll
In einem Internat gibt es vier Personen mit den Namen: Meyer, Meier, Maier und Mayer. Unter ihnen ist einer der Leiter der Anstalt, einer der Lehrer, ein Aufseher und ein Hausdiener. Vier Schüler gleichen Namens sind ebenfalls in der Anstalt. Der Sohn des Lehrers gehört zum gleichen Schwimmklub wie der Schüler Mayer. Die Schwiegertochter von Herrn Meier wohnt in Frankfurt. Der Vater eines der vier Schüler verwechselt — ohne dabei besonders zerstreut zu sein — sehr oft Meier und Maier in seiner Klasse. Die Frau des Hausdieners hat Herrn Mayer nie gesehen. Herr Maier ist der Schwiegervater des Aufsehers und hat keine * Enkel. Wie heißen nun der Anstaltsleiter, der Lehrer, der Aufseher und der Hausdiener? (Denksportaufgabe aus „Das Beste aus Readers Digest“.)
Bis zu jener Stunde war das Familienleben in geordneten Bahnen verlaufen. Vater Löser war fleißig, vom Gesetz nicht betroffen und trank auch nicht. Die Mutter war gütig und verwaltete die Zigarettenstummel. Die Tochter Lisa stand kurz vor der mittleren Reife, hatte blaßrosa lackierte Nägel und las seit einem halben Jahr an Kasimir Edschmidts „Das gute Recht“, ohne zu verzweifeln. An jenem Abend zog der Vater eine dickbäuchige Zeitschrift in freundlichem kleinen Format aus der Tasche und sagte: „Das ist aber eine interessante Denksportaufgabe!“ Er meinte damit jene Geschichte, die wir an der Spitze dieses Beitrags abgedruckt haben, ohne für die Folgen verantwortlich zu sein.
An jenem Abend brannte bei der Familie Löser die Milch an, bekam die Katze kein Fressen, wurde das Stromkontingent überschritten, nannte Frau Löser in Gegenwart der Tochter ihren Mann einen Dummkopf, drohte dieser mit Scheidung und verlangte Lisa Veronal.
Es hatte damit begonnen, daß der Vater .sagte: „Nun wollen wir einmal sehen, wer von uns als erster die Aufgabe löst.“ Die Folgen waren verheerend. Um vier Uhr früh war das Familienleben endgültig zerrüttet, aber die Aufgabe nicht gelöst. Die Tochter Lisa schrie bis sechs Uhr früh im Schlaf den Namen Maier, wobei es sich nicht feststellen ließ, ob sie Herrn Mayer, Maier, Meier oder Meyer meinte. Herrn Löser erschien im Traum der gleichnamige württembergische Ministerpräsident (mit ai) und eröffnete ihm, er ernenne ihn zum Ehrenpräsidenten des Schwimmclubs, in dem der Sohn des Lehrers und der Schüler Mayer ihrer körperlichen Ertüchtigung oblägen, erhebe ihn in den Adels
stand und gebe ihm den Namen von Mayr. Gleichzeitig teile er ihm mit, daß in der Schule vier weitere Schüler mit den Namen Mair, Meyr, Meir und Mayr aufgenommen seien, daß der Vater des Schülers Mair grüne Schnürsenkel trage, die Putzfrau der Schule minderbelastet sei und keinen Blinddarm mehr habe, Großvater Mayr gerne Schweizerkäse esse und in Braunau am Inn die Rinderpest ausgebrochen sei. Wie alt seien dann Vater Mayr, Sohn Mair, Enkel Meyr und der Schwimmwart des Schülers Meir, wenn der Aufseher Schuhgröße 49 habe und seine Frau auf den Newlook pfeife?
Am anderen Morgen stand Frau Löser um sechs Uhr auf und verbrannte Conrad Ferdinand Meyers gesammelte Werke. Herr Löser begann zu trinken. Als Lisa Löser auf dem Weg zur Schule einen. Möbelwagen mit dem Firmenzeichen „Maier & Co.“ sah, verfiel sie in einen Schreikrampf.
Um neun Uhr klingelte es bei Lösers. Ein netter junger Mann machte eine knappe Verbeugung und stellte sich vor: „Gestatten Sie, Meyer.“ Frau Lösers Augen traten aus den Höhlen. Basedow, dachte der junge Mann. „Schreiben Sie sich mit A-Ypsilon, E-i, A-i oder E-Ypsilon?“ fragte Frau Löser lauernd. „Mit E-Ypsilon, wenn Sie gestatten“, ent- gegnete der junge Mann artig. „Dann sind Sie also der Schüler, der mit der Frau des Lehrers im Schwimmclub gesehen wurde,
Lebensiegei
Willst du dir ein hübsch Leben zimmern. Mußt ums Vergangne dich nicht kümmern; Das Wenigste muß dich, verdrießen;
Mußt stets die Gegenwart genießen, Besonders keinen Menschen hassen Und die Zukunft Gott überlassen.
Willst du dir ein gut Leben zimmern,
Mußt dich ums Vergangne nicht kümmern. Und wäre dir auch was verloren,
Erweise dich wie neugeboren
Was jeder Tag will? sollst du fragen;
Was jeder Tag will, wird er sagen.
Mußt dich an eigenem Tun ergötzen;
Was andre tun, das wirst du schätzen; Besonders keinen Menschen hassen Und das übrige Gott überlassen.
JOHANN WOLFGANG GOETHE
keine Enkel hat und mit der Schwiegertochter des Hausdieners in Frankfurt war. Sie sind also weder Herr Maier noch Herr Meier noch Herr Mayer, sondern Herr Meyer. Geben Sie zu, daß Sie der Aufseher der Anstalt sind?“ „Ich bin bestimmt nicht von der Anstalt geschickt und nicht Aufseher, sondern Zeitschriftenwerber“, sagte der junge Mann beruhigend und tastete vorsichtig nach rückwärts zum Treppengeländer. „Das macht den Fall noch komplizierter“, murmelte Frau Löser mit glasigen Augen. „Wenn Sie Zeitschriftenwerber sind, können Sie nicht aus Frankfurt sein, müssen also schwimmen können und nur zwei von den vier Schülern verwechseln, ohne besonders zerstreut zu sein. Sie sind also der Schwiegervater des Herrn Maier, Ihre Tochter muß eine geborene Mayer sein und heißt jetzt Maier, also können Sie nicht Meyer heißen, sondern Mayer, sind also der Leiter der Anstalt und Vater des Schülers Mayer!“
Herr Mayer ging vorsichtig rückwärts die Treppe hinunter. Am Nachmittag des nächsten Tages, bei Redaktionsschluß dieser Nummer, ergab sich in der Familie Löser folgende Lage: Herr Löser aß seine Suppe mit der Gabel und arbeitete an einem Gesetzentwurf, der die radikale Ausrottung der Sippen Maier, Mayer, Meyer, Meier, Mayr, Mair, Meyr und Meir forderte. Lisa Löser hatte in ihrem Physikbuch gefunden, daß ein gewisser Robert Mayer das Gesetz von der Erhaltung der Energie entdeckt hätte, gab diesem Rch- ' bert Mayer eine Klasse an .der Anstalt und schickte ihm nach Heilbronn ein Glückwunschtelegramm zu seiner Verlobung mit der Schwiegertochter des Hausdieners. Frau Löser warf ein Beefsteak ä la Meyer zum Fenster hinau's, bezichtigte Herrn Mayer der Bigamie und verlangte in einem Brief an den Justizminister die Auflösung sämtlicher Schwimmclubs und die steckbriefliche Fahn-: düng nach dem Verfasser der Denksportaufgabe.
Wir bitten unsere Leser, sich im Familienkreis ebenfalls der Lösung dieser Denksportaufgabe zu widmen und uns ihre Erfahrungen über die Festigkeit Ihres' Familienlöbens mitzuteilen.
Landschaft in Moll
/ Von August Hoppe
Anmerkungen über das Kamel
/ Von Paul Claudel
Ueber das Kamel ist viel zu sagen, ganz zu schweren von der Angewohnheit, durch ein Nadelöhr zu gehen, die man ihm zuschreibt.
Zunächst also: was würde aus der Wüste werden, wenn ihr nicht dieser feierliche Feldmesser einen Sinn gäbe, indem er sie von einem Ende zum anderen durchquert im unwandelbaren Gleichmaß seiner vier unmäßig langen Gliedmaßen? Ein Dichter hat uns von der Verachtung für die inhaltsleere Situation gesprochen, deren Symbol der Schwan sei. Aber dieser Schwimmfüßler, der seinem Spiegelbild nachschwimmt, lastet nur unmerk- l'ch auf dem Nhhts, an das er gebunden ist. Du Kamel dagegen nimmt mit melancholischer Ansehnlichkeit Schritt für Schritt davon Besitz. Es geht immer geradeaus irgendwohin. K* hat in seiner säuerlichen Strenge wwa» von einem Funktionär und in seiner Ä'-sBnneidigen Würde etwas von einer alten wenn sie sich Ihrer Vergangenheit be- WOIJI Wird, die, ganz dem seltsam zerstückelten H'Merten des Kamels gleich, ihre uns and downs“ hat, wie man wohl sagt Aus -inem anderen Winkel scheint mir das Ka
mel mit seinem diagrammhaften Profil, seiner Zisterne und seinen inneren Vorratskammern, ja mit der ganzen industriellen Ausrüstung seiner vier oder fünf Mägen, der Repräsentant einer Art kontemplativen Kapitalismus zu sein. Wag kann man, wie über die Reserven, die eine Bilanz ausweist, über den doppelten Buckel, der des Kamels Rük- ken ziert, anderes sagen, als daß er ihm zum Dienen dient? Er ist so bequem, ja, mehr als das: er lädt geradeswegs dazu ein, daß man schnell irgend etwas zwischen die Höcker legt, um es anderswohin zu schaffen — Säcke, Kassetten, Teppiche, eine Frau mit K ndern, und jyarum nicht die Königin von Saba selbst?
Aber das Kamel ist nicht nur ein Lastträger von Waren, sondern einer von Horizonten. Was ist es denn selbst anderes als ein stilisierter Horizont, ein Horizont auf dem Marsch? Wer ist diese lange schwarze Leiste vor der untergehenden Sonne, die einer Mauer mit Zinnen gleicht? Wer ist es?
Es sind die Weisen aus dem Morgenland, die dem Jusukind nicht nur Gold, Weihrauch und Myrrhen zum Geschenk bringen, sondern alle Horizonte der Erde.
„Lappland ruft!“ war auf einem Plakat zu lesen, das auf dem Bahnhof zu Göteborg auf die vorbeidrängende Menge der Reisenden einsprach. Man sah, in dünnen Wasserfarben auf weiches Papier getuscht, eine rote Sonne wie einen kupfernen Gong über einem Meer von Wald hängen.
Nun hat der Lappland-Expreß schon Fa- lun passiert. Die Schienenspur stößt wie ein Pfeil in den nördlichen Horizont, als sei ihre Richtung nach der Kompaßnadel ausgewogen. Ohne Widerstand fließt die Ebene ins Weite. Alles ist fern, offen, durchlässig, überschaubar. Selbst die Straßen, diese Fesseln des Auseinanderstrebenden, schnüren das Land nicht zusammen. Die Lokomotive reißt Kilometer um Kilometer unter ihre Räder. Man schätzt den zurückgelegten Weg an der Zahl der durchstoßenen Flußbänder ab. Sie sind seine natürlichen Markierungen, zerschneiden ihn in meßbare Streifen. Ihre weißen Stahlbrücken dröhnen wie Baßgeigen, wenn der Zug sie überrollt.
Allein im Abteil. Die meisten Fahrgäste sind bereits ausgestiegen. Niemand löst sich ein Billett nach Lappland, der nicht muß. Im Aschenbecher schwelt noch eine zerkaute Zigarre. Ein beleibter Herr, der seit Falun auf dem Fensterplatz gegenüber saß, hat sie über sein abgegriffenes Notizheft vergessen, in dem er unaufhörlich Zahlenkolonnen summierte. Jetzt verhandelt er vielleicht über Holzpreise, während sein Tabakrauch noch hier in der Luft steht.
Ewiges Singen der Telephondrähte im Wind. Er spielt mit den ausgespannten Kupferfäden wie auf Saiten. Sind Stunden vergangen, sind es Minuten? Das Rollen der Räder nimmt kein Ende mehr. Man sitzt wie in einem Perpetuum mobile des Verkehrs. Die Landschaft draußen scheint sich langsam zu drehen und mitzukommen. Vom Himmel rieselt weißes L ( cht. Die Luft ist heller Aether, glasklar und durchsichtig. Millionen von birnengelben Birken stehen, eingerahmt in einen schwarzgrünen Kiefernsaum, wie niedergebrannte Kerzen. Moosflecke schimmern dunkelfeucht wie Polster von Sammet. Dazwischen, von einem Windnetz kariert, ein kobaltblauer See in einem Kranz von meergrünem Schilf. Am
Ufer ein Boot mit zinnobergestrichener Wasserlinie, die steüe Spur des Kiels im ockri- gen Sand. Nein, die Feder sträubt sich, das Farbenwunder zu beschreiben. Man kann noch Pferde in Regenbogentönen malen, wie das Franz Marc getan hat. Aber dieser lohende Traum von Buntheit läßt sich ■ nicht wiedergeben.
Das Bild bleibt, bis die Nacht es auslöscht. Aber der Morgen bietet es dem Auge wieder an. Mit der gleichen leuchtenden Intensität. Nur vielleicht etwas satter, vollgesogener, verklärter. Das wilde Crescendo seiner Färbung verströmt in einen tiefen Mollakkord, der schon die bittersüße, schwermutgetragene Melodie Lapplands aufklingen läßt. Immer mehr spinnt der dunkle Celloton einer anschwellenden landschaftlichen Melancholie das Motiv fort, bis er das Thema völlig beherrscht. Eine Musik, deren verborgene Leidenschaftlichkeit nur im mühsam verhaltenen Bogenstrich schwingt, die weder die fassungslose Steigerung in den Kontrapunkt noch den atemstockenden Rückfall in die Tonlosigkeit kennt, wie sie dem nördlichen Norwegen eigen sind.
Die Siedlungen sind locker über den Raum ausgestreut, als könnten sie nie genug Luft bekommen. Trotzdem hat hier jedes Haus noch etwas Einkerkerndes, obgleich sie alle nach Wald riechen, nach frischgeschältem Birkenholz, und den offenen Himmel im Fenster haben. Sie sind wie auflackiert, weiß und blank, voller Kühle, Ordnung, Sauberkeit. An den geblümten Wänden werden ovale Großväter hängen und zufrieden auf die handgemalten Möbel blicken. Auf den Fußböden müssen wohl selbstgeknüpfte Läufer mit breitem, buntdurchwirktem Fadenschlag liegen und die Schritte dämpfen, als ginge man über ein verfilztes Moor. Ob auf dem Vertiko eine Spieluhr tickt und die Pausen mit dem ruhelosen Schlag ihres Perpendikels füllt, bis die Mehlsuppe auf den Tisch gestellt wird? „Gast sein einmal“, sagt Rilke im Cornet. „Einmal sich ■ alles geschehen lassen und wissen, was geschieht ist gut.“ Hier könnte man Gast sein. Ruhe haben. Atem holen.
(Aus „Nördliche Utopia“, Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart.)