£5. Juni 194S
SCHWÄBISCHES TAUBLATT
Nr. 74 / Seite
Erleichterungen für Kapitalanlagen
Landtag beschließt zweites Stcuerreformgesetz / Studentenverbindungen erlaubt / 3-Milli0nen-Bürgschaft tür Mausor-Werke
Eigener Bericht des „Schwäbischen Tagblatts “
BEBENHAUSEN. Nachdem Präsident Geng- demjenigen vom 27. Februar 1939 beruht. Die
ler (CDU) am Donnerstagmorgen die 61. Sitzung des Landtags eröffnet hatte, wurden zunächst verschiedene Kleine Anfragen des Abgeordneten Z e e b (KPD) beantwortet. Dem kommunistischen Wunsch, gegen das „Aufleben des studentischen Verbindungsunwesens an der Landesuniversität“ einzuschreiten, wurde von dem Sprecher des Kultministeriums entgegengehalten, daß den Studenten ebenso wie allen anderen Staatsbürgern das In Artikel 9 des Bonner Grundgesetzes festgelegte Vereinsrecht zustehe. Da sich der ASTA nur mit rein beruflichen Angelegenheiten befasse, kämen die Verbindungen einem offensichtlichen Bedürfnis der Jugend entgegen. Nur der könne von einem „Unwesen“ sprechen, der dem Studenten von vornherein ablehnend gegenüberstehe. Mit voller Billigung der Behörden kämen gegenwärtig Gruppen von Studenten zusammen, um neue Formen der Vereinigung zu finden. Der Große Senat der Universität habe allerdings das Recht und die Pflicht, gewisse Einschränkungen anzuordnen. Bpi ihm seien 15 Genehmigungsanträge emgegangen, bis jetzt sei jedoch noch keine studentische Vereinigung zugelassen worden. Das Fechten, das Farbentragen ln der Oeffentlichkeit, das Chargieren bei Universitätsveranstaltungen und die Beibehaltung der alten Verbindungsnamen seien verboten, hingegen werde ein gewisser Anschluß an die bestehenden Altherrenschaften gestattet.
Den zweiten Punkt der Tagesordnung bildete ein von Wirtschaftsminister Wilder- m u t h (DVP) begründeter Entwurf eines Gesetzes, das den Staat ermächtigt, „eine Bürgschaft bis zum Betrag von 3 Mill. DM zu dem Zweck zu übernehmen, die Löschung einer auf dem Industriegelände der Mauserwerke AG. lastenden Sicherungshypothek und damit die Ansiedlung neuer gewerblicher Unternehmen auf diesem Gelände zu ermöglichen“.
Hilfe für Oberndorf
Die Abgeordneten Holzhauer (SPD), und Z e e b (KPD) drückten zwar ihr Bedauern aus, daß dieses Geld nun praktisch „zur Finanzierung ehemaliger Rüstungsobligationen“ diene — Hypothekengläubiger ist als Treuhänderin der Obligationäre die Dresdner Bank in Berlin —, aber da kein anderer Weg besteht, dem durch die Demontage der Mauserwerke schwer betroffenen Wirtschaftsleben der Stadt Oberndorf aufzuhelfen, wurde das Gesetz in erster, zweiter und dritter Lesung einstimmig angenommen. Ein vom Thema abweichender Exkurs des Präsidenten Gengier (CDU), der betont hatte, daß die Mauserwerke nicht nur für Rüstungszwecke, sondern auch für Friedensbedürfnisse gearbeitet hätten und deshalb einer Unterstützung wohl Wert seien, war von dem Abgeordneten Kalbfell (SPD) mit dem berechtigten Bemerken zurückgewiesen worden, daß es ja kein einziges Mitglied dieses hohen Hauses gäbe, das die Demontage dieser Werke befürwortet hätte.
Hausbau außerhalb Etters?
Anschließend startete der Abgeordnete Schwarz (CDU) eine heftige Attacke gegen die „sture Auffassung der Behörden in Tübingen“, die das Baufreigabeverfahren zu engherzig handhabten, indem sie immer noch auf der Einhaltung der Bauordnung bestünden. die das Bauen außerhalb Etters untersage. Viele Hausbauten seien deshalb stecken geblieben. Innenminister Renner (SPD) verteidigte seine Abteilung 5 mit überzeugender Sachkenntnis und witziger Ironie. Vier Fünftel aller diesbezüglichen Gesuche, so führt er aus, seien von seinem Ministerium genehmigt worden, aber eine grundsätzliche Aufhebung der Etter-Bestimmung würde das Bauen verteuern und den Traditionen unseres Landes zuwiderlaufeh. Nur durch einen Zwangstausch von Grundstücken bzw. durch Enteignung solcher innerhalb Etters gelegener Bauplätze, die vom Eigentümer nicht überbaut, aber auch nicht verkauft würden, könne Abhilfe geschaffen werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf werde gegenwärtig in seinem Ministerium ausgearbeitet.
Noch kein sozialer Aus Eieich
In der Debatte über das zweite Steuerreformgesetz prallten sozialistische und liberale Auffassungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen hart aufeinander. Der Abgeordnete Holzhauer (SPD), der in seinen Parlamentsreden zu doktrinären Formulierungen neigt, bezeichnete es ak ein „privatkapitalistisches Investierungsgesetz“, da es jede unternehmerische Kapitalsanlage, nicht nur die volkswirtschaftlich erwünschte begünstige. Abgeordneter Z e e b (KPD) meinte, die vorgesehenen Steuererleichterungen für die Lohn- und Gehaltsempfänger seien nur „Dekorationsstücke“, das Gesetz vermöge weder einen sozialen Ausgleich zu schaffen noch die Steuermoral zu heben. Mit der Ruhe des erfahrenen Routiniers, der sich auch noch durch ein so wildes Gestrüpp wie es die überaus verzwickte Fassung gerade dieses Steuer- geseizes darstellt, hindurchzufinden weiß, vertrat der Abg. Dr. H a u x (DVP) sowohl die Abänderungsanträge des Finanzausschusses wie auch seine eigenen. Es gelang ihm zwar nicht, auch den Steuersündem Straffreiheit zu verschaffen, die erst „durch eine unmittelbare Gefahr der Entdeckung“ zu Reue und Belbstanzeige veranlaßt werden, hingegen setzte er durch, daß Steuerhinterziehung nicht in allen, sondern nur in gewissen Fällen mit Gefängnis bestraft wird.
Abschreibungsfreiheit wesentlich erweitert
Das Gesetz bringt noch nicht die endgültige von dem Direktor für Finanzen im Zwei- zonen-Verwaltungsrat Dr. Hartmann erst für Herbst prophezeite Steuerreform. Es handelt sich nur um einen Einbau von Vergünstigungen in das bestehende Einkommensteuerge-
Absdireibungsfreiheit ist wesentlich erweitert worden. In dem neuen § 7a heißt es: „Steuerpflichtige ... können für die abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, die im Weg der Ersatzbeschaffung angeschafft oder hergestellt worden sind, neben der nach § 7 von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten zu bemessenden Absetzung für Abnutzung, Abschreibungsfreiheit in folgender Weise in Anspruch nehmen: a) Im- Jahr der Anschaffung oder Herstellung und in dem darauffolgenden Jahr können bis zu insgesamt 50 v. H. der Anschaffungs- oder Herstellungskosten, höchstens jedoch für all« in Betracht kommeftden Wirtschaftsgüter eines Unternehmens bis zu 100 000 DM jährlich, oder b) es können, wenn von der Regelung zu a) kein Gebrauch gemacht wird, für die in Betracht kommenden Wirtschaftsgüter eines Unternehmens im Jahr der Anschaffung oder Herstellung und in dem darauf folgenden Jahr bis zu je 15 v. H. der Anschaffungs- oder Herstellungskosten abgeschriebeh werden.“
Außer den Aufwendungen für Fabrik- und landwirtschaftliche Betriebsgebäude dürfen auch solche für die Errichtung von Werkwohnungen abgesetzt werden, eine Bestimmung, welche noch über die Regelung in der Bizone hinausgeht, die sonst als Vorbild diente.
Für die Arbeitnehmer von besonderem Interesse ist der rüdewirkend ab I. April 1949
in Kraft tretende § 34 a: „Sind gesetzlich oder in Tarifverträgen für Dienste, die über die Dauer der gesetzlichen oder tarifmäßigen Arbeitszeit hinaus geleistet werden (Mehrarbeit), besondere Entlohnungen vorgesehen, so wird der Grundlohn für die Mehrarbeit mit 5 v. H. versteuert; die Zuschläge sind steuerfrei. Die gesetzlichen oder tariflichen Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sind auch dann steuerfrei, wenn es sich nicht um Mehrarbeit handelt.“
Das ganze Gesetz wurde gegen die Stimmen der kommunistischen Fraktion in dritter Lesung angenommen. Der Abschnitt 1 (Einkommensteuer und Körperschaftssteuer) tritt 1 — mit Ausnahme der Ziffer 13, die u. a. den eben genannten § 34a umfaßt — rückwirkend am 1. Januar 1949, die übrigen Abschnitte (Erlangung von Straffreiheit durch Selbstanzeige, Steuerstrafen u. a.) treten am Tag nach der Verkündigung in Kraft.
Der fast schon üblich gewordene Versuch des Landtagspräsidenten Gengier (CDU), die mit dem Hungergefühl und der Ermüdung aufkommende Diskussionsunfreudigkeit der Abgeordneten auszunützen, um hastig noch ein weiteres Quantum der Tagesordnung durchzupeitschen, wurde diesmal — es war bereits Vs3 Uhr nachmittags — von dem Abg. Kalbfell (SPD), unterstützt von Staats- sident Dr. Gebhard Müller (CDU) erfolgreich durchkreuzt.
Aenderungen in der Sozialversicherung
In der Freitagsitzung begründete eingangs Arbeitsminister W i r s c h i n g den Gesetzentwurf zur „Aenderung in der, Sozialversicherung“ (Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz). Der Minister wies darauf hin, daß es sich dabei um die Anpassung zahlreicher Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung an das veränderte Lohn- und Preisgefüge handle.
Der vorliegende Entwurf decke sich materiell mit dem in der Bizone beschlossenen Gesetz. Es sei dies schon deshalb notwendig, weil für die Länder Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollem eine gemeinsame Landesversicherungsanstalt in Stuttgart bestehe. Andererseits erfordere das Prinzip der Rechtsangleichung die Annahme des in der Bizone beschlossenen Gesetzes. Auch die Abweichungen seien überwiegend redaktioneller Art und ergaben sich aus staatsrechtlichen Gründen. Außerdem sei eine Anpassung an die speziellen Verhältnisse und Einrichtungen des Landes notwendig gewesen. Eine Abweichung in den Leistungen nach unten wäre von den Betroffenen in Württemberg-Hohenzollem nicht verstanden worden, zumal sie auf Grund der Verordnung Nr. 39 der französischen Militärregierung seit 1946 höhere Beiträge entrichten müssen, denen jedoch keine höheren Leistungen gegenüber ständen.
Nach Artikel 120 des Bonner Grundgesetzes werde der Bund künftig die Sorge für die Finanzierung der Rentenversicherung übernehmen. Deshalb sei in dem Entwurf vorgesehen, daß die „vom Reich zu tragenden Grundbe- träge der Invalidenversicherung“ vorbehaltlich der Verrechnung mit dem Bund bis auf weiteres vom Land aufgebracht würden.
Wichtige Aenderungen, die das Gesetz bringe, seien ferner die Erhöhung des Beitrages für die versicherungspflichtigen Arbeiter und Angestellten von 9 auf 10 Prozent, Herabsetzung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4 Prozent und die hälftige Verteilung der Beiträge auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Damit würden auch die Organe der Selbstverwaltung entsprechend hälftig besetzt.
Die einschneidenste Aenderung ist nach Ar- beitsminister Wirsching die Aenderung des Invaliditätsbegriffes in der Invalidenversicherung und ihre Anpassung an die Bestimmungen der Angestelltenversicherung, das heißt, daß künftig auch der Arbeiter bei 50prozenti- ger Erwerbsunfähigkeit Rentner wird und nach seinem Tode die Witwe automatisch ein« Rente erhält, also nicht erst bei eigener Erwerbsunfähigkeit.
Die finanziellen Auswirkungen ließen sich noch nicht übersehen, da versicherungsmathematische Unterlagen fehlten. Die angegebenen Leistungen bezögen sich jedoch zunächst nur auf künftig eintretende Rentenfälle der Invalidenversicherung (nach dem 31. Mai 1949).
Bei der Krankenversicherung habe man insofern von dem Frankfurter Gesetz abweichen müssen, weil die Selbstverwaltung in der Krankenversicherung in Süd Württemberg schon seit einem Jahr wieder hergestellt sei. In der Invalidenversicherung und in der Angestelltenversicherung würden demnach bis zur Neuordnung der Sozialversicherung zu den Renten Zuschläge bezahlt. Diese seien bis auf weiteres so bemessen, daß 1. die Invalidenrente und Ruhegeld um 15 DM, mindestens jedoch auf 50 DM; 2. die Witwenrente um 12 DM, jedoch mindestens auf 40 DM; 3. die Waisenrente um 6 RM, jedoch mindestens auf 30 DM monatlich erhöht würde. Außerdem werde zu den Kinderzuschlägen bis auf weiteres ein Zuschlag von 5 DM monatlich für jedes zuschlagsberechtigte Kind gewährt.
Die Mehrbelastung, die sich aus diesen Leistungen für das Land ergaben, seien mit jährlich 12 Mill. DM zu veranschlagen. Das bedeute für die 10 Monate des Haushaltsjahres 49/50 rund 10 Mill. DM.
In der allgemeinen Debatte stimmten die Abgeordneten Maucher (CDU), Müller (SPD), Rager (DVP) und Wieland (KP), grundsätzlich nach Vorbringung der Bedenken in einzelnen Punkten für ihre Parteien dem Gesetzentwurf zu. Auf die in der allgemeinen Debatte vorgebrachten Bedenken antwortete Wirsching mit den von CDU-Seite als Zwischenruf in die Debatte geworfenen Frage, sollen die Rentner noch länger warten? Außerdem wies er daraufhin, daß das Gesetz in der vorliegenden Form gerade noch im Haushalt unterzubringen sei. Eine höhere Belastung aber
Zu dem Antrag der SPD und KP, in da» 6 Gesetz die Ansprüche der Verfolgten des Nationalsozialismus mit einzubeziehen, erklärte- Staatspräsident Müller, er billige die sachlichen Gründe, müsse aber darauf aufmerksam machen, daß in dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus für die Lösung der Probleme Sorge getragen werde. Er warne jedoch vor Zersplitterung der Gesetzgebung. Das Gesetz wurde in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Probleme des Wohnungsbaus
Bei der Begründung des Gesetzentwurfs über finanzielle Maßnahmen zur Förderung des Wiederaufbaus und zur Wohnraumbe- schaffung teilte Minister Renner mit, daß eine neuerliche Beratung des Gesetzes notwendig sei, nachdem die Militärregierung es in der alten Fassung abgelehnt bzw. wesentliche Aenderungen gefordert habe. Industrie und Gewerbe könnten in dem Gesetz keine Berücksichtigung finden, dies sei der durch den Bund zu erlassenden Gesetzgebung zur Regelung der Kriegs- und Kriegsfolgenschäden überlassen.
In der allgemeinen Debatte regte der Abg. Lieb (CDU) an, man möge nicht so viele Banken bei der Finanzierung des Wiederaufbaus erheben. Minister Renner unterrichtete das Haus darüber, daß von den 10 Millionen, die vom Staat hierfür zur Verfügung gestellt ww- den sollen, bisher von der Militärregierung nur drei Millionen Zustimmung gefunden haben.
Abg. Kalbfell (SPD) appellierte an den Landtag, es müsse eine Sonderleistung für die zwei schwerbeschädigten Städte Friedrichshafen und Freudenstadt möglich gemacht werden, um ihnen ihre Lebensgrundlage wieder zu beschaffen. Da für den Wiederaufbau von Geschädigten nichts eingesetzt sei, schlage er yor, außer den mit dem Gesetz bereits genehmigten vier Millionen aus dem Landesarbeitsstock noch eine weitere Million als erste Hypothek einzusetzen.
Das Gesetz fand die einstimmige Billigung des Hause®. (Siehe auch den Bericht auf Seite 1)
Hoffnung aut eine neue Heimat
LÜBECK, im Juni
gm*. Wann ist zum erstenmal davon gesprochen worden, daß sie nun bald ihre Elendsquartiere in Schleswig-Holstein verlassen würden, um irgendwo im restlichen Deutschland eine neue Heimat zu finden? Heute läßt sich das nicht mehr genau feststellen. Sicher ist aber, daß sich hartnäckige Gerüchte auf einer großen Flüchtlingskonferenz der westdeutschen Ministerpräsidenten im Kurhaus von Bad Segeberg im Hochsommer 1947 zu offiziellen Versprechungen verdichteten.
Rund 300 000 der mehr als eine Million Vertriebenen in Schleswig-Holstein (bei einer Stammbevölkerung von 1,8 Millionen Menschen) sollten so bald wie nur möglich umgesiedelt werden, weil Westdeutschlands kleinstes und ärmstes Land nicht nur niemals in der Lage sein könne, ihnen ausreichenden menschenwürdigen Wohnraum zu geben, sondern auch nicht über Arbeitsmöglichkeiten für eine solche Armee von hoffnungslos verarmten Menschen verfüge.
Aufnahmegebiet für Umsiedler sollten in der Hauptsache die Länder der französischen Zone werden. Das Jahr verging, es geschah nichts. Inzwischen sanken die offiziellen Ziffern steil nach unten. 200 000, 150 000, 100 000 ..., und selbst die standen nur auf dem geduldigen Papier. Vergeblich quälten sich die Behörden im äußersten Norden verzweifelt ab, wenigstens die verheerendsten Zustände in den Massenlagern, die zudem fortgesetzt mit Flüchtlingen aus der sowjetischen Ostzone auf gefüllt wurden, zu beseitigen.
Neue Konferenzen, neue Abmachungen, neue Pläne, neue Versprechungen, neue Registrierungen folgten. Einmal hieß das Ziel Nordrhein-Westfalen, ein anderes Mal Niedersachsen. Beide Aktionen scheiterten.
Nun ist es wieder soweit. In der idyllisch gelegenen holsteinischen Rosenstadt Eutin sitzt gegenwärtig die Umsiedler-Transportgruppe B inmitten tausender Karteikarten, Registrie- rungs- und sonstiger Papiere, um den ersten Transportzug freiwillig nach Württemberg- Hohenzollern „auswandernder“ Flüchtlinge noch im Juni abfahrbereit zu machen. Das wären also die ersten 400, denen nach fünf Jahren qualvollen Wartens wirklich und wahrhaftig das Wunder einer neuen Heimat winkt.
Insgesamt sollen 150 solcher Transporte mit 60 000 Vertriebenen aus Schleswig-Holstein nach Südwestdeutschland fahren. Es handelt sich dabei um 14 500 Arbeitskräfte und ihre Angehörigen, die ihre gesamte Habe einschließlich Schweinen, Schafen, Hühnern usw. mitnehmen dürfen. Die von der Eutiner Transportgruppe betreuten Umsiedler saßen bisher in den Ostseebädern der Lübecker Bucht. Auf Grund der freiwilligen Meldungen wurden die Umsiedler nach Berufen ausgewählt. Neben Land- und Waldarbeitern kamen vor allem Fachkräfte aus der Metall-, Textil- und Holzindustrie für diese Aktion in Frage, soweit sie in ihren bisherigen Aufenthaltsorten keine Beschäftigung hatten finden können. Mit der Inanspruchnahme von dringend für den Fremdenverkehr in den Bädern benötigtem Wohnraum nahmen sie außerdem den alteingesessenen Küstenbewohnem jede Möglichkeit zum Wiederaufstieg.
Beachtliche Schwierigkeiten verursacht immer noch die Finanzierung der Umsiedlung. Neben der Uebernahme der reinen Transportkosten, die auf rund 3,8 Millionen DM veranschlagt wurden, mußte sich die Kieler Regierung auf Forderung der französischen Zone auch zur Teilnahme an einem auf 200 DM bezifferten Darlehen für jeden Umsiedler verpflichten. Den Flüchtlingen selbst entstehen keinerlei Unkosten, die aufzubringen sie sowieso kaum in der Lage wären. S : e selbst sind immer noch mißtrauisch genug. Man hat ihnen schon zu viel versprochen. „Schlimmer kann es auf keinen Fall werden“, erklärte ein ostpreußischer Bauer im Gespräch: „Ob Sie’* glauben oder nicht, das hier war die Hölle für uns alle!“
Charakter in der Technik
Erster internationaler Kongreß der Ingenieure zu Konstanz
Drahtbericht unseres rr.-
KONSTANZ. Die F.A. S.F. I. (Federation des Associations Societees Frangaises d’Inge- nieurs), die rund 90 Prozent aller diplomierten französischen Ingenieure umfassende berufsständische Spitzenorganisation, ähnlich dem deutschen VDJ, hat führende Kollegen au* den Ländern Deutschland, Belgien, Holland, Luxemburg, Oesterreich, Schweiz, Großbritannien und USA (Angelsachsen, soweit in Deutschland tätig) zu einem internationalen Kongreß der Ingenieure nach Konstanz eingeladen Ueber 600 sind dem Ruf gefolgt. Die blaue FASFI-Fahne bestimmte von Mittwoch bis heute das Gesicht der Stadt.
Der Kongreß hält Sitzungen im Insel-Hotel, im Hotel St. Johann und trifft sich als Plenum im Konzil-Gebäude Das Besondere an diesem Kongreß der Techniker ist, daß er sich gar nicht eigentlich mit Technik befaßt, sondern mit den sittlichen, sozialen und berufsständischen Fragen, denen sich der Ingenieur von heute gegnübergestellt sieht. Die Teilnehmer haben sich in Kommissionen aufgeteilt u. besprechen in diesen folgende Hauptthemen: 1. die Ausbildung des Ingenieurs vor, während und nach der Schule auf technischem, sozialem und gesellschaftlichem Gebiet; 2. die Stellung de* Ingenieurs und seine Aufgabe in Technik und Wirtschaft, seine Stellung in der Gesellschaft, dars soziale und menschliche Wirkungsfeld; 3. Berufsfragen des Ingenieurs, die Bedeutung und Schutz des Titels, berufliche Organisationen, Einfluß auf die Aufgaben der Berufsverbände; 4. Der Ingeniuer und die wissenschaftliche und technische Forschung und 5. Das Problem des Eigentumsrechts des ange- stellten Ingenieurs an seiner im Betrieb gemachten Erfindung.
Die tiefere Bedeutung des Kongresses sehen wir in zwei Erscheinungen: Dem Anspruch des Ingenieurs auf ein größeres politisches Mitbestimmungsrecht und in der Fühlungnahme zwischen Deutschen und Franzosen.
Der Techniker hat nach zwei Weltkriegen
■ Redaktionsmitgliedes
det: den Krieg... und auch den Frieden. Er will nicht mrhr nur Werkzeug sein für den, wie ein Teilnehmer pointierte, „Altphilologen“. Er will entsprechend seiner Verantwortung auch Einfluß gewinnen und zwar ist das nicht nur ein sozialer Anspruch als eine materielle Forderung gegen andere. Nach dem Geist des Kongresses muß es mehr sein, nämlich sittliches Postulat. Daneben kommt aber dem Kongreß noch eine besondere Bedeutung zu. Auf dem uralten Boden in der Junistimmung der Stadt am See begegnen sich Angehörige der beiden Nationen als Einzelmenschen, als Individuen, und sie spüren, wie ähnlich Menschen und Situationen auf beiden Seifen des Rheines sind. Die „öffentliche“ Meinung ist mit Ressentiment* noch immer geladen. Trotzdem ist jeder menschliche Kontakt ein kleiner Schritt auf dem Weg zueinander, den das französische und das deutsche Volk nun einmal gehen müssen, wenn anders sie nicht beide auf ihre Zukunft überhaupt verzichten wollen.
Das Anliegen des Konstanzer Kongresses haben wir dahin gekennzeichnet, daß menschliche Anständigkeit und Charakter in die Technik hereingetragen werden sollen. Leider konnte man in Konstanz die Meinung vertreten hören, es wäre zumindest eigenartig, wenn nicht taktlos, daß die FASFI, wenn sie schon die „Be- triebserflndung“ diskutieren lasse, nicht auch die Frage nach dem Schicksal der deutschen Patente zur offenen Aussprache unter den Kollegen stelle. Wir sind gegenteiliger Meinung. Die Frage der Anerkennung der vom ehemaligen Deutschen Reich mit ausländischen Staaten getätigten völkerrechtlichen Verträge liegt ja völlig jenseits der tatsächlichen Kompetenz der privaten Organisationen. Sie könnten sich höchstens akademisch über die Frage als solche unterhalten, und das wäre ebenfalls zwecklos, denn zu einer „akademischen“ Unterhaltung würden wiederum Fachleute gehören und das müssen in dieser Frage primär Politiker und dann sekundär Juristen sein. Weshalb also