14. Februar 1949,
SCHWÄBISCHES TAGBLATT
Nr. 19 / Seite 7
In der Hauptrolle: Victor Kravchenko
Notizen zu einem Sensationsprozeß / Von unserem Pariser Dt .E.G.P.-Korrespondenten
Unter den boshaften Bemerkungen, die von der Pariser Linkspresse gegen Victor Kravchenko täglich gemacht werden, war wohl bisher die gelungenste, daß der Wahlspruch des Autors „J’ai choisi la liberte“ (Ich wählte die Freiheit) in „J’ai choisi la publicite“ (Ich wählte die Reklame) umgeändert wurde. Ohne die sonstigen Talente Kravchenkos zu bezweifeln, muß man es ihm lassen, daß er eine ausgesprochene Begabung für „publicite“ besitzt. Seit einem Jahr versäumte er keine Gelegenheit, um in Presseinterviews auf sich und seinen bevorstehenden Prozeß hinzuweisen, und wenn es auch der amerikanische' Verleger war, der das Buch „Ich wählte die Freiheit“ in 22 Sprachen übersetzen ließ und den Prozeß gegen die kommunistische Pariser Wochenzeitung „Les Lettres Francaises“ startete, so muß doch Victor Kravchenko, nachdem er die Scheinwerfer auf sich gelenkt hat, jetzt se'bst im Prozeß seinen Mann stehen.
Mit der gleichen Zielbewußtheit, mit der er sich im kommunistischen Rußland zum hohen Funktionär heraufarbeitete, in „Gods own country“ den kühnen Sprung ins feindliche Lager unternahm und nach der privaten Flucht in die persönliche Freiheit sich zum Symbol des gepeinigten sowjetischen Untertanen und zum Anwalt aller „Staatsfeinde“ in der Sowjetunion machte, hat er auch die tragende Holle in seinem Prozeß übernommen, in dem er weniger die kommunistischen Pariser Literaten, als das ganze Sowjetsystem unter Anklage stellt. Da er den Schauplatz der Handlung — Paris — nicht kennt, kann er auch nicht wissen, daß seine untadelige und reichhaltige Garderobe, aus der er zu jedem Prozeßtermin einen anderen Anzug vorführt, in einer Stadt, in der die Männer sich befleißigen, neben einer so elegant wie nur möglich gekleideten Frau selbst ein prononcierte Saloppheit zur Schau zu tragen, keine unbedingt gute Reklame ist.
Die Bezeichnung „bei homme" ist ln Paris für einen Mann .wenig schmeichelhaft, und Victor Kravchenko versteht es sicher nicht, warum die Journalisten der Boulevardblätter, die wahrscheinlich selbst den Gegenwert eines erstklassigen Anzugs jede Woche in Restaurants anlegen, ohne sich je einen solchen anfertigen zu lassen, zunächst einmal jeden Prozeßbericht mit einer eingehenden Beschreibung beginnen, ob Victor Kravchenko kastanienbraun oder taubenblau, einreihig oder zweireihig geknöpft, auf der Prozeßbühne erscheint. Doch wenn Kravchenko auch beim Gespräch mit einer hübschen Dame, der er sein Autogramm gibt, dem Reporter, der ihn fragt, wer diese Dame sei, ohne Zögern antwortet: „Eine meiner Verehrerinnen“, so vergißt er doch über dem siegessicheren Lächeln des jugendlichen Liebhabers nicht, daß er eigentlich Charakterfach zu spielen hat.
Das bekommt dafür der kommunistische Schriftsteller Andre Wurmser zu spüren. Bei dessen krampfhaften und hektischen Versuchen, die Glaubwürdigkeit der armen Opfer zu erschüttern, die ihren Leidensweg nach Sibirien schildern, um die Wahrheit des Krav- chenkoschen Buches zu bezeugen, gerät Victor Kravchenko außer sich und gewinnt dramatische Höhepunkte, bei denen er bald rot, bald bleich wird, schreit und brüllt, mit den Füßen stampft und dem giftigen Wurmser mit der geballten Faust der Gurgel so nahe kommt, daß der die unerschütterliche Ruhe bewahrende Gerichtspräsident Dürkheim zwei Polizisten als eisernen Vorhang zwischen Kravchenko und seine Gegner schieben muß.
Sehen wir also den in allen Sätteln gerechten Kravchenko im Gerichtssaal persönlich, so erfahren wir von seinen Hofjournalisten, daß er in seinem Pariser Hotel gleich nach der Ankunft Nudelsuppe zur Lieblingsspeise erwählt hat, sich dauernd darüber beklagt, daß das gebackene Hirn, was er sich ebenfalls täglich bestellt, nicht genügend „gebruzzelt“ hat (Kravchenko findet die französische Küche ausgesprochen schlecht!) und sich aus einem
russischen Geschäft heimatliches Schwarzbrot holen läßt. Wissen wir, daß man ihn nicht wie den treuherzigen Garry Davis (die andere Sensation dieser Pariser Wintersaison) als ein „Gotteslämmchen“ bezeichnen kann, so ist damit der „Fall Kravchenko“ jedoch noch nicht erledigt.
Kravchenko hat in seinem Buch die Leiden geschildert, die das totalitäre Sowjetregime seinen Einwohnern auferlegt. Eine Reihe von Menschen, die heute zumeist in deutschen DP- Lagern leben, wurden von der Darstellung des Buches, in dem sie ihr eigenes Leben wiederfanden, so beeindruckt, daß sie, als Kravchenko in Zeitungen nach Zeugen aufrief, sich meldeten, um ihre eigene Leidensgeschichte zum Beweise dafür vorzutragen, daß der Inhalt des Buches die Lebensverhältnisse in der Sowjetunion wahrheitsgetreu schflderte. Da steht nun der ukrainische Bauer Krevsun, der plötzlich von der NKWD verhaftet und mißhandelt wurde, um Geständnisse zu unterschreiben, ohne daß er wußte, was er eigentlich getan haben sollte. Er schildert seinen abenteuerlichen Transport nach Sibirien, wo er bei 40 Grad Kälte unter unmenschlichen Qualen in den Goldminen arbeiten mußte.
Da steht die Bäuerin Olga Martchenko, die bei der Kollektivierung des Bodens in schwangerem Zustand von ihrem Bauernhof vertrieben und in den Schnee gestoßen wurde. Da gibt es den Ingenieur Kysilo, der zur Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil selbst die Maschinen das Stachanow-System nicht aushielten und man ihm deren durch Ueberbean- spruchung eingetretene Defekte als Sabotageakt auslegte.
Alle derartigen Leidensgeschichten sind schon vor dem Kravchenko-Prozeß beschrieben worden. Nicht sie sind das Entscheidende, sondern die Reaktion der Kravchenko-Gegner. Andre Wurmser und andere französische Kommunisten hören bei diesen Berichten gar nicht hin, sondern erwidern sofort mit den Leiden, welche Nazis und Gestapo der Welt zugefügt haben- Am charakteristischsten ist aber die Aussage des zum linken Flügel der Labour Party gehörenden englischen Abgeordneten Zilliacus, der zum Prozeß Kravchenko ebenso wie der amerikanische Schriftsteller Kahn (Verfasser des Buches „Die Verschwörung gegen die Sowjetunion“) nach Paris kam, um dort gegen Kravchenko zu zeugen.
Nehmen wir, um genau zu sein, das Prozeßstenogramm. Zilliacus: „Jetzt aber der Inhalt (des Buches von Kravchenko). Die Hauptan
klage Kravchenkos gegen sein Land ist die Anklage gegen die Grausamkeit und die Unwirksamkeit des Sowjetsystems. Die Grausamkeit des Regimes, mein Gott, Grausamkeiten und Verbrechen sind nicht von den Bolschewisten erfunden..." Das ist alles. Hier aber liegt der Kernpunkt des ganzen Prozesses. Nicht Grausamkeit und Terror als solche werden verdammt, sondern es kommt darauf an, wer sie und zu welchem Zweck er sie verübt. Für Andre Wurmser, Kahn, Dr. Normann (Rechtsanwalt der „Lettres Francaises“), Zilliacus, Grenier (französischer kommunistischer Abgeordneter) geht die These einfach dahin, wenn Kravchenko in seinem Buch von sowjetischen Grausamkeiten berichtet, und nicht von denen der Nazis, dann sei das eben eine Fortsetzung der faschistischen 5. Kolonne.
Unsere Generation hat den Ausschlag des Pendels zwischen Individualismus und Kollektivismus nach beiden Seiten erlebt. Natürlich wünschen die Theoretiker, wie Herr Zilliacus keine Grausamkeiten. Zilliacus erklärt uns genau, warum gerade zu jenem Zeitpunkt eine Kollektivierung des Bodens in der Sowjet-
Oberschlesien war eines unserer wichtigsten Industriegebiete. Die Erde birgt in mächtigen Flözen die schwarzen Diamanten sowie Eisenerze, Blei und Zink. In diesem Gebiet reiht sich ein Schacht an den anderen. Das für uns so wichtige Industriegebiet ist fast unversehrt in polnische Hände übergegangen. Die Regierungshauptstadt Kattowitz. die heute „Katowice“ heißt und weiterhin den Mittelpunkt des Landes darstellf, sowie die anderen Großstädte des oberschlesischen Bergbau- und Industriegebietes wie Königshütte (heute Chor- zow), Beuthen (Bytom), Hindenburg (Zabrze) und Gleiwitz (Gliwice) haben bis auf kleinere Beschädigungen in Kattowitz und Gleiwitz, die auf Straßenkämpfe zurückzuführen sind, fast unbeschädigt die Kriegs- und Besetzungsereignisse überstanden. In diesem Südostzipfel Deutschlands hatten die dort verbliebenen Deutschen besonders an Verfolgungen zu leiden. Es ist das Gebiet, in dem ein großer Teil der Bevölkerung die polnische und die deutsche Sprache beherrscht.
Gleich nach der Besetzung begannen die Verhaftungen und Drangsalierungen. Deutsche, die vorher irgendwie mit der NSDAP in Ver-
union erfolgen mußte. Ob allerdings diese wirtschaftswissenschaftliche Erklärung Olga Martchenko, die von ihrem Hof vertrieben wurde, befriedigt, ist eine andere Frage. Wie für den Planwirtschaftler der Plan wichtiger ist, als die Wirtschaft, so müssen auch die Theoretiker des Kollektivismus über die Opfer der „Einzelerscheinungen“ hinwegsehen und können dazu nur, wie es auch Zilliacus tat, „Mein Gott..." sagen.
Doch noch etwas anderes hat sich, wie der Kravchenko-Prozeß zeigt, nach dem zweiten Weltkrieg grundsätzlich gegenüber der Zeit nach dem ersten Weltkrieg geändert. Der Hauptvorwurf, der Kravchenko gemacht wird, ist der, daß er ein Landesverräter sei. „In einem Augenblick, in dem Kravchenko gegen die Sowjetunion in der ,New York Times* Artikel schrieb (1944), kämpfte das Regime der Sowjetunion gegen unseren gemeinsamen Feind, der das Land schwer bedrängte. Damit entlarvte sich Kravchenko als Landesverräter“, sagte Zilliacus, ohne sich der Komik dieser Argumentation bewußt zu werden, nachdem vor 30 Jahren Lenin und Trotzki im plombiertenEisenbahnwaggon, den der deutsche Generalstab gestellt hatte, aus der Schweiz quer durch das feindliche Deutschland fuhren, um das damals ebenfalls Rußland verteidigende zaristische Regime zu stürzen.
bindung standen, gleichgültig ob als Mitglieder der Partei oder ihrer Gliederungen, wurden in besondere Lager gesteckt, wo sie be* kärglicher Verpflegung ihr trauriges Dasein fristen mußten. Sogar ehemalige NSV-Mt" • glieder wurden wie Schwerverbrecher behau delt. Alle anderen Deutschen, die irgendwo* diesen Lagern entgehen konnten, wurden tut» größten Teil aus ihren Wohnungen vertrieben und bis zur Ausweisung in ein armselig*» Quartier gebracht. Die Möbelstücke und sonstiges Eigentum wurden sofort beschlagnahm»
Einigen wenigen Deutschen ist es allerdings gelungen, durch Annahme der .polnischst* Staatsangehörigkeit in der Heimat zu bleiben Schwer läßt sich jedoch die Zahl dieser Neupolen schätzen. Diese ehemaligen Deutschen leben zum größten Teil ostwärts von Beuthen, also in dem Gebiet, das durch den Versaillor Vertrag bis zum Jahre 1922 aus dem deutschen Reichsgebiet gelöst wurde. Diese Deutschen erfüllen heute die einfache Voraussetzung für den polnischen Bürgerbrief, nämlich polnische Sprachkenntnisse zu haben und in jenen Gebieten geboren zu sein.
Viele Deutsche wollten ihre Heimat nicht verlassen und nahmen lieber die nationale Entfremdung auf sich als ein Leben in Not und völliger Besitzlosigkeit im Restdeutschland. Andere konnten dadurch, daß sie blieben, ihren alten Arbeitsplatz behalten, manche ihren Haus-, Grund- oder sonstigen Besitz retten. Alte Leute optierten in großer Zahl für Polen, weil sie nicht mehr verpflanzt werden wollten und ihr Grab in heimatlicher Erde wünschten.
Die Jungen und Arbeitsfähigen mußten sich vielfach umstellen und von Intelligenzberufen zur Handarbeit überwechseln. Sie verdienen genug, um nicht zu verhungern. Der Lohn eines qualifizierten Facharbeiters in der Eisenindustrie beträgt durchschnittlich 9000 Zloty monatlich. Auch die Bergarbeiter verdienen verhältnismäßig gut. .
Die Polonisierung des oberschlesischen Industriegebietes wurde mit besonderer Sorgfalt durchgeführt. Alle deutschen Aufschriften sind seit Jahren verschwunden. Deutsche Zeitungen und Bücher sind verboten. Die Friedhöfe wurden ihrer deutschen Denkmäler beraubt. Aufschriften auf Küchengefäßen, wie Salz, Pfeffer, Zucker usw. mußten überklebt werden. Wer auf der Straße deutsch redet, wird verhaftet. Deutsche Optanten mit ausgesprochenem deutschen Vor- und Zunamen erhielten die Aufforderung, sich polnische Namen zuzulegen, da sie sonst ihrer Arbeitsstelle oder auch ihres Bürgerbriefes verlustig würden.
Dollarprinzen in Uniform
NP „Aeltere Jahrgänge der amerikanischen Armee verstehen nicht, warum sich heute die jungen Soldaten nicht fürs ganze Leben verpflichten“, heißt es in einem Artikel der amerikanischen Soldatenzeitung „Stars and Stripes“. Ja, warum nicht? Kein Soldat in der ganzen Welt kann heute so viel für seinen Sold kaufen wie Gl-Joe in Deutschland. Jeder von ihnen ist hier praktisch ein „Großverdiener“, und es ist auch kein Geheimnis, daß siq,in der amerikanischen Zone die besten und manchmal einzigen Kunden von Luxusgeschäften und Nachbars nach der Währungsreform sind.
Das Dollareinkommen eines amerikanischen Soldaten ist in den letzten zehn Jahren um das Drei- bis Fünffache gestiegen. 1937 erhielt ein gewöhnlicher Soldat, der sogenannte „Pri-. vate“, einen monatlichen Sold von 17,85 Dollar. Heute bekommt er 75 Dollar. Qer Korporal, der höchste Mannschaftsgrad, erhält jetzt 100 Dollar, 1937 bekam er nur 45 Dollar Monatssold. Bedenkt man weiter, daß der illegale Dollarkurs heute zwischen 15 und 20 Mark schwankt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß sich der USA-Soldat im Mannschaftsdienstgrad heute das Fünfzehn- bis Zwanzigfache für sein Geld an Waren kaufen kann, als das vor gut zehn Jahren in seiner Heimat der Fall war.
Wie verbraucht der amerikanische Soldat nun im besetzten Land sein Geld? In den Besatzungszentren Frankfurt, Heidelberg und Garmisch kann man auf diese Frage schnell eine Antwort finden. Fast jeder Soldat hat eine „Freundin“, die er zunächst einmal von oben bis unten neu einkleidet. Diese als „Fräuleins“ allgemein bekannten Mädchen sind meistens schon an ihren grelleuchtenden Kleidungsstücken zu erkennen. Knallrot und Giftgrün herrschen vor.
In den Schmuck-, Juwelier- und Fotogeschäften ist der amerikanische Soldat auch nach der Währungsreform noch Kunde Numero 1. Seitdem die offiziellen Tauschläden ihre Pforten geschlossen haben, hat der normale DM-Einkauf die Oberhand gewonnen. Eine Leica oder eine andere gute Kleinbildkamera gehört noch immer zur unumgänglichen Privatausstattung des Uniformierten aus USA.
Ein Blick in die Ausgabe der „New York Herald Tribüne“ zeigt schließlich noch eine andere schöne Möglichkeit, die Dollar loszuwerden. Vom Kaffee (das Pfund für 30 Cent) bis zu den Nylonstrümpfen (das Dutzend zu 12.50 Dollar) bieten dort die amerikanischen Versandhäuser fast alles an, was zum täglichen Leben gebraucht wird.
Das Schicksal der Deutschen in Oberschlesien
Von unserem E. M.-Korrespondenten in Kattowitz
Skiplauderei für Nichtaktive
Wenn Sie es darauf anlegen, einem Skikampfrichter auf die Nerven zu fallen, dann reden Sie ihn ungefähr folgendermaßen an: „Sagen Sie mal bitte, was ist eigentlich der kritische Punkt?“ Auch ohne große Menschenkenntnis werden Sie gleich merken, daß Sie mit dem „kritischen“ einen neuralgischen Punkt des Experten berührt haben.
Fürs erste allerdings wird er noch sein Gesicht wahren und Ihnen mit der Miene eines Kepler, der seine Gesetze von den Planetenbewegung verkündet, sagen: „der kritische Punkt ist der Punkt, bei dem es für den Springer kritisch wird.“ Vermutlich stehen Sie daraufhin einen Augenblick verblüfft, dann sind Sie geneigt zu bemerken, daß Sie diese Erklärung für eine Art Tautologie ansehen, dann schlägt Ihr Seelenzustand über ins Ironische und Sie sind versucht, darauf hinzuweisen. daß Sie von Anfang an der Ansicht gewesen wären, daß es am kritischen Punkt für den Springer und nicht etwa für den Zuschauer oder für den Kampfrichter kritisch würde.
Nur wenn es Ihnen gelingt solchen blasphe- mischen Neigungen zu widerstehen, und nur wenn Sie einen Experten erwischt haben, der besonders zugänglich ist für Nichtexperten, dann werden Sie durch behutsames diplomatisches Weitertasten zu folgender Erkenntnis bezüglich der Schanzen und ihrer kritischen Punkte gelangen: die ersten Schanzen wurden einfach in einen steilen Hang hineingebaut, der Tisch hatte vielfach sogar eine leichte Steigung. Der Springer wurde auf derartiger Schanze hoch in die Luft geworfen und kam steil herunter. Man nennt diese ersten Erzeugnisse des Schanzenbaues nicht ganz unberechtigterweise „Loopingsschanzen“. Das Springen war gefährlich, die Weiten mäßig. Die Verbesserung der Ergebnisse durch Steigerung des Anlaufs ist bei Schanzen dieser Art nur be
beschränkt möglich, denn der Springer muß ja das Tempo des Anlaufs im Knick des Schanzentisches abfangen. Er erhält einen furchtbaren schockartigen Druck gerade im Moment der Konzentration auf den Absprung. Man baute deshalb die Tische erst wagrecht und dann sogar mit Neigung und war damit bei der „Hängeschanze“ angelangt. Jetzt konnten die Anlaufgeschwindigkeiten gewaltig erhöht und die Weiten gesteigert werden. Die Neigung des Anlaufs wurde auf die der Aufsprungbahn abgestimmt. Es entstanden die nach einem komplizierten Verfahren berechneten künstlichen Anlaufstürme. Bei solcher modernen „Fahrtenschanze“ ist das Prinzip dann ungefähr dieses: *dem Springer, der mit D-Zuggeschwindigkeit den Turm heruntergerast kommt, wird am Schanzentisch die Bahn unter den Skiern weggezogen, seine Fahrt setzt sich aber, unterstützt durch den Absprung, nach den Gesetzen der Wurfparabel in der Luft fort. Entsprechend der errechneten mutmaßlichen Flugbahn verläuft unter ihm die Aufsprungstrecke. Er schwebt an keinem Punkte hoch in der Luft (sehr deutlich am Profil der Ibergschanze). In ganz spitzem Winkel treffen normale Flugbahn und Aufsprungbahn zusammen. Je weicher die Flugbahn in die Aufsprungbahn überfließt, desto leichter springt sich die Schanze. Nun ist es klar, daß die ideale Harmonie von Flugneigung und Aufsprungneigung stets nur auf einer verhältnismäßig kurzen Strecke zu erzielen ist. Die Aufsprungbahn muß allmählich verflachen; sollte sie jedoch Sprüngen jeder Weite gerecht werden, so müßte sie im Gegenteil an Neigung zunehmen, denn die überdurchschnittlich weiten Sprünge sind auf besonders guten Absprung zurückzuführen, sie tragen höher und treffen deshalb auch steiler auf. Sie können sich vorstellen, daß bei einer gewissen Sprungweite der Punkt erreicht wird, von dem man sagen muß, ab hier wird der Auftreffwinkel schon ziemlich stumpf und der Sprung deshalb schwierig durchzustehen.
Meine lieben Leser, wir sind beim „kritischen Punkt“ angelangt.
Sie werden nun sicher, um für die fachmännische Beurteilung eines Skispringers gerüstet zu sein, etwas über die Wertung der Sprünge wissen wollen. Sie errechnet sich aus den Weitennoten der beiden Wertungssprünge (die volle Punktzahl wird bestimmt durch den weitesten Sprung in derselben Klasse, alle anderen Sprünge werden in ein Verhältnis zu diesem Bestsprung gebracht) und aus deren Haltungsnoten. Die Haltungsnoten bewegen sich für gestandene Sprünge zwischen 20 und 8, für gestürzte Sprünge zwischen 12 und 0 Punkten. Schwierig und oft umstritten ist die Frage, wenn .ein Sprung als gestürzt zu gelten hat. Gestanden ist der Sprung, wenn der Springer nach dem Aufsprung ohne mit der .Hand zur Gleichgewichtshaltung den Schnee zu berühren, den Ueber- gang in den Auslauf sicher durchführt. Berührt er im Aufsprung Schnee oder Ski ohne Stützhilfe, so wird er mit einfachem Haltungsnotenabzug bestraft. Stützt er sich, so gilt der Sprung als gestürzt.
Der Kombinationssieger ermittelt sich aus Haltungsnoten, Weitennoten und Langlaufnote (beim Langlauf, wie bei der Weitenbewertung des Sprunglaufs, Berechnung der Note nach Maßgabe der Bestzeit).
Ueber das Springen habe ich deshalb so viel erzählt, weil immer die meisten Leute an den Schanzen stehen. Das soll aber nicht heißen, daß nicht auch der Langlauf einer Betrachtung wert wäre. Im Gegenteil, man kann sehr wohl der Ansicht sein, daß die Kämpfe in der schmalen Spur viel packender seien als das Springen. Auf den Schanzen geht alles doch etwa« schnell. Ich persönlich zum Beispiel kann nie recht folgen und dann ist die Berechnung der Noten so schwierig; ich habe immer Sorgen, ob die Kamnfrichter auch alles richtig machen. Und vor allem: man kann die Gesichter der Springer nicht sehen, wenn sie
vorüberhuschen. Und auf die Gesichter kommt es doch an, nicht wahr?
Gehen Sie bitte, wenn Sie sich einen Langlauf ansehen, nicht gerade ans Ziel, sondern stellen Sie sich auf eine Höhe im letzten Drittel des Rennens; und zwar möglichst so, daß Sie Anstieg und Abfahrt übersehen können. Hier, glaube ich, werden Sie den unmittelbarsten Eindruck erhalten von dem, was eine „Nordische Kombination" wirklich bedeutet. Sie erleben nicht die Skikanone, sondern den Menschen. Sie begreifen ohne jede Erklärung, wie viel an Entsagung, Training, Veranlagung und kämpferischen Einsatz notwendig sind, um zu Meisterehren zu gelangen. Die Gesichter der Vorbeihastenden liegen nackt vor Ihnen, Sie lesen darin wie in einem aufgeschlagenen Buche. Und — ganz abgesehen von der faszinierenden Intimität des Erlebnisses an der Strecke und von dem aufpeitschenden Taumel des Finish — Sie sehen, daß der Skilauf, der seinen Anfang und seinen Namen vom „Laufen“ nahm, auch im Laufen seine höchste und letzte Vollendung findet. Es liegt ein himmelweiter Unterschied zwischen dem harmonischen Zusammenarbeiten des ganzen Körpers beim Könner und dem plumpen Stapfen des Anfängers. Langlaufen hat nicht zuletzt auch eine ästhetische Seite.
Sie werden kaum noch zu springen anfangen, aber Sie wollen Skilaufen und deshalb ' ollten Sie wissen, wie herrlich man auf Skiern laufen kann.
Also bitte ... _ rr.
Der Schriftsteller Arnold Zweig, der sich seit einigen Monaten in Berlin aufhält, wird Ende Februar nach Palästina zurückkehren, wohin er 1933 emigriert war.
In Mainz bereitet ein internationales Komitee einen pädagogischen Kongreß vor. Unter dem Titel „Lebensnahe Menschenbildung" sollen naturwissenschaftliche und technische Beiträge zur Schaffung eines modernen Erziehungswesens erörtert werden. Der Kongreß findet vom 24. bis 30. April in der Johannes-Gutenberg-Uni- versität, Mainz, statt.