Sette 2 - Nr. ISS
Ragolder Tagblatt „Der Gesellschafter"
Trettag, 2«. August 1V2S
gart—Ulm zur Benutzung mit Sonntag srückfahrkarten versuchsweise freigegeben. (Der Zug v 56 ist somit auf der Strecke München—Stuttgart freigegeben).
Aufnahme von Zöglingen in die Ackerbauschulen. Am 4. Januar 1927 wird eine Anzahl von Zöglingen in die 8! rbauschulen zu Kirchberg OA. Sulz, Elkvangen a. I. und Ochsenhausen OA Biberach ausgenommen, Der nächste Lenraang an der Ackerbauschule Hohenheim beginnt am 15. Femuar 1927.
Jubiläum des Stuttgarter Wirtsvereins. Der Stuttgarter Wirtsverein begeht in diesem Jahr die Feier seines 75jährigen Bestehens. Aus diesem Anlaß wird am kommenden Samstag vormittag die Ausstellung „Speis und Trank" eröffnet und am Montag in der Liederhalle ein Festbankett veranstaltet.
Ireigesprochen. Am 20. April d. I. war der 23jährige Maler Löffler hier von einer Verschiebelokomotive in den Eisenbahnwerkstätten überfahren und getötet worden. Der Führer und der Heizer der Maschine wurden wegen fahrlässiger Tötung unter Anklage gestellt. Das Große Schöffengericht Stuttgart kam aber zu einer Freisprechung.
Dom Tage. In einem Haus der Iohannesstraße explodierte ein Spirituskocher, wodurch ein Mann an Händen und Füßen verbrannt wurde; auch ein Fräulein erlitt leichtere Brandverletzungen. Außer dem Bett, das Feuer gefangen hatte, wurde nicht viel beschädigt.
In der Tübinger Straße wurde abends ein 51 Jahre alter Schreiner aus Altbulach in stark angetrunkenem Zustand aufgefunden und von Schutzleuten auf die Polizeiwache gebracht. Dort starb der Mann nach kurzer Zeit an einer Herzlähmung.
An einem Bierfuhrwerk brach in der Hauptstätterstraße «ine Achse, wodurch viele Bierflaschen in Trümmer gingen
Aus dem Lande
Vaihingen a. 19. Aug. Betriebsunfall. Der Arbeiter Friedrich Manch von Roßwag geriet im Steinwerk Baresel mit einem Bein zwischen zwei Eisenteile. Das Bein mußte ihm im Krankenhaus abgenommen werden.
Heilbronn. 19. Aug. W o h n u n g s m a n g e l. Die statistische Zusammenstellung des Wohnungsamts Heilbronn auf 1. August 1926 ergibt einen reinen Abmangel von 776 Familienwohnungen. Der Hauptteil des Abmangels entfällt auf 2- und 3-Zimmerwohnungen. Der Wohnungsneubau müßte jährlich etwa 380 neue Wohneinheiten schaffen, um den bestehenden Wohnungsmangel in 4 Jahren zu beseitigen.
Brettach OA. Oehringen, 19. Aug. Glück im Stall. Die Kuh des Wilhelm Blind hier hat 4 Kälber zur Welt gebracht, 3 Stiere und 1 Kalb. Zwei sind allerdings während der Geburt verendet. Wenn fachmännische Hilfe dabei gewesen wäre, hätte man sie jedenfalls auch lebend erhalten können.
Heuler OA. Ellwangen, 19. Aug. Brand. Durch zündelnde Kinder entstand in dem Holzschuppen des Landwirts Josef Hegele Feuer, das noch aus den Wagenschuppen des Bauern Anton Erhard Übergriff. Beide Schuppen brannten nieder.
Böchingen OA. Oberndorf, 19. Aug. Pferdetreue. Am Montag verkaufte Landwirt Haizmann von hier auf dem Rottweiler Markt ein Pferd nach Pfullendorf. Am Dienstag früh 4 Uhr meldete sich das kluge Tier in Böchingen bei seinem alten Herrn mit lustigem Wiehern wieder. Es hatte in der Nacht den Weg von Kottweil hierher zurückgelegt.
Winzeln OA. Oberndorf, 19. Aug. Notlandung. Infolge des über die Schwarzwaldvorebene hinbraufenden Sturms mußte am Dienstag nachmittag ein Postflugzeug auf hiesiger Markung notlanden. Andern Tags konnte es seinen Flug fortsetzen.
Dietingen OA. Rottweil, 19. Aug. Unfall. Der 15 I. a. Josef Rüble vergnügte sich in den Ortsstraßen mit Radfahren. Dabei verlor er infolge zuschnellen Fahre,«-,- die Herrschaft über sein Rad, stürzte ab und erlitt einen lebensgefährlichen Schädelbruch.
Blitz, Hagel
Drückende Hitze lagerte am Dienstag über dem Lande. Kaum ein Tag in diesem Jahr war so unerträglich heiß. Das mußte zu Gewittern führen, die sich dann auch im Lauf des Nachmittags in verschiedenen Teilen des Landes bildeten und durch Blitzschläge, Hagel und Sturm viel Schaden anrichteten, namentlich im Neckartale.
In Stuttgart schlug der Blitz in einen Kabelkasten beim Westbahnhof ein. Personen wurden nicht verletzt.
In Ludwigsburg wütete ein orkanartiger Sturm, der im Schloßpark und in den Obstgärten erheblichen Schaden anrichtete.
In Neckarweihingen schlug der Blitz in die dem Bäckermeister Döbele gehörig« Scheune an der Hauptstraße. Sie brannte samt den eingebrachten Erntevorräten nieder. Die benachbarte Wirtschaft zum „Ochsen" konnte nur mit Mühe von der Feuerwehr gerettet werden.
In Pleidelsheim fuhren kalke Schläge ins Pfarr- . Haus und in ein Privathaus, doch war der Schaden nicht > groß.
Bei Bietigheim erlitt ein 19 I. a. landwirtschaftlicher Arbeiter einen Hihschlag.
In Untereisesheim schlug der Blitz in das Anwesen des Landwirts Ernst Schuh und zündete. Nachmittags war noch der letzte Wagen Getreide vom Felde heimgefül"-t worden und um fünf Uhr stand die Scheuer in Flammen. Das Wohnhaus konnte gerettet werden.
In Neckarsulm wurde auf dem Gelände der Firma Baresel ein Leitungsmast umgeworfen. In der Industriestraße drang das Wasser in die Keller der Häuser und überschwemmte die Hlmsgärten. Auch in der unteren Hauptstraße stand das Wasser im Keller eines Hauses 1,70 Meter hoch. Auf der Bleichwiese mußten die bedauernswerten Hausfrauen ihre Wäschestücke aus dem Wasser fischen. Die Feldwege wurden stark mitgenommen. Auch an Weinbergen und Obstbäumen wurde Schaden angerichtet.
In Iagstfeld schlug der Blitz in die große Feldscheuer des Bauunternehmers Grämlich, die mit großen Vorräten, die drei Landwirken gekörten, gefüllt war. Die Scheuer brannte nieder. Einem der Landwirte ist die ganze Ernte verbrannt. Auch Wagen und landwirtschaftliche Maschinen wurden ein Raub der Flammen. Zum Glück hatte in der Scheuer niemand Schutz vor dem Unwetter gesucht.
In Kochendorf wurden Obstbäume umqerissen. Vom unteren Neckartal, aus Wimpfen, Offenau, Weinsheim und Gundelsheim, wird Hagelschlag berichtet.
In Ebersbach a. F. wurden durch den Wirbelwind ein Heuwagen umgeworfen und mehrere Bäume entwurzelt-. Im nahen Hochdorf schlug der Blitz in das Gasthaus zum „Ochsen", jedoch ohne zu zünden und ohne größeren Schaden anzurichten.
In Scharnhausen bei Eßlingen wurde an Obstbäumen und Straßen großer Schaden angerichtet. Mehrere schwerbeladene Garbenwagen wurden vom Sturm erfaßt und umgeworfen.
Tübingen, 19. Aug. Jubiläumsdenkmünze. Auf die Feier des 450jährigen Bestehens der Universität soll im nächsten Jahr eine Jubiläumsdenkmünze geprägt werden.
Reutlingen, 19. Aug. Infolge Krankheit in den Tod. Eine hiesige Familie erhielt gestern von einer Tochter einen Brief aus Cannstatt, wonach sich die Absenderin nicht mehr am Leben befindet. Sie bittet die Angehörigen um Verzeihung mit Hinweisen darauf, welche schwere innere Kämpfe sie der Schritt gekostet, daß sie aber nicht mehr anders gekonnt habe. Am Montag mittag hatte sie an-, gegeben, wegen ihres offenbar unheilbaren Lungenleidens nach Tübingen gehen zu müssen. Die Mutter begleitete sie dann auf den Bahnhof. Dort wurde der Frau eine Ueber-- raschung, als die Tochter in den Stuttgarter Zug einstieg statt in den Tübinger. Ein Winken und fort war sie. Auf-' fallend ist, daß die Lebensmüde, die etwa 28 Jahre alte ist, Sre ältesten Kleider und Schub« anzoa. — In Cannstatt
und Sturm
7)ovpelscheuer von M,",tzl"''-Miesarck und -'"mdete. Die Scheuer, mit Heu- und Erntevorräten anneffM. brannte vollständig nieder. K"rz vorher nimen na-^ zwei Zeigen eingeführt worden. Der vor dem Haus stehende Wagen verbrannte gleichfalls. Das Vieh konnte gerettet werden. Der Schaden ist groß.
In Großaspach OA. Backnang schlug der Blitz in das Wohnhaus des Schneidermeisters Kübler. Die Feuerwehr griff tatkräftig ein, so daß nur der Dachstock teilweise uusaebrannt ist.
In Weilderstadt hatte der Gewittersturm einen schweren Unfall zur Folge. Ein niederstürzender Ast traf einen auf dem Rad vorbeifahrenden Arbeiter so unglücklich, daß er mit schweren Verletzungen ins Spital verbracht werden mußte. Sein Fahrrad und das eines anderen Arbeiters wurden beschädigt.
In Altdorf OA. Böblingen schlug der Blitz in die Scheuer des Bauern Wilhelm Gohl und zündete. In den Heu- und Erntevorräten fand das Feuer reiche Nahrung. Scheuer und Wohnhaus sind niedergebrannk. Bom Mobiliar konnte nur wenig gerettet werden.
In Albershausen OA. Gnvvinaen wütete ein Orkan, der das in Haufen aufgeschichtete Oebmd verwebte, einen beladenen Oehmdwagen umwarf und einige Bäume entwurzelte.
InMöfsingen herrschte ein starker Sturm, der einen mit Garben beladenen Wagen umwarf.
In R o t t e n b u r g hat der Sturm in Obst- und Hopfengärten bedeutenden Schaden angerlchtet.
In Tuttlingen herrschte ein starker Sturm. Als ein Brautpaar aus Eßlingen (Baden) bei der Donaubrücke der Stadt im Zweisvannerfuhrweck zukuhr, ritz der Wind von einer Pappel einen starken Ast. Das Brautpaar kam mit dem Schrecken davon. Der Braut schlug es nur den Schirm kaput; der Mann erhielt einen Schlag auf die Achsel.
Bei Schramberg schlug der Blitz in den Schuppen des Lauterbacher Zimmermanns Josef Moosmann in Mooswald. Der mit Futtervorräten und Inventar gefüllte Schuppen brannte rasch nieder.
Bei Trossin gen wurden durch einen Wirbelsturm in den Wäldern Bäume geknickt.
Bei Lustnau OA. Tübingen wurden verschiedentlich Bäume entwurzelt und das Obst massenhaft heruntergerissen.
In Laichingen gab es schweren Hagelschlag. An manchen Gebäuden wurden Fensterscheiben zertrümmert. iSommergetreibe und Hackfrüchte, sowie Gartengewächse und Obstbäume haben sehr gelitten.
In Pforzheim gab es zwei kalte Blitzschläge. Bei Milchhändler Erhard wurde der Sckwrnstein mitaerissen. Bei Bäcker Kleinheins wurden durch Blitzstrahl die Sicherungen der elektrischen Leitung herausgerissen
3m Ober- und Unterst sab <—nsten schwere Gewitter, die vielfach in der Gegend von Kehl. In S l ^ *"-r Blitz in den
Münster-urm ein '
sähen Badende unterhalb der Eisenbahnbrücke auf dem Seilerwasen einen Leichnam an einem Weidenbusch hängen, der schon einige Tage im Wasser gelegen sein mag. Es handelt sich dabei -um eine weibliche Tote von etwa 36 Jahren. Die Leiche wurde gelandet. Ob sie mit dem Mädchen aus Reutlingen identisch ist, steht noch nicht fest.
Ulm, 19. Aug. Hinrichtung. Der Taglöhner Eduar» Schroff von Traunstein ist vom Schwurgericht Ulm wegen grausamer Ermordung seiner Schwiegermutter zum Tod verurteilt worden. Der Staatspräsident hat von seinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen vermocht. Das Urteil wird, wie wir hören, am Freitag, den 20. August, früh hier vollstreckt werden.
Gmünd, 19. Aug. Selbstmordversuch. Gestern abend verübte in der Klarenbergstraße ein 23jähriger Arbei. ter einen Selbstmordversuch durch Einatmen von Leuchtgas Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsversuche waren von Erfolg.
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(5. Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.)
Diese sagte nun:
„Das ist offenbar ein Herr aus sehr feinem Hause, von Schlicken! Man merkt ihm die Weltgewandtheit an. So schnell und — ich kann gar nicht anders sagen — so liebenswürdig und doch ernst hat noch keiner unserer Herren das Geschäftliche geregelt. Und — zehn Mark hat er ohne weiteres für die Bedienung zugelegt. Er wäre das so gewöhnt. Es war mir schrecklich peinlich und — man hatte gar nicht den Mut, das abzulehnen."
Renate lächelte vor sich hin. Ja. die Mutter hatte recht: Die liebenswürdige Sicherheit von Schliebens war auch ihr ausgefallen. Aber doch war in ihm auch — neben der selbstbewußten Männlichkeit — noch jugendliche Schwärmerei und Sehnsucht, und das gerade rührte an ihr Mädchentum und machte ihn in ihren Augen so sympathisch.
O — nur das?
Sie hatte plötzlich keine Ruhe mehr.
„Mama — ich ziehe mich um — ich will wieder Pastor Wulle hören —"
„Ja, tu' das, Kind — um elf fängt die Kirche an. Und bring' mir guten Appetit mit."
Renate blieb vor dem hohen Spiegel ihres Mädchenzimmers stehen. Sie hatte ihr Hauskleid an, aber sie sah auch darin wie ein Frühlingsgeschöpf aus, denn die schlichte Einfachheit des Kleides verbarg die schlanke Schönheit ihrer Gestalt ebensowenig wie das Helle Voilekleid, das sie nun überzog. und das mit seinem ovalen, rankenbestickten Ausschnitt und der Seidenschärpe um die schmalen Hüften wie eine weiße, hier und da buntbetupfte Wolke um sie hing.
Lange stand sie vor dem Spiegel und betrachtete ihr Bild, und in ihrem Herzen wurde zum erstenmal die verstohlene Frage lebendig: Bin ich schön? Bin ich denn so schön, daß jemand meine Hand küssen muß. weil es ihn dazu zwingt?
Da kam wieder die hilflose Verwirrung über sie — eine feine Röte stieg ihr über Nacken und Hals in die Wangen, und sie wandte sich ab, um nicht ihr eigenes Erröten sehen zu müssen.
Eine Stunde später begab sie sich ln die Kirche, die mitlen in der Stadt auf einem kleinen Hügel lag und mit seinen
hohen Spitzbogenfenstern auf die romantische Giebelherrlichkeit herabsah. Das goldne Kreuz auf dem Spitzturm blickte weithin in der Sonne. —
Renate nahm ihren gewohnten Platz auf der Galerie ein. wo immer ein wundersames Dämmerlicht war, wohin die Worte des alten Pastors so gedämpft hinklangen, wo die Orgelmusik am prächtigsten zu hören war und von wo aus man durch den oberen, durchsichtigen Teil der Fenster in die grüne Weite jenseits der Stadt blicken konnte.
Da saß es sich am besten. Da war gut Träumen.
Mächtig dröhnten nun die breiten Akkorde der Orgel durch das Kirchenschiff. Die Gemeinde stimmte das Eingangslied an. Renates Helle Stimme fiel in die Melodie ein.
Nun trat Pastor Wulle aus der Sakristei. Ein voller, weißer Bart umrahmte sein Gesicht, buschige, weiße Brauen überschatteten die noch Hellen Augen. Wie der liebe Heiland selbst sah er aus, als er so, breitschultrig, kräftigen Wuchses, im schwarzen Talar dastand und den Kopf hob.
Renate liebte dieses Bild. Aber diesmal hörte sie nichts von den ernsten Worten, die Pastor Wulle sprach, und auch nachher vermochte sie nur zusammenhanglose Bruchstücke seiner Predigt aufzufassen.
Denn gerade, als sie sich leicht auf die Brüstung stützte, um bequemer nach unten sehen und des Pastors Rede lauschen zu können, war es ihr, als müßte sie sich zur Seite wenden und über die gegenüberliegende Galerie blicken.
Es war wie ein Zwang.
Da sah sie — von Schlieben.
Er saß dort in der ersten Reihe und blickte unverwandt zu ihr hinüber.
Nun senkte er leicht grüßend den Kopf. Auch sie nickte ein wenig und sah dann gleich wieder in ihr Gesangbuch.
Wie — wie kam er hierher?
Sie wagte kaum aufzuschauen.
Aber sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen. Es war ihr unmöglich, den Worten Pastor Mulles mit Aufmerksamkeit zu folgen. Immer wieder mußte sie denken: Wie kommt er darauf, heute gerade hier in die Kirche zu gehen? Und sie glaubte, die Antwort zu wissen: Um meinetwillen! Ich selbst habe ihm ja gesagt, wo ich vormittags bin. Darum ist er hergekommen — ist mir vielleicht sogar gefolgt. —
Sie halte nicht unrecht.
von Schlieben war in der Tat nur ihretwegen gekommen- Er wollte sich selbst auslachen ob seiner Schwärmerei — aber es nützte nichts, er mußte sich gestehen: Dieses Mädchen hatte ihn innerlich ganz aufgerührt und ergriffen, seit er sie ! am Tage vorher zum erstenmal am Fenster gesehen hatte.
Da hatte er sich vorgenommen, sie wiederzusehen. Und nun, da er den kühnen Schritt gewagt hatte, bei ihrer Mutter Wohnung zu nehmen, da er sie im Hellen Sonnenlicht des Vormittags wiedergesehen hatte, war sein Blut, sein ganzes Fühlen aufs neue von ihr entzündet.
Es war etwas ganz sonderbares.
Hatte er nicht genug Frauen und Mädchen in seinem abenteuerreichen Leben gehabt? Hatte er nicht genug Liebe gekostet? Er, Hans von Schlieben, einziger Sohn des berühmten Chirurgen, der Könige und Fürsten zu Patienten hatte und dessen Ahnherren zznn größten Teil als allzeit getreue Paladine den Fürsten zur Seite standen!
Ja — er hatte genug Abenteuer gehabt. Er hatte sie auf ^ dem glänzenden Parkett erstklassiger Salons und in dem einfacheren Milieu guter Bürgerlichkeit gesunden — und immer hatte er sie bis zur Neige gekostet und war dalin — weitergetaumelt. Bis er mählich merkte, daß es Zeit war, an ernstere Dinge zu denken und der gestrenge Herr von Schlieben in nicht mißzuverstehender Weise andeutete, daß der Herr Söhn eigentlich „examensreif" wäre. Bon Frau von Schlieben geb. von Puttlitz — ganz zu schweigen.
Die zukünftige Karriere war natürlich gesichert.
Also!
Hans von Schlieben beschloß, endlich Schluß zu machen und mit einem anständigen Examen diese Karriere zu beginnen.
Und nun?
Nun mußte er dieses Gesicht hier entdecken! Dieses Gesicht. das ihn mit einem Schlage so ergriffen hatte, daß er selbst auf der Begrüßungskneipe der Vandalen noch daran denken mußte und sich nur durch eine erhebliche Berkonsu- mierung von Alkohol zur Lustigkeit zwang.
Und es nützte doch nichts!
Er wurde dieses Gesicht nicht los. Es war seltsam. Und er wußte dennoch, was es war, das ihn zu diesem Mädchen hinzog. Die reine, keusche Jugend, der Liebreiz und die Anmut ihres unberührten, fröhlichen Mädchentums, das in so schöner Hülle sich darbot, war es, was ihn, den immer dreist Genießenden, mit plötzlicher Gewalt reizte und ihn zum Schwärmer machte. Üebersättigung an Frauen, die mit Raffiniertheit zu lieben verstanden? Möglich — aber dennoch — es konnte auch anders sein! Vielleicht war ihm jetzt erst zum Bewußtsein gekommen, um wieviel köstlicher die Liebe eines Mädchens sein mußte, das nur aus ihrem persönlichen, reinsten Wesen heraus blühte.
(Fortsetzung folgt.) , , '