Sette 2 - Nr. 181
Nagolder Tagblatt „Der Gesellschafter-
Dir Untersuchung über dos Eistnbohnunqiück im Münchener Ostbahnhos
München, 5. Aug. Die gerichtliche Untersuchung über das Eisenbahnunglück am Münchener Ostbahnhof am Pfin-gst- Pnontag ist noch immer nicht abgeschlossen, weil nahezu 200 Zeugen vernommen werden müssen. Im Krankenhaus befinden sich zurzeit noch etwa 20 Personen. Der angeschuldigte Lokomotivführer wurde auf seine eigene Bitte zur Prüfung seines Geisteszustands der Münchener Klinik überwiesen.
Auch Bayern gegen den Posemkinfilm
München. 5. August. Bayern hat aus den gleichen Gründen wie Württemberg den Antrag gestellt, die Erlaubnis zur Ausführung des Potemkinfilms auch in seiner neuen Fassung zu widerrufen und hat seine Polizeibehörden dementsprechend angewiesen.
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Der Liechenfireit in Mexico
Mexiko, 5. Aug. In einer Unterredung mit dem Vertreter der Associated Preß erklärte Bischof Diaz, die Kirche werde niemals einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung billigen. Die Behörden sind damit beschäftigt, das Verschwinden der Goldkrone des berühmten Standbilds der Madonna von Guadalupe zu untersuchen. Die Krone soll 800 000 Pesas wert sein. In den Nachrichten über die Vermittlungsversuche im Kirchenstreit war auch der Name eines bedeutenden mexikanischen Bankiers genannt worden, wodurch das Gerücht entstand, daß die Bankiers geschäftlich besonders an einer raschen Beendigung des Kirchenftrsiks interessiert seien. Die Bankiers stellen dies in Abrede. Bisher seien bei den Privatbanken keine Depositen abgehoben worden.
Württemberg
Skukkgark. 5. Aug. Die wucherischen Skeuer- verzugszuschläge. Auf die kleine Anfrage des Abg. August Müller (B.B.) betr. Ermäßigung des Verzugszuschlags für verspätete Zahlung von Steuern, hat das Finanzministerium geantwortet: Das Finanzministerium hat bereits am 19. 3uli ds. 3s. beim Reichsfinanzministerium die Herabsetzung des Verzugszuschlags für Rückstände von Reichssteuern beantragt. Hierauf hat das Reichsfinanzministerium am 12. 3uli ds. 3s. geantwortet, der .Zeitpunkt' zu einer weiteren Herabsetzung der Verzugszuschläge sek .noch nicht gekommen". Das Reichsfinanzminiskerium möchte abwarken, wie sich die Skeuereingänge in den nächsten Monaten gestalten werden. Angesichts dieser Stellung des Reichsfinanzministeriums vermag das württ. Finanzministerium zurzeit auch für Rückstände von Staats- und Gemeindesteuern die Verzugszuschläge nicht herabsehen: denn sonst würden die Steuerpflichtigen die Zahlung ihrer Staats- und Gemeindesteuern in noch weiterem Ilmfang, als dies vermutlick schon bisher der Fall ist, zugunsten der Zahlung ihrer Aeichssteuerschuldigkeiken zurückskellen. Die Frage wird aber im Auge behalten, und zu gegebener Zeit beim Reichsfinanzministerium erneut angeregt werden. Dabei ist zu beachten, da!', der Verzugszuschlag von drei Vierteln des Rückstands (!) nur bei verspäteter Entrichtung nicht gestundeter Steuern anzusehen ist: bei gestundeten Steuern beträgt der Höchstzinssatz vom 1. 3uli ds. 3s. ob nur noch 6 v. H.
Statistisches aus der Landeshauptstadt. Vom Oktober 1925 bis April 1926 sind aus Stuttgart 803 Personen ausgewandert, davon 466 nach überseeischen Ländern, 337 nach anderen europäischen Ländern. Das Ziel der Auswanderung war bei den meisten Ueberseewanderern Amerika. — Stuttgart besitzt 184 Turn- und Sportvereine mit zusammen 66 640 Mitgliedern. — Im Jahr 1925 waren die Stuttgarter Lichtspielhäuser von 2,6 Millionen Personen besucht gegen 2,5 im Jahr 1924. Im ersten Vierteljahr 1926 hat sich die Beschsziffer um 5,8 Prozent gegenüber dem letzten Vierteljahr des Jahrs 1925 erhöht- Der Besuch der Lichtspielhäuser kostete 1924 2,4 Millionen, 1925 2.9 Millionen und im ersten Vierteljahr 1926 0,9 Millionen Mark.
Nakionalpolitischer Lehrgang. Wie wir hören, werden bei dem Nationalpolitischen Lehrgang, der auf Anregung der Deukschnationalen Volkspartei Stuttgart von der Gesellschaft .Deutscher Staat" und dem .Politischen Kolleg" im Oktober ds. Is. hier abgehalten wird, u. a. sprechen: Professor Wund k-3ena über .Die Ehre als sittliche Grundlage des Staats- und Volkslebens", Professor v. Frey- käg-Loringhoven über .Verfassungsreform und Parlamentarismus".
» Stuttgart, 5. Aug. Unfall eines Stuttgarter ^ Touristen. Der Tourist Karl Graf aus Stuttgart erlitt beim Passieren eines Gletschergebietes auf der Scesaplana einen Unterschenkelbruch. Nach zweitägigem Aufenhalt in der Unterkunftshütte konnte er ins Tal und dann nach Stuttgart verbracht werden. — Die großeAutostraße. Vor kurzem wurde gemeldet, daß eine Autostraße Hamburg— Stuttgart—Mailand geplant sei. Die Linienführung scheint jetzt sehr umstritten zu sein. Frankfurt, das von der Straße berührt würde, wünscht eine Fortsetzung über Mannheim, Karlsruhe, Freiburg, Basel, in Bayern erstrebt man eine Linie von München über Nürnberg, Leipzig, Berlin nach Hamburg. Den größten landschaftlichen Reiz hätte zweifellos der Weg von Heidelberg durchs Neckartal über Stuttgart und die schwäbische Alb.
Stuttgart. 5. Aua. Aufhebung der Preisprüfung s st e l l e n. Die Verfügung des Arbeits- und Er- nährungsministeriums über Preisprüsungsstellen vom 29. November 1925 ist mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt worden.
Hinrichtung. Am Freitag früh 5.30 Uhr wurde der Dienst- knechi Albert Veil im Hof des Amtsgerichtsgefängnisses hingerichtet. Veil hatte am 21. September v. I. einen Reisegefährten heimtückisch und mit besonderer Roheit ermordet und war deshalb vom Schwurgericht Stuttgart zum Tod verurteilt. Der Staatspräsident hat in diesem Fall von seinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen können.
Aus dem Lande
Plattenhardt OA. Stuttgart, 5. Aug- Schultheißenwahl. Die hiesige Schultheißenstelle, deren bisheriger Inhaber bekanntlich durchgebrannt ist, wurde nunmehr für erledigt erklärt und soll neu besetzt werden. Den Aufenthalt des früheren Schultheißen kennt man immer noch nicht.
Ludwigsburg. 5. Aug. Ehrung Mackensens. Dem Generalseldmarschall von Mackensen zu Ehren, der anläßlich der Vermählung seiner Tochter Winifred mit dem Freiherr von Neurath, Sohn des deutschen Botschafters in Rom, in Ludwigsburg weilt, wird am Sonntag nachmittag eine große öffentliche Feier veranstaltet werden.
Alkbach OA. Ehlingen, 5. Aug. Tod.durch Stärkst r o m. Gestern vormittag kam der in den hiesigen Neckarwerken beschäftigte Hilfsarbeiter Finkbeiner mit der Starkstromleitung in Berührung. Er war sofort tot.
Murrhardk, 5. Aug. Heimat spiel. Das im vergangenen Jahr achtmal aufgeführt« Heimatspiel „Am Römer- wall", das Bilder aus den Kämpfen der Germanen und Römer aus den Jahren 150 bis 200 n. Ehr. in der Nähe des Römerkastells bei Murrhardt bringt, gelangte auch Heuer wieder mit größerem Erfolg zur Aufführung. Die nächste Wiederholung findet am 15. August statt.
Mergentheim, 5. Aug. Manöver. Die Herbstübungsn der Reichswehr, die Heuer im württembergisch-badisch-baye- rifchen Grenzgebiet abgehalten werden, gehen dieses Mal über den seit 1918 üblichen Rahmen eines Divisionsmanövers hinaus. Die Uebungen der 5. Division (Stuttgart) finden in der Gegend Adelsheim-Tauberbischofsheim-Mergentheim- Künzelsau statt. Die 7. Division wird ihre Uebungen voraussichtlich zwischen Würzburg und Mergentheim abhalten. Die Uebungen werden sich also zu einem guten Teil auf dem Gelände abspielen, auf dem im Jahr 1909 die Kaisermanöver zur Durchführung kamen. Damals waren an den Uebungen aber fünf Armeekorps beteiligt; heute werden es nur zwei Divisionen sein. Die Divisionsmanöver sind vom 13. bis 15. September. Am 16. September ist wahrscheinlich Ruhetag. Vom 17. bis 21. September sind dann die Gruppenmanöver der 5. und 7. Division.
Lleinengskingen OA. Reutlingen, 5. Aug. Gekühlter Uebermut. Als hier am Sonntag ein Schäfer mit seiner Herde durrchzog, mißhandelte ein auswärtiger angetrunkener Bursche die harmlosen Tiere. Als die Warnung des Schäfers nichts nützte, nahm er seinen Stab und versetzte dem Rohling einen Hieb ins Gesicht. Nachher bändelte der Bursche mit dem Polizeidiener an. Dieser machte aber auch einen kurzen Prozeß und führte ihn gefesselt aufs Rathaus. Nachdem seine Personalien festgestellt waren, wurde er wieder entlassen.
Rohr a. F., 5. Aug. Ein Opfer des Automobilwerk e h r s- Während Kinder in der Schulstraße spielten, -kam von der Kirche her ein Auto. Der 9jährige Sohn des Vteindruckers Gottlob Dieterle machte einen Sprung gegen Äste Straße. Der Kotflügel des Autos warf den Knaben zur Seite. Innere Verlekunoen machten die Ueberführung
Freitag» 6. August 1926
in das Olgaspital nach Stuttgart nötig. Die Verletzungen waren so schwer, daß der Knabe bereits gestorben ist.
Bernhausen a. F-, 5. Aug. Zus ammenstoß. Ein hies. Motorradfahrer stieß mit einem von Sielmingen kommenden Radfahrer zusammen. Beide stürzten. Während der letztere mit dem Schrecken davon kam, trug der Motorradler ernstliche Verletzungen davon.
Balingen, 5. Aug.- In Stücke gerissen. Nachts gegen 12 Uhr wurde der Sprengmeister Götz aus Weilheim im Steinbruch des Bossertschen Baugeschäfts von einer größeren Sprengladung buchstäblich in Stücke gerissen. Ob Selbstmord oder Unglücksfall vorliegt, steht noch nicht fest.
Rottwett, 5. Aug. Aufgefundene Leiche. Im Neckar wurde beim Wehr des Elektrizitätswerks ein weiblicher Leichnam geländet, der schon sehr stark in Zersetzung übergegangen war. Die Tote wurde als ein 22 Jahre altes Dienstmädchen von Bühlingen (gebürtig von Dunningen) erkannt, das seit 9. November vorigen Jahres vermißt wurde.
Roktweil, 5. Aug. Schwerer Radfahrerunfall. Abends stießen in der Bahnhofstraße zwei Radfahrer mit großer Heftigkeit zusammen. Der eine, der erst seit einigen Tagen verheiratete Maurer Stefan Ohnmacht von Dietingen, erlitt hiebei einen schweren Schädelbruch und wurde in bewußtlosem Zustand in das städtische Krankenhaus verbracht. Der andere Fahrer blieb unverletzt. -
Schwenningen, 5. Aug. Schwindelhafter Bezug von Erwerbslafenunterstützung. In letzter Zeit haben sich die Fälle gemehrt, in denen Personen, die regelmäßig beschäftigt sind, gleichzeitig Erwerbslosenunterstützung bezogen. Es ist vorgekommen, daß Arbeiter sogar in Fabrikbetrieben beschäftigt waren, und es trotzdem verstanden, sich in der vorgeschriebenen Zeit zur Kontrolle zu melden.
Schwenningen, 5. Aug. Tödlicher Unfall. Der 6jährige Sohn eines Geschäftsmanns stürzte in ein Kellerloch und zog sich äußere und innere Verletzungen zu. Andern Tags starb der Knabe.
Tuttlingen» 4. Aug. Die Donau Versickerung in Möhringen. Seit 30. Juli 1926 ist, wie alljährlich um diese Zeit, das Donaubett in Möhringen unterhalb der Ber- sickerungsstellen wieder gänzlich ausgetrocknet. Ausnahmsweise führte die Donau dieses Jahr länger Wasser. Wie immer, so mußten auch diesmal wieder zahlreiche Fische zugrunde gehen. Es war wieder ein sehr tiefes Loch inmitten des Donaubetts eingefallen.
Alm, 5. Aug. Große Beleuchtung. Gelegentlich eines Turnsportfestes ist am 5. September eins große Beleuchtung der Stadt und des Münsters geplant. Dabei soll durch ein Feuerwerk eine Beschießung der Festung Ulm von Neu-Ulm aus zur Vorstellung kommen.
Gersietten OA. Heidenheim, 5. Aug. Keine Samstagstrauungen mehr. Der Kirchengemeinderat hat einstimmig beschlossen, ganz besonders auch im Hinblick auf die schweren Unglücksfälle, künftig Samstagstrauungen nicht mehr zuzulassen.
Hohenmemmingen OA. Heidenheim, 5. Aug. Tödlich verunglückt. Die Pferde des Maierbauern Gg. Maier scheuten auf dem Heimweg vom Kleeacker vor dem Lieferwagen der Mittslschwäbischen Ueberlandzentrale AG. und rasten mit dem Wagen davon. Maier sprang vom Wagen und versuchte, die Pferde zum Stehen zu bringen, was ihm jedoch nicht gelang. An einer Straßenbiegung schlug der Wagen um, die 17 I. alte Dienstmagd Elise Pflanz, die sich ebenfalls auf dem Wagen befand, unter sich begrabend. Das Mädchen erlitt einen Schädelbruch und starb nach wenigen Minuten.
Von der Rottum, 5. Aug. Betrüger. Der 23 Jahre alte ledige Mechaniker St. aus Ravensburg machte in dem Dorf B. am Sonntag Besuch bei den Eltern eines Mädchens, das in Ravensburg im Dienst steht, gab sich als Sohn der betr. Dienstherrschaft aus und bat um 20 Mark, das er zur Heimfahrt benötige. In einem Nachbarhaus bekam er noch 25 Mark und ein Fahrrad, damit er bequem nach Laupheim kommen könne. Das Fahrrad brachte er zwar zurück, verschwand aber mit den 45 Mark- Der Schwindler hatte auch in andern Orten ähnliche Betrügereien verübt, ohne bis jetzt gefaßt werden zu können.
Ehingen, 5. Aug. Aus dem Auto gefallen. Ein hiesiger Bäckermeister wurde von einem Mehlhändler zu einer Geschäftsreise mit dem Auto eingeladen. Während der Fahrt fiel er aus dem Wagen, und der Meblhändlsr, der selbst am Steuer saß, nahm erst nach einiger Zeit den Vertust wahr. Er fuhr zurück und brachte den schwer, aber nicht lebensgefährlich Verletzten nach Hause.
Es ist immer dasselbe.
Humoreske von Richard Hagen.
Der alte Kommerzienrat Sieger war heute übler Laune. Sein Aeltester, der Diplom-Ingenieur, sonst ein vernünftiger Mensch, bekam plötzlich einen Heiratsanfall. Unerhört! Heiraten — und kaum dreißig Jahre alt. Erst hängen einem die Burschen 26 Jahre lang die Beine unter den Tisch, dann verdienen sie wenigstens ihr Taschengeld, und wenn sie endlich ein auskömmliches Einkommen haben, heiraten sie! — Der Zweitälteste saß noch auf der Hochschule und war heute Nacht wieder einmal um zwei Uhr heimgekommen — mit einem Kanonenrausch. Das ist die Jugend von heute. So etwas gab es früher nicht. Nein! Das gab es nicht! Der Nächste ging noch ins Gymnasium — in die Unterprima — um später Iura zu studieren. Doch statt zu lernen und sich eine solide Grundlage fürs Leben zu schassen, schmiedete der Junge Verse! Liebesverse! Aber er würde ihm die Possen ans dem Kopfe treiben. So konnte das nicht weiter gehen. Am Ende würde der Bursche noch sitzen bleiben. — Dann kam der Felix, dieser Erzstrolch; vergangene Woche hatte er dem Nachbar Peters eine Scheibe eingeworfen. — Und dann der Benjamin, der Jüngste. Dieses Friichtlein sing auch schon an, in die Fußstapfen der andern zu treten. Kam mit zerrissenen Hosen und aufgeriebenen Knieen heim und schlug sich draußen mit den Gassenjungen herum. — Wahrhaftig, es ist kein Vergnügen, Vater von fünf Söhnen zu sein. Das will durchgekostet werden. Aber nun war es vorbei mit seiner Langmut. Vorbei!
Der Kommerzienrat war eben damit beschäftigt, sich zu entkleiden, um auszuruhen von des Tages Müh' und Aerger. Er nahm seine Strümpfe und warf sie an die Wand. — Vorbei war's. Aus!
Die Frau Kommerzienrat, die schon vor einer Stunde zu Bett gegangen war, streckte erschrocken den Kopf aus den Kissen: „Aber Ewald!"
In großem Bogen flogen Rock und Weste an die Wand. Es folgten die Hosen. — „Aus ist's jetzt, sag' ich. Morgen weht der Wind aus einer andern Richtung. Aus ist's mit meiner Geduld!" — Und wütend sprang er ins Bett, daß es krachte und seine Frau sich erschrocken unter der Decke verkroch.
Bald darauf deuteten sägeartige Töne im Zimmer an, daß des Kommerzienrats Wut sich fürs erste gelegt hatte.
Am andern Moraen nach dem Kaktee tekte lick Kommerüen-
zurücklehnte und behaglich seine Zigarre rauchte. — Das ging zwar komisch zu. denn er holte einen Stummel aus dem Aschenbecher, begann an der Zigarre zu saugen, und siehe: Die Zigarre wuchs, wurde immer größer, und als sie schließlich fertig war, steckte der Kommerzienrat zu allem Ueberfluß ein Streichholz an und hielt sie unter das dicke Ende. Und die Zigarre ging aus. Merkwürdig. Und trotzdem war alles in Ordnung, denn der Film lief ja — rückwärts. — So war's nicht verwunderlich, daß der Kommerzienrat immer jünger, daß seine Glatze immer kleiner wurde und schließlich der ganze Kopf mit schwarzen Haaren bedeckt war. Auch hagerer war er geworden, der Herr Kommerzienrat — das heißt, mit dem Kommerzienrat war's vorbei, er war jetzt wieder titelloser Kaufmann und stand schreibend hinter seinem Pult. Dafür war er aber auch um zwanzig Jahre jünger geworden und schaukelte seine Söhne auf den Knieen. Allein: Glück währt nicht lang — so sprachen die Alten. Seine Söhne gediehen nicht, wurden immer kleiner und kleiner, und zuletzt war keiner mehr da. Doch dafür wurde er reichlich entschädigt. Es blühte ihm das Glück der jungen Liebe. Er hatte eben zu Amor in einem Stoßseufzer gebetet: Oh, daß sie ewig grünen bliebe ... Und der Liebesgott schien seinen Wunsch zu erfüllen. Doch hatte er offenbar das falsche Register gezogen. Denn seine Liebe grünte rückwärts. Er wurde jünger, sie wurde jünger und beide immer verliebter. Umso komischer war's, daß er eines Tages wieder allein war. Völlig unmotiviert. Vielleicht, daß ihm die Braut untreu geworden, weil ihm die Haare seines Schnurrbarts ausgegangen? Was aber die Zuschauer am meisten in Erstaunen versetzte, ihr Zwerchfell erschütterte: Der junge Mann machte sich gar nichts aus der verlorenen Liebe. Wurde tcklanker. fröhlicher und .rulehends jün- rat Steger etwas kleinlaut an seinen Schreibtisch. Der Köpf brummte ihm, denn er hatte unruhig geschlafen. Hatte tolles Zeug geträumt. Das tollste von allem war freilich diese Kinogeschichte, die ihm alle Waffen aus der Hand geschlagen. Ihm träumte nämlich, er sei Bürgermeister von Knickedorf gewesen, und man habe zur Feier seines 60. Geburtstages sein Leben im Film verewigt. Er selbst hatte der Vorstellung beigewohnt. Himmel, war das ein Gelächter! Und das Schönste: Der Operateur hatte aus Versehen den Streifen verkehrt laufen lassen. Na, das ging doch über die Hutschnur. Wie war es doch?
Er dachte angestrengt darüber nach. Dann rollte sich der ganze Film noch einmal rückwärts vor seinen Augen ab.
Da bewegte sich der ehrwürdige Bürgermeister zwischen den bemoosten Häuptern der Stadt und sprach gewichtige Worte. — Dann kam der Kommerzienrat, der sich in seinem Lehnsessel
ger. Kam aus allerlei Späße. Fing an zu Kneipen, die Zeche zu prellen, Verse an Eulalia zu schreiben, die Leute zu foppen, den Lehrer zu ärgern — bis er eines Tages zum Ergötzen der Zuschauer auf den Knieen eines gestrengen Vaters lag, der auf einem bestimmten Körperteile Radierungen vorzunehmen schien. Doch die Prozedur schien dem ehemaligen Kommerzienrat ganz gut zu bekommen, denn, während er vorher lärmte und schrie, war er nach diesem Zwiegespräch mit seinem Vater sehr beruhigt und schmunzelte stillvergnügt. Das Publikum brach darüber in die größte Heiterkeit aus, und auch der wirkliche Kommerzienrat mußte lachen über den ehemaligen Filmkommerzienrat und Bürgermeister, der jetzt sogar in sogenannten Pumphosen herumsprang. Der merkwürdige Kerl machte geheimnisvolle Geschichten. Eines Tages kam er — natürlich rückwärts — mit einem Polizisten aus den Marktplatz gelaufen. Der strenge Gesetzeswächter, der wütend auf den jungen Mann eingesprochen hatte, ließ ihn plötzlich stehen und rannte davon. Und der Bursche stand da und lachte, denn aus allen Richtungen kamen ihm aus Laternenpfählen und Fensterscheiben Steine in die Hand geflogen, die er eiligst in die Taschen steckte, um nachher vergnügt von dannen zu ziehen. Das hatte die Zuschauer sehr ergötzt, und während sie sich vor Lachen schüttelten, rollte der Film immerfort rückwärts. Der junge Mann wurde der Schule entlassen, denn er war bereits aus sechs Jahre und 60 Zentimeter zurückgewachsen. Auffallenderweise wurde er immer braver und ruhiger, hängte sich seiner Mutter an die Rockschöße und kletterte schließlich in den Kinderwagen. Da schien nun aber eines Tages der Vater den Kinderwagen versetzt zu haben,
worüber der junge Mann in große Ausregung geriet, denn er stieß seine Milchflasche entsetzt von sich, strampelte in den Windeln und schrie, daß man von dem Burschen nur die tränenden Augen und den ausgerissenen Mund sah. — Das war die letzte Phase der rückläufigen Entwicklung des ehrwürdigen Bürgermeisters. Die Bürger von Knickedorf lachten und ließen ihr Oberhaupt hochleben, und dieser lachte — wohl oder übel —mit.
Er war sogar in ein solches Gelächter ausgebrochen, daß er darüber — erwachte. Und auch jetzt mußte er wieder lachen über diese verrückte Kino-Geschichte.
Nein, was man alles zusammenträumen kann! Ein Glück war's nur. daß seine Bengel nicht in dieser verkehrten Vorstellung waren; die würden sonst sagen: Die Aepfel fallen nicht weit vom Stamm.
Wahrlich, so ist's! Ben Akiba hat recht. Alles schon dagewesen! Es ist immer wieder dasselbe!