Sette 2 - Nr. 97

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Nagolder Lagblatt »Der Gesellschafter*

Mittwoch 28. April 1S2S

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Absicht Deutschlands, mit Rußland einen Vertrag avzuschlie- ßen, dauernd unterrichtet gewesen, schon um der Mißdeu­tung vorzubeugen, als ob der Fehlschlag von Genf miibe- stimmcnd gewesen sei. Die diesbezüglichen Derhandlurmen mit Rußland gehen bis auf den Dezember 1924 zurück. Der bedauerliche Vertrauensmißbrauch der Londoner .Times", die plötzlich die ersten Mitteilungen über die schwebenden Vetzandlungen veröffentlichte, haben den Abschluß beschleu­nigt.

Der KrMk ch» die Gckrsidehandels-G. m. b. H.

Berlin, 27. April. Die Verhandlungen zwischen dem Reichsernährungsministerium und der Deutschen Getreide- Handelsgesellschaft wegen der Flüssigmachung des vom Reichstag bewilligten Kredites in Höhe von 30 Millionen aus Mitteln der alten Reichsgetreideskelle zum Zweck der Fest­legung des Roggenpreises haben in den letzten Tagen zu einem Ergebnis geführt. Nach den getroffenen Abmachungen Sbergibt das Reich der Gekreidehandels-G. m. b. H. 30 Mil- lionen Mark auf zunächst drei Jahre zu einem Zinssatz von

11 v. H. Damit verfügt die Gesellschaft jetzt über ein für chre praktischen Aufgaben verwendbares Kapital von 45 Mil- Koneu, da bereits vor den Verhandlungen im Reichstag von hen privaten Gründern 15 Millionen sichergestellt waren. Außerdem waren vorher 50 000 Mark für die wissenschaft- kche Arbeit der mit der Gekreidehandelsgesellschafk in Ver­bindung stehenden Studiengesellschaft zur Untersuchung der Noggenpreise zur Verfügung gestellt worden. Da zugleich mit dem Abschluß auch der Geschäftsführung der Gesellschaft «ine endgültige Form gegeben ist, kann man damit rechnen, baß bereits in den nächsten Tagen die praktische Arbeit ihren Anfang nimmt. Insbesondere dürften nunmehr die noch schwebenden Verhandlungen mit dem Getreidehandel unmit­telbar vor dem Abschluß stehen.

Bestrafter Sonderbündler

Neuwied, 27. April. Der Sonderbündler Elzermonn aus tjkhrenbreitstein wurde heute vom hiesigen Schwurgericht wegen Totschlags und fortgesetzten Sittlichkeitsverbrechens an seinen Töchtern zu 15 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust verurteilt.

7 Jahre Zuchthaus für eine« polnischen Spion

Breslau, 27. April. Der erste Strafsenat des Breslauer Vberlandesgerichts verurteilte den Privatdetektiv Johannes Pochinski aus Studny, Kreis Krotoschin, wegen Verbrechens Her Spionage zu 7 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehr­verlust.

Die Neugestaltung des französischen Heeres

Paris, 27. April. Kriegsminister Painleve hat vor Pressevertretern über die Heeresreform nähere Angaben- gemacht. Durch die Herabsetzung der Dienstzeit von 18 aus^

12 Monate werde die Stärke der französischen Armee um 85 000 Mann vermindert werden. Die Zahl der Divisionen werde von 32 auf 20 herabgesetzt, davon 4 Kolonialdioi- fionen. Die Zahl der Berufssoldaten werde dagegen von 76 000 aus 105 000 Mann erhöht werden. Die Zahl der Militärbeamten soll um 15-000 und die der Zivilbcamten um 17 000 erhöht werden. Das Kolonialherr werde un­gefähr 37 000 Franzosen und 90 000 Mann Eingeborene (Senegalesen, Jndochinesen und Malgachen), die in Nord­afrika oder in Frankreich selbst in Garnison liegenden ge­mischten Truppen 40 000 Franzosen und 90 000 Eingebo­rene aus Nordafrika und die Fremdenlegion 20 000 Mann umfassen

Zurückoehalkener Dampfer

Dublin, 27. April. In dem irischen Hafen Cork wurde -er Reisedampfer .Adriatic' zurückgehalten, der wichtige Schriftstücke und große Geldsummen an Bord hatte, die auf Waffenbestellungen in Amerika für die irische republikanische Partei bezug haben sollen.

Bestellt denGesellschafter I"

Württemberg

SkulkMirt, 27. April. Wohnungsgeld Zuschuß. Entsprechend dem Vorgehen des Reichs werden vom 1- April 1926 ab die vollen Sätze (100 Prozent) des Wohnungsgeld- zuschussss an die Beamten gezahlt.

Stuttgart, 27. April. Zur Neugestaltung der Verwaltungsbezirke. Ein Artikel imDeutschen Volksblatt", der anscheinend die Ansicht des Ministers des Innern wiedergibt, wendet sich gegen den Vorschlag, die a ten Oberamtsbezirke bestehen zu lassen, dagegen die Amts­körperschaften, 3 bis 5, zusammenzulegen. Vielmehr sollten etwa 30 bis 34 Bezirke mit 63 bis 68 Gemeinden und 75 bis 86 000 Einwohnern geschaffen werden. Ob später das eine oder andere Oberamt noch eingespart oder einzelne Grenz­bezirke mit dem Nachbaroberamt vereinigt werden könnten, müsse die Erfahrung lehren. Auf diese Weise könnten 850 000 bis 1 Million Mark erspart werden, wozu die Ersparnisse bei der Justizverwaltung und den Amtskörperschaften kämen. Letztere hätten den größten Nutzen.

Hindenburgbüste. In der Württ. Skaatsgalerie wird demnächst eine Büste des Reichspräsidenten von Hinden- burg zur Aufstellung gelangen, die von Jakob Wilhelm Fehrle in Berlin, einem schwäbischen Landsmann aus Gmünd, ausgeführt worden ist. Die Büste wird von der Firma Erhard u. Söhne in Gmünd gegossen.

Die christlichen Gewerkschaften und der 1. Mai. Die christlichen Gewerkschaften in Württemberg und Hohen- zollern beschlossen, am 1. Mai wie bisher immer zu ar­beiten. Die trostlose Lage der zwei Millionen Arbeitslosen- sei nicht dazu angetan, politische Kundgebungen mit Arbeits­niederlegung zu veranstalten.

Maschinenbauschule und Gewerbeschulichrer. Nach einer Mitteilung von Präsident von Jehle steht der Zulassung von geeigneten Absolventen der höheren Maschinenbauschule Eß­lingen zur Gewerbelehrerlaufbahn nichts im Wege.

Aus dem Lande

Schnait i. 27. April. Todesfall. Der in weiten Kreisen bekannte Lammwirt Richard Kieses, allgemein geschätzt wegen seiner biederen, freundlichen Art, ist im Alter von erst 44 Jahren gestorben.

Vaihingen a. 27. April. Wahlanfechtung. Die am 18. April hier vorgenommene Ortsvorsteherwabl, der ein sehr erregter Wahlkampf voranging, ist angefochten worden mit der Begründung, daß gesetzwidrige Wahlbeein­flussung ausgeübt worden sei.

Maulbronn. 27. April. Autounfall. Auf der Straße nach Lienzingen überschlug sich ein Stuttgarter Kraftwagen, wobei ein Herr und eine Dame schwer verletzt wurden. Es ist dies der dritte derartige Unfall in diesem Jahr aus dieser Straße.

Wiernsheim OA. Maulbronn, 27. April. Schulk- heißenwahl. Zum Ortsvorsteher wurde Obersekrekär M ast in Feuerbach gewählt.

Neckarsulm» 27. April. F e l d d i e b st ä h le. Die Feld- diebststähle beginnen schon wieder. So wuiden einem Be­sitzer eines Gartens am Hungerberg von dessen Grundstück der ganze Winterkopssalat-und vor einer Woche das ganze Land mit Spinat ab geschnitten.

Waldhausen. OA. Welzheim. 27. April. Selbstmord. Nachts hat sich ein 55 Jahre alter Schneider erhängt. Das Motiv zur Tat sind Familienzwistigkeiten. Er hinterläßt eine Witwe mit 5 Kindern.

Reutlingen» 27. April. Tötung durch einen be­trunkenen Kraftwagensahrer. Nach einer Hoch­zeitsfeier machte der 26jährige Mechaniker Hertkorn aus Kirchentellinsfurt mit drei andern Hochzeitsgästen am Sonn­tag früh eine Autofahrt. Alle vier waren völlig betrunken. Am Tübinaer Tor fuhr der Wagen plötzlich aus die Seite

und riß ein an der Straße stehendes 22jähriges Mädchen mit, das eine Strecke weit geschleift wurde. Erst als ein Mann drohend auf den Wagen sprang, hielt Hertkorn an. er blieb aber ruhig sitzen, als man das tote Mädchen unter dem Wagen vorzog. Die erbitterte Menge hätte die Wagen­fahrer totgeschlagen, wenn die Polizei nicht rasch eingegrif­fen hätte. Hertkorn und ein weiterer Insasse wurden ver­haftet, die beiden anderen entflohen.

Tübingen, 27. April. Von der Universität- Pro­fessor Dr. Josef Vogt in Tübingen hat einen Ruf auf de» Lehrstuhl für alte Geschichte an der Universität Freiburg er­halten.

Weil im Dorf, 27. Avril. Z w e i P f e r d e i m K a n a l i- sationsgraben. Gestern nachmittag scheuten die bei­den Pferde des Landwirts Neinhoid Gloß vor einem Motor­rad und rasten von der Turnhalle her in die Hauptstraße, in der zurzeit Konalisationsarbeitcn gemacht werden. Ohne daß es jemand verhindern konnte, sielen die Pferde in den Kanalisationsgraben, der etwa 2 Meter ties ist, und kamen so eng aufeinander gepreßt zu liegen, daß sie sich kaum mehr regen konnten. Nach tatkräftigem Zugreisen der anwesenden Männer wurde ein Pferd mit einem Ftaschenzug aus dem Graben geboben. Es verendete aber beim Herausziehen an einem Herzschlag. Inzwischen traf die Berufsfeuerwehr von Feuerbach ein. Mit vereinten Kräften wurde das zweite Bserd auf gleiche Weise aus seiner bedrängten Lage befreit. Dieses Pferd har außer einigen Schürfungen keinen Schaden genommen.

Eßlingen, 27. April. Das Gemeindebestim. mungsrecht. In Eßlingen mit Obereßlingen Ghne die Filialen) haben sich rund 6000 Stimmen für das Gemeinde- bestimmungsrecht ergeben.

Nsunheim OA. Ellwangen, 27. April. SchnitterTod auf derHochzeil. Einen tragischen Abschluß fand eine Hochzeit im Hirsch. Als die Hochzeitsgesellschaft in guter Stimmung beim Abendesion beisammensaß, brach plötzlich der über 60 Jahre alte Onkel des Bräutigams infolge eines Schlaganfalls auf dem Stuhl zusammen und verschied bald darauf.

Reutlingen, 27. April. An Wundstarrkrampf gestorben. Der aus Pfullingen eingelieferts Johannes Goeser ist an Wundstarrkrampf gestorben. Er war vor etwa 10 Tagen in einen Nagel getreten, der ihm durch den Fuß ging, hatte aber auf die Wunde nicht geachtet.

Ebingen. 27. April. Tödlicher Ausgang. Der am Sonntag abend auf der Meßstctier Steige vom Rad ge­stürzte junge Radfahrer, der 21 Jahre alte Wilhelm Koch aus Winterlingen, ist infolge des erlittenen Schüdelbruchs gestorben.

Alm, 27. April. Vom Polizeihund gestellt. Ein interessanter Kampf spielte sich in der Nacht auf Sonntag in der Olgastraße ab. Ein junger Bursche hatte in mutwilliger Weise die Scheiben des Schaukastens des Photographen Laible in der Frauenstraße eingeworfen, worauf er die Heimstraße hinab entweichen wollte. Der Schutzmann der feinen gut gerichteten Wolfshund bei sich hatte, hatte den Vorgang bemerkt und ließ den Uebeltäter durch den Hund verfolgen. Am Kaffeehaus Zundeltor wurde der Flüchtling von dem vierbeinigen Verfolger gestellt, wobei ihm die Ledertasche, mit der er den Hund abwehren wollte, von diesem entrissen wurde. Der Flüchtling mußte sich schließ­lich, um nicht empfindlicher gepackt zu 'werden, dazu be- guemen, zu warten, bis der Schutzmann zur Stelle war.

Deggmgen OA. Geislingen, 27. Avril. Schweres Leid. Dem Gipser Karl Sckiuer hier starben in einer Woche zwei Söhne im Alter von 20 und 18 Jahren an Grippe.

Schnaitheim. OA. Heidenheim, 27. April. Neuss Fruchtland. Das entwässerte Brenztalgebiet zwischen bier und Hsidenheim ist zum Teil bereits gepflügt, mit Tslleroggen bearbeitet, mit Kunstdünger gedüngt und mit Hafer angepflanzt worden.

Freisein

Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben das. daß wir etwas verehren, das über uns i st. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinaus. Goethe.

Heimich voll TreilWe

(Zu seinem 30. Todestag am 28. Äpril 1028.)

Von vr. Werner Freytag.

Loce domo! Ja, er war ein Mensch in des Wortes voller Bedeutung, der schrift- und redegewaltige Historiker Heiv' ch von Treitschke. eine Kämpfernatur von seltener Lauterkeit Ves Charakters, durchdrungen von glühender Vaterlandsliebe, ein heißblütiger Verfechter des Gedankens der deutschen Einheit unter preußischer Führung. In Treitschke verquickte sich der nach Sachlichkeit strebende Geschichtsforscher mit dem impul. stven Politiker. Dadurch entstand ein ständiges Spannrings- Verhältnis, das beiden Elementen zugute kam. Außerdem genoß er die Segnungen einer echten künstlerischen Veranlagung, die. verbunden mit einem guten Gedächtnis und erstaunlicher Ver­standesschärfe. einer rmposanten äußeren Erscheinung sowie glänzender Beredsamkeit ihn zu jener achtunggebietenden Führerpersönlichkeit stempelte, als die er seiner Umwelt stets erschien.

Wir sind heute an Hand seines reichhaltigen ltterarychen Nachlasses, besonders seit der Herausgabe seiner gesammelten Briefe,") in der Lage, den Werdegang Trcitschkes bis m Ein­zelheiten genau zu verfolgen. Erhellt doch gerade aus seinem rückhaltlos offenen Schriftwechsel mit Angehörigen. Freunden und markanten Persönlichkeiten der Zeit der feinverästelte Zu­sammenhang .'.wischen Ererbtem und Unerzogenem im Weien Treitschkes mit den großen Ereignissen jener Epoche, die ihn in ihren Strudel als mitbestimmenden Faktor hineinzogen.

Als Heinrich Gotthard von Treitschke am 15. September 1834 in Dresden als zweites Kind eines hohen sächsischen Of­fiziers das Licht der Welt erblickte, zitterte auch in Sachsen noch die Erregung der Befreiungskriege nach. Treitschkes Vater, Kombattant von 181315. war ein hochbegabter General, der über die damalige Einstellung Sachsens zur deutschen Frage sedoch nicht hinauskam, ivas später Konflikte zwischen Vater und Sohn herbeiführen sollte. ,

Schon frühzeitig wurde der Knabe von Krankheiten heim- gesucht, die, eine lange Kette körperlicher Martyrien, nahezu das ganze Leben Treitschkes störend begleiteten, wenn sich auch seine eiserne Willenskraft an ihnen ständig vergrößerte. Sech­zehnjährig verließ er im Jahre 1851 die Dresdner Kreuzschnle. deren damaliger Rektor Klee, ein unentwegter Großdeutscher, die ersten Hoffnungsreiser eines deutschen Zukunftsreiches in die empfänglichen Seelen seiner Zöglinge pflanzte. Es wird erzählt, oaß während einer Schulfeier der junge Treitschke als Redner sämtliche Zuhörer begeisterte und dabei durch Derherr-

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B«rla, 2. Sirzrl Seidig l»ro.

Iichung großdeutscher Ideale den lebhaften Unwillen des zu­fällig anwesenden Ministers von Beust erregte, wie überhaupt dieser Knabe mit dem schwer zu bändigenden, üppigen schwar­zen Haar, der mächtigen Nase und den liefen, braunen Augen" für Männer etwasFaszinierendes" hatte.

Es folgten frohe, arbeitsreiche Studienjahre in Bonn, Leipzig, Tübingen, Heidelberg und Göttingen. in deren Ver­lauf sich Treitschke allmählich vom Nationalökonomen zum Historiker entwickelte. Vornehmlich die Bonner Jahre, die den Studenten ganz im Banne von Dahlmann zeigen, scheinen diesen Wechsel eingeleilet zu haben; auch traten dort Freunde wie Wilhelm Nokk, Aegidi, Gutschmidt und Frantzius in sein Leben. Noch in späteren Zeiten erinnerten sie sich des ge­waltigen Eindrucks, den sie aus denmetallenen Worten" Treitschkes empfingen.Da hörte man," schreibt einer von ihnen,Deine Stimme, die wie ein Flamberg einschnitt. und sah Dein hocherhobenes Haupt, aus dem die Augen leuchtend hervorblitzten. Mit der Kraft des Wortes verband sich die Fülle der Gedanken und Echtheit des Empfindens." Nebenher befaßte sich Treitschke mit dramatischen Stoffen (Wullenweber. Sampiero, Heinrich von Plauen), zeitweilig sogar so lebhaft, daß er mit dem Gedanken spielte, die akademische Laufbahn mit der Dichtkunst zu vertauschen.

Am 10. Dezember 1858 hielt er seine Probevorlesung in Leipziglieber den Charakter der Hauptvölker Europas in Bezug auf ihr Verhältnis zum Staat" und sprang bereits mit seinem ersten KollegDeutsche Vcrfassungsgeschichte" kühn über den Westfälischen Frieden hinaus, einen Zeitpunkt, mit dem die zünftige Geschichtswissen­schaft jener Tage abzuschkietzen pflegte. Außerdem entfaltete er eine vielseitige publizistische Tätigkeit teils literarhistorischer (Kleist, Ludwig, Hebbel, UHIand) teils politisch-historischer Natur (Fichte, Nekrolog aus Dahlmann, Studien über den Bo­napartismus u. a.).

Seine politisch gefärbten Vorlesungen über neueste deutsche Geschichte riefen das Mißtrauen der sächsischen Regierung wach. Immer deutlicher erkannte man in ihm den preußenfreund­lichen Unitaristen. Die Gefahr einer öffentlichen Maßregelung rückte in bedenkliche Nähe. Durch dir gehässigen Angriffe des sächsischen Professors Wuttke, der ihm Mangel an Patriotismus vorwarf und über zahlreichen Anhang verfügte, wurde Treitschkes Stellung unhaltbar, obwohl ihn Gustav Freytag und der Grenzboten-Kreis tatkräftig unterstützten.

So folgte Treitschke gern einem Rus als Extraordinarius nach Freiburg, nicht ohne vorher (am 8. August 1863) vor Tau­senden in Leipzig versammelter Turner unter freiem Himmel seine zündende Rede zur Erinnerung an die Tage der Völker- schlachl gehalten zu haben. Auf Sturmesschwingen flog fortan sein Name durch die deutschen Lande. Seine damaligen Emp­findungen spiegeln sich in der ersten Sammlung historisch-poli­tischer Aufsätze wieder, die später unter dem TitelZehn Jahre deutscher Kämpfe" als ein Erzeugnis mutiger Polemik veröffentlicht wurden. In Freiburg nahm dann sein Lieblingsplan, ursprünglich nur als eine Darstellung der Ge­schichte des deutschen Bundes gedacht, feste Formen an. Er äußert sich darüber:Ick will eine Geschichte des Deutschen Bundes schreiben, kurz, scharf, völlig rücksichtslos, um dem faulen Haufen zu zeigen, daß uns die Grundlagen alles stcw i

liehen Daseins, Recht, Macht und Freiheit, fehlen und keine Rettung anders möglich ist als durch eine Vernichtung der Kleinstaaten. Wäre es mir um wissenschaftlichen Ruhm zu tun, wahrlich, ich wählte mir ein anziehenderes ... Thema. Aber ich weiß, kaum ein anderes historisches Werk ist für die Aufklärung des großen Publikums notwendiger, und da von denen, die gelehrter sind als ich, niemand den Mut dazu findet, so will ich's versuchen, auf die Gefahr hin, daß, während ich schreibe, der Bund dem Fluche der Völker bereits erkieat." Hier haben wir den ganzen Treitschke! Eine mächtige Förderung erfuhr der vorwärtsdrängende Historiker, als Bismarcks Gunst ihm Einsicht in die preußischen Staatsarchive gewährte.

Das kritische Jahr 1866 findet Treitschke ganz auf der Seite Preußens. Es spricht für die Charakterfestigkeit dieses Mannes, daß er nach Badens Uebertritt zu Oesterreich keinen Augenblick zauderte, die Freiburger gesicherte Professur seiner politischen Ueberzeugung zu opfern.

An eine kurze Lehrtätigkeit in Kiel schlossen sich sieben fruchtbare Jahre in Heidelberg, die ihm außer der Erfüllung seiner politischen Hoffnungen die Versöhnung mit seinen An­gehörigen bescherten und genügend Muße, um sein Lebenswerk, dieDeutsche Gesckichte des neunzehnten Jahr­hunderts", systematisch in Angriff zu nehmen. Die letzten 22 Jahre in Berlin gehörten vorwieoend der Wissenschaft. Po­litisch betätigte er sich 187184 als Reichstagsabgeordneter, an- fanas als Mitalied der Nationnlliberalen. Dock geriet er später in heftigen Widerspruch zur Fraktion, als diese im Mai 1878 den Regierungsentwurf des Sozialistengesetzes ablehnte, und trat am 11. Juli 1879 aus. Sein Mandat behielt er bis zum Schluß der Legislaturperiode, lehnte jedoch eine Wiederwahl im kerbst 1884 ab. Zu seiner chronische», an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit gesellte sich unvermutet ein langwieriges Auaenleiden und behinderte den Alternden erheblich an der Vollendung seines Hauptwerkes, der Deutschen Ge schichte des IS. Jahrhunderts, die als ein von hoher Sittlichkeit getragenes nationales Geschichtsepos angesehen werden muß.

Die Ausnahme bei Publikum und Presse war zuerst geteilt, wurde jedoch mit sedem Bande herzlicher. Bismarcks zeit genössisches Urteil über Treitschkes leider nur bis 1848 oe diehene Deutsche Geschichte ist für den Scharfblick; des Alt reickskanzlers ebenso kennzeichnend wie für das Werk. Er erklärte seiner Umgebung:Das Buch ist meisterhaft geschrie­ben, mit einem Wissen und Können, das bewunderungswürdig ist. Eine Miniaturmalerei ohnegleichen, fast zu photographisch treu und detailliert für eine ereignislose Zeit wie die vor 48: er steht jedes Sandkorn, ich fürchte, ihm wird dadurch der Atem ausgehen für den großen Teil des Jahrhunderts, der nun erst kommen soll."

Zuletzt.

Manch seichtes Leben, leidscheu, oberflächlich,

Macht sich auf dieser Welt genießend breit.

Doch löscht es aus. wird seine Nichtigkeit Zum Richtschwert ihm. Der Tod ist unbestechlich Anna Enders Dix.