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Nummer 298
Fernruf 479
Samstag den 21. Dezember 1S3S
Fernruf 479
70. Jahrgang
Die verstümmle Friedeusgloche
Verwirrung zwischen London. Paris und Rom *
Dem Fest des Friedens wird m London, Paris und Rom ei« recht unfriedliches Präludium gespielt. Die öffentliche Meinung des englischen Volkes und mindestens eines erheblichen Teils des französischen ist so deutlich und hörbar von den Vorschlägen, mit denen die Regierungen Englands und Frankreichs den Krieg in Abessinien beenden wollten, abgerückt, daß man sich in London entschließen mutzte, diese Vorschläge in aller Form preiszugeben, und jenen Mann, der die politische Verantwortung für den Friedensplan zu tragen hat, Sir Samuel Hoare, in die Wüste zu schicken. Baldwin, der sich noch vor einigen Tagen zu dem Werke Hoares bekannte, hat eingesehen, datz es unter dem Druck der öffentlichen Meinung und auch gegenüber dem starten Widerstand im Kabinett nicht zu halten war. Hoare aber, der überzeugt davon ist, der Sache des Friedens und Englands in Paris einen Dienst erwiesen zu haben, konnte sich nicht entschließen, sein eigenes Kind nun zu verleugnen, und zog die Konsequenzen.
^ Die französisch-englische Front, um deren Wiederherstellung sich Laval in Paris so eifrig und zunächst mit Erfolg bemühte, hängt damit aus dem englischen Flügel in der Lust. Kein Wunder, datz der Rücktritt Hoares in Paris Verwirrung stiftete. Laval steht mit dem vor vierzehn Tagen entworfenen Friedensreglement allein auf weiter Flur. Er hatte mit ihm innerhalb des linken Sektors der französischen Parteien von Anfang an einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Aber er glaubte, ihm standhalten zu können, da er schließlich gegenüber allen ideologischen Bemängelungen dieses Friedensplans und auch gegenüber der Opposition des sowjetrussischen Bundessreundes als Akti- vum die enge Verbundenheit mit England vorweisen konnte. Er hat damit namentlich die französischen Rechtskreise, die immer dem Gedanken einer Wiederherstellung der Entente cordiale anhängen, gewonnen. Aber nun zeigt sich, datz, je länger je mehr, der Widerstand der Kerntruppe der Regierung, der Radikalsozialen, wächst. Es ist Laval mit Unterstützung seines Kabinettskollegen, des radikalsozialen Parteiführers Herriot, bisher mit Mühe gelungen, die stark nach links drängende Partei im Streit um die innenpolitischen Fragen bei der Stange zu halten. Das italienische Problem scheint sie endgültig abgetrieben zu haben, denn Herriot, gewiß kein unbedingter Anhänger der Politik Lavals, aber immerhin ein Mann, der nicht ohne Not und jedenfalls nicht im taktischen falschen Augenblick das Entweder-Oder ausspricht, hat sich genötigt gesehen, nach einer heftigen Auseinandersetzung mit seinen Parteifreunden den Vorsitz der Partei niederzulegen. Man warf ihm vor, datz er sich dem Ministerpräsidenten und seiner Politik stärker solidarisch verbunden fühle, als den Auffassungen innerhalb der Partei. Die schwierige Frage, vor die damit Laval gestellt wird, ob er in der Kammer nun auch fernerhin noch aus die Gefolgschaft der Radikalsozialisten rechnen kann. Herriot war der Garant dieser Eefolgschafts- treue, obwohl auch er schon wiederholt höchst unbequem wurde. Nach dem jüngsten Schritt Herriots aber mutz damit gerechnet werden, datz die Partei der Parole intransigenter Elemente folgt und die Regierung im Stich läßt. Das kann den Sturz Lavals bedeuten. Der 28. Dezember wird in der Kammer vielleicht eine Entscheidung bringen.
Und in der i t a l i e n i s ch e n F r a g e, wo man vielleicht geneigt wäre, die weitgehende Kompromitzsucht Lavals fortzusetzen, find inzwischen durch die indirekte Ablehnung Mussolinis und die deutliche Abessiniens, die Wege wieder schwerer gangbar geworden. Man beklagt auf der französischen Rechten, datz Rom die Pariser Vorschläge nicht verstanden habe, daß es sie, die ein letztes Angebot darstellten, um die Wiederherstellung der Stresafront zu ermöglichen, nicht sofort angenommen habe. Man ist deshalb enttäuscht, und wird sich umso weniger dazu verstehen können, den Boden wieder zu betreten, auf den sich Laval und Hoare gemeinsam stellten, als England nach den jetzigen Erfahrungen kaum Lust zeigen wird, Las heiße Eisen des Friedens zunächst wieder anzufassen. Der Versuch, im abessrnisch-ita- lienischen Konflikt zu vermitteln und zu schlichten, wird von Genf nicht fortgesetzt werden.
Und damit behält der Krieg das Wort. Der einzige Lichtblick ist, datz niemand Lust zu haben scheint, ihn auf den abessinischen Schlachtfeldern dadurch zu beenden, datz man die Gefahr herausbeschwört, ihn in Europa auftauchen zu sehen.
Baldmns Erfolg im Unterhaus
Mitztrauensantrag abgelehnt
London, 20. Dez. Ministerpräsident Baldwin erklärte in seiner Unterhaus-Rede u. a.: An dem Sonntag, an dem in Paris die entscheidende Aussprache stattfand, habe die Verbindung zwischen Paris und London gefehlt. Am Montag früh habe er vor der vollendeten Tatsache gestanden, als ein Brief Hoares aus Paris eintraf, in dem der Außenminister um die Billigung
des Kabinetts für seine Abmachungen ersuchte. Das Kabinett habe die Vorschläge nicht gerne gesehen, da sie zu weit gingen. Es hätte sie am liebsten geändert. In der Frage des Pariser Friedensplanes sei er, Baldwin, einem Irrtum erlegen. Er hoffe, datz aus diesem Irrtum eine nützliche Lehre gezogen werden könne. Es sei jetzt völlig klar, datz die Vorschläge absolutundvöllig totseien. (Beifall.) Das derzeitige englische Kabinett werde bestimmt keine Wiederbelebungsversuche anstellen. England sei bereit, in kollektiver Zusammenarbeit seine Rolle in jeder Hinsicht zu erfüllen. Aber das englische Volk wird es seiner Regierung wohl zum letztenmal gestattet haben, an einer Kollektivmatznahme teilzunehmen, wenn das englische Volk seststellen müsse, datz England, indem es am Völkerbund sesthiilt, sich bei der Durchführung einer Aufgabe, an der sich eigentlich alle beteiligten müßten, völlig allein sehe. Denn jedermann wisse, datz das Gebiet für die Anwendung dieser Grundsätze beim nächstem««! in größerer Nähe Englands liegen werde, als dies jetzt beim Mittelmeer der Fall sei.
Den Sühnematznahmen wohne eine außerordentlich starke Macht inne. Aber sie seien von wenig Wert, wenn sie nicht sofort angewendet werden könnten. Andernfalls bestehe die Gefahr, datz langsam ein Land nach dem anderen in den Krieg verwickelt i o e, so datz schließlich niemand das Ende voraussehen könnte. Wenn die betrübliche Angelegenheit des abessinischen Krieges beendet sei, würden die Mitglieder des Völkerbundes diese Dinge überlegen müssen. In einem modernen Krieg sei der Angreifer der Ueberlegene. Die Völker Europas müßten sich diese Tatsache vor Augen halten, wenn sie ihre Sicherheit bewahren wollten.
Das Unterhaus lehnte am Schluß der Aussprache den Mißtrauensantrag der Arbeiterpartei mit 397 gegen 188 Stimmen ab und nahm den Abänderungsantrag des konservativen Lord Winterton mit 389 geg-n-185 Stimmen an- Der Antrag lautete: Dieses Haus ist der Ansicht, datz alle Bedingungen für eine Regelung des rtalienisch-abejsinischen Konflikts dergestalt sein müssen, datz sie der Völkerbund annehmen kann, und sichert gleichzeitig die britische Regierung seiner vollsten Unterstützung in der Verfolgung der Außenpolitik, die im Regierungsmanisest dargelegt und vom englischen Volk bei den kürzlichen Neuwahlen angenommen wurde.
Tadel im Oberhaus
Die Hintergründe der Pariser Besprechung
London, 20. Dez. Gleichzeitig mit der Unterhaus-Debatte fand auch im Ol- Waus eine Aussprache über die Pariser Friedens- Vorschläge statt. Nachdem der Oppositionsliberale Davies einen Antrag eingebracht hatte, der die Vorschläge als unannehmbar bezeichnete, ergriff der Lordsiegelbewahrer Lord Halifax namens der Regierung das Wort. Er erklärte, datz Sir Samuel Hoare von der Regierung nicht mit dem Auftrag «ach Paris geschickt worden sei, Versöhnungsvedingunge« zu bespreche«. Der Außenminister habe sich wegen anderer mit dem abessinischen Streitfall zusammenhängender Fragen nach Paris begeben. I» Paris angekömmen, stellte Hoare fest, datz die französische Regierung sehr bemüht war, Fortschritte in dem Versöhnungsverfahren zu erzielen. Der Außenminister habe sich schließlich unter persönlichen Opfern in bezug auf seine Gesundheit bereit erklärt, sich persönlich an der Suche nach Friedensvorschlägen zu beteiligen. Als das Ergebnis der Pariser Besprechungen am Montag in London eintraf, habe die britische Regierung vor einem Dilemma gestanden, da ihr und Paris die ausgearbeiteten Bedingungen keineswegs zufagten. Es mutzte ein Entschluß gefaßt werden und es sei an jenem Montag abend klar gewesen, datz die Regierung die Vorschläge nur ablehne« konnte, wenn sie den abwesenden Außenminister falle« ließe. Die Regierung hätte vielleicht mit ihrer Entscheidung bis zur Rückkehr Hoares warten können. Dies sei aber durch die frühzeitige Veröffentlichung der Vorschläge durch die Pariser Presse unmöglich gemacht worden.
Lord Halifax gab dann zu, daß die Regierung eine» Fehler beaanaen habe. Dieker Febler liege darin, datz di«
Kurze Tagesübersicht
Kirchenminister Kerrl hat durch eine Verordnung die Organe der evangelischen Kirchenleitung für die preußischen Kirchenprovinzen gebildet.
Ln London hat nach dem Erfolg Baldwins im Unterhaus am Freitag ein Kronrat stattgefunden.
Laval hat mit Präsident Lebrun verhandelt und sich gegen dre Rücktrittsgespräche gewandt. Die Entscheidung fällt de, der außenpolitischen Aussprache am 28 . Dezember.
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Oesterreich wird die allgemeine Wehrpflicht ab- schnrttsweise durchgeführt.
Die Kampfe an der Nordfront in Abessinien sollen nach abessnttscher Darstellung andauern, mährend die Italiener melden, daß der Durchbrnchsverjuch am Takazze gescheitert
Regierung nicht genügend Rücksicht auf die öffentliche Meinung genommen habe. Wir teilen voll und ganz die Verantwortung für den Fehler, den wir begangen haben. Diese Friedensbemühung ist tot — ob mit Recht oder Unrecht. Noch ist die Zeit nicht gekommen, die Folgen dieser Angelegenheit, die für manche von uns eine tragische Episode ist, für England und di« Welt abzuschätzen.
Das Oberhaus nahm ohne Abstimmung den Antrag des Lords Davies (Oppositionsliberaler) an. Darin heißt es, daß di« Pariser Friedensvorschläge unannehmbar seien, daß das Haus keiner Regelung zustimmen werde, die nicht mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit und den englischen Völksrbundsverpflichtungen übereinstimmen und daß di« Regierung zu ihrer bei den Neuwahlen vertretenen Politik zurückkehren solle.
Kriserrfttunmmg auch kr Paris
Laval will bleiben
Paris, 20. Dez. Die durch den Rücktritt Herriots und Sir Samuel Hoares und die Rede Mussolinis in Pontinia in der französischen Hauptstadt ausgelöste Krisenstimmung hält unvermindert an und gibt zu den verschiedenartigsten Vermutungen Anlaß. In parlamentarischen und politischen Kreisen wird erklärt, Herriot sei nur deswegen vom Parteivorsitz der radikalsozialistischen Partei zurückgetreten, weil er bei einem Rücktritt des Kabinetts Laval nicht Ministerpräsident, sondern Außenminister werden wolle. An sich habe Herriot die Absicht gehabt, auch als Minister zurückzutreten. Dann würde aber auf ihn die Verantwortung gekommen sein, die Regierungskrise ansgelöst zu haben. Darum ziehe Herriot es vor, die Regierung Laval durch die Kammer stürzen zu lasten. Laval wiederum habe keine Neigung, sich durch die Kammer stürzen zu lasten, sondern wenn das Schicksal seines Kabinetts unvermeidlich sei, wolle er lieber vor einer Kammerabstimmung freiwillig zurücktreten.
Was an diesen Vermutungen richtig ist, wird sich erst später zeigen. Man erklärt auch die Partie Lavals als „noch nicht endgültig verloren". Gegner wie Anhänger der Regierung sind sich jedoch darüber einig, daß Möglichkeit auf alle Fälle den Haushaltsplan unter Dach und Fach zu bringen.
Die Kammer hat sich bereits auf 26. Dezember vertagt. Am 28. Dezember soll die außenpolitische Debatte stattfinden.
Laval hat die Gerüchte, die von seinem bevorstehenden Rücktritt sprachen, in Abrede gestellt. Laval soll dazu erklärt haben: Vielleicht herrscht in der Welt eine Rücktritts- epidemie; ich fühle mich aber davon nicht angesteckt. Außerdem soll der Ministerpräsident noch darauf hingewiesen haben, datz er, wenn er amtsmüde wäre, sich vor seiner Abreise nach Genf in der Kammer doch nicht so viel Mühe gegeben hätte, seinen Sturz zu verhindern.
Eingliederung des Arbeiters
in Staat und Gesellschaft
- Berlin, 20. Dez. Der Reichs- und preußische Arbeitsminister Seldte hatte Vertreter der Presse zu einem Empfang eingeladen, bei dem er eine Darstellung der umfassenden Arbeit gab, die in den vergangenen Jahren auf dem Gebiete der Sozialpolitik geleistet worden ist. Er führte u. a. aus:
Eines wissen wir bestimmt: Will der Nationalsozialismus seine Mission nach innen hin vollenden, so mutz er sozialistisch sein. Deshalb habe ich stets die Eingliederung des deutschen Arbeiters in Staat und Gesellschaft als meine wichtigste Aufgabe angesehen. Es war unser Verhängnis, datz dies dem Vorkriegsdeutschland nicht gelungen war. Gewiß, es wäre ein großer Fehler, zu vergessen, was in Deutschland auf sozialpolitischem Gebiete schon früher als anderswo Bahnbrechendes und Bedeutendes geleistet worden ist. Dem alten Kaiser und Bismarck hat die deutsche Arbeiterschaft unendlich viel zu verdanken. Nach dem Tode dieser beiden großen Deutschen aber begann eine Periode, die die immer stärker zur Lösung drängende soziale Frage nicht in ihrem Ernste übersah und meistern konnte. So begann die Zeit der formalen Sozialpolitik, in der man glaubte, durch bloße Korrekturen das Heilmttel der sozialen Schäden erfunden zu haben. Man hatte den Blick für die eigentliche große Linie verlören, nämlich die Grundlinie, die zu einer ganz anderen seelischen und gesellschaftlichen Wertung des abhängig schaffenden Menschen führt. Diese Menschen dürfen nichtmehr länger Objekt der Wirtschaft sein, sondern hätten ein Recht darauf, datz man ihre Arbeit wertete nach den Matzstäben der Leistung für das Ganze. Dann schickte sich der Marxismus an, endgültig zu triumphieren.
Wie aber den Zustand der durch den Marxismus entstandenen Klassenscheidung überwinden, wie zu einer organischen Einheit des Volks kommen? Dies konnte nur erreicht werden durch eine nachdrückliche Pflege der sozialen Gesinnung. Das deutsche Volk mutzte endlich lernen, nicht mehr klasten- und kastenmäßig, sondern volksmätzig zu denken. Es war eine der schwersten Probleme, die der Nationalsozialismus bei seiner Machtübernahme mit der Neuordnung unseres sozialen Lebens anzupacken hatte. Vordringlich war zunächst die Rettung des deutschen Arbeiters von der Geißel der Arbeitslosigkeit durch einen gewaltigen und umfasirnde« Angriff. . „