Da schrillte die Klingel des Fernsprechers. Ursula fuhr auf. War schneller als ein -Gedanke am Apparat. Die Mut­ter hatte den Hörer schon abgehoben, nahm Ursula in den Arm, leitete das Gespräch ein. Herberts Schwester wurde gerufen. Die Mutter hielt Ursula den Hörer hin, sie nahm ihn, wollte etwas sagen, aber die Stimme gab nur ein paar heisere Töne her. Sie reichte den Hörer der Mutter zurück, nickte ihr bittend zu:Sprich du für mich!"

Ein paar Begrllßungsworte, dann die besorgte Frage der Mutter nach dem Zustand des Verunglückten, darauf für Ursula unverständliche Töne im Apparat. Ursulas Augen hingen wie festgewachsen an dem metallenen Trichter. Ihr lieber, frischer, übermütiger Junge...

Die Spannung im Gesicht der Mutter lockerte sich, sie zog Ursula fester an sich.Gott sei Dank!" sagte sie warm.Es wird lange dauern... große Schonung... aber er wird wieder ganz gesund werden? Ursula soll zu Weihnachten zu Ihnen kommen? Dann meint er Genesung mit ihr feiern zu können? Sie soll ihm oft schreiben? Nun, natürlich!" Noch ein paar Dankesworte, ein herzlicher Abschiedsgruß. Die Mutter konnte in Ursulas Augen hineinlächeln.Außer ein paar Quetschungen, die unbedeutend sind, eine Gewebe­zerreißung in der Nierengegend. Nur der Zufall, daß ein Spezialist in der Nähe war, hat ihn gerettet. Er ist heute Nacht operiert worden. Man meint, daß er außer Gefahr

Daß es doch noch Weihnachten wird für ihn und mich! Mutter, ist das nicht eine wundersame Gnade?"

Die Geschwister hatten sich still in die Wohnstube gesetzt, schnitten das Grün für den Adventskranz zurecht. Plötzlich trat Ursula ein, die Augen müde vom Weinen, aber auf den Zügen ein seltsames, klares Leuchten.Laßt mich helfen", sagte sie leise,beim letzten Adventskranz, den ich zu Hause winde. Er soll schöner werden, als wir jemals einen hatten. Und wir wollen Lieder singen, wie wir nie gesungen haben. Denkt nach, welches die aller-, allerfchönsten sind!"

Ursula hatte in den aufgehäuften Berg der Tannenzweige hineingegriffen, beugte nun das Gesicht in die mit Grün gefüllten Hände.Wie das duftet! Hat es jemals Tannen gegeben, die so geduftet haben? Bestimmt nicht! Ihr glaubt nicht, wie selig ich bin!" Und plötzlich jubelte ihre warme Altstimme auf:

Heilige Nacht auf Engelsschwingen nahst du wieder dich der Welt, und die Glocken hör ich klingen, und die Fenster sind erhellt...

Schwester, wenn du den Kranz lieber in Silber und Weiß haben willst, so soll es mir auch recht sein!" Ursulas Hand schob sich bittend in die der Schwester.Ich Habs gar nicht verdient, daß das Schicksal so gut zu mir ist. Aber ich wills mir verdienen. Wir wollen uns lieb haben, ja? Im­mer! Das Leben ist so kurz. Nur die Liebe kann den Tod überwinden, nur wenn wir lieben, dürfen wir eingehen zur Weihnacht, und die Wochen der Adventszeit sind unsere Vorbereitung."

Advent erblüht...

Es ist bestimmt kein Irrtum: die Stadt hat ein anderes Gesicht! Es sind nicht die Schaufenster, die voll ersten weih­nachtlichen Zaubers sind, die der Kinderwelt buchstäblich die Sterne auf die Erde holen und einen blauen Zauber­himmel über einer Märchenwelt au-spannen. Nein, die Ädventsstimmung liegt in den Gesichtern der Menschen, die auf einmal die Geschäftigkeit des Werktages vergessen ha­ben und weihnachtliche Gedanken hegen.

Sollt« man das denn den Menschen nicht ansehen, wenn ihre Gedanken um den einen Pol kreisen, andern eine Freude zu bereiten? Denn das ist doch wirklich der Gedanke eines jeden in diesen Vorweihnachtswochen. Im Veschenken- wollen findet dieser Gedanke seinen greifbaren Ausdruck, und wenn die Straßen schwarz von Menschen sind, so leitet diese alle der eine Wunsch: das Weihnachtsfest so zu ge­stalten, daß es denen, die sie lieb haben, eine Freude ist. Wärme und Güte strahlen von den Menschen aus, die ganze Atmosphäre ist eine andere, als sie an den gewöhnlichen Ta­gen des Jahres ist, wenn jeder, der da fremd und kühl an dem andern vorbeigeht, nur an sich selber denkt.

Jetzt sehen wir auf einmal überall Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit. Ein altes Mütterchen kann nicht über einen verkehrsreichen Platz kommen. Auf einmal umfaßt ein star­ker Mann sie von hinten, hebt sie auf die Arme, trägt sie hinüber.Meine Mutter hat mich oft genug so über die Straße getragen, warum sollte ich es Ihnen nicht auch ein­mal tun!" wehrt er ihren halbverlegenen Dank ab. In den Bahnen macht man bereitwillig Platz für die Frauen mit unwahrscheinlich großen Paketen, mit einem stillen Lächeln hört man auf das Geplauder der Kinder, diebeim Weih­nachtsmann waren" und nun voll unendlicher Wünsche und erfüllt von Weihnachtsträumen sind.

Schade, schade, daß es nicht immer Advent bleiben kann! Die Menschen sind so nett und so liebenswert, wenn sie so warm und hilfsbereit, so gütig und so ...menschlich" sind! Wenn sie selber wüßten, wie gut ihnen diese warmen Gedan­ken zu Gesicht stehen, so würden sie vielleicht die Adoents- stimmung weit über Weihnachten hinaus ausdehnen!

An harter Selbstzucht ist Güte zerschellt.

^ Advent erblühte aus der kalten Welt. E. H.

Nikolaus der Kinderfreund

In den letzten Wochen vor dem Weihnachtsfest werde die Tage immer kürzer, die Nächte immer geheimnisvolle Ein süßer Duft von Mandeln und Gewürzen durchzieht da Haus, und die Kinder haben rote Backen und glänzend Augen. Manche Schränke sind plötzlich verschlossen, du bunte Wollfäden, Holzspäne oder Stoffreste verraten di heimlichen Werkstätten, die sich das Christkind gern eir richtet.

Jedes Fest wirft seinen Schimmer voraus. Der Vorläust des Weihnachtsfestes ist der 6. Dezember, der Nikolaustag Die weißbärtige Gestalt des Heiligen, der trotz seiner Rn der gute freund aller Kinder ist, entstammt einer Legend die sich um den Bischof Nikolaus von Myra sponn, der 3( n. Ehr. m Kleinasien lebte. Seit dem 9. Jahrhundert fii "^^s"an seinen Namen im christlichen Kalender verzeichne

Wenn der Nikolaus kommen soll, sind die Kinder i M^ser Erwartung; denn man weiß ja nicht, ob der gu etwa von seiner Rute Gebrauch machen möchte. Nik «rus berichtet dem Weihnachtsmann alles, was er gesehc schließlich hat man doch im Laufe eines Jahr, "^ verbrochen... Wenn er aber auch zuerst finst, greift er doch bald in seinen großen So und holt Aepfel. Nüsse und Lebkuchen hervor.

dreimal wuchtig an die Tür klopft, ist der gros gekommen. Dann tritt ein alter Mann Herei: Kapuze über dem Kopf und langem weiße tragt manchmal dieselben Schuhe wie Onkel Har Md merkwuLdiLLriLeije sogar sin Uhrarmband. Ab,

schließlich muß er auch heute mit dem Tempo der Zeit rech­nen und darf sich nicht zu lange aufhalten. Es sind heute viel mehr Kinder zu besuchen als zu den Zeiten, da er seine irdische Laufbahn begann. Wenn er mit sichtbaren Bewei­sen des Fleißes und mit schönen Versen erfreut wird, läßt er sich bald umstimmen. Dann packt er manchmal sogar mehr aus, als den Kindern zugedacht ist und läßt sich sogar die Hand geben. Die Sprüchlein und Gedichte, mit denen man ihn ehrenvoll empfängt, sind in einzelnen Gegeno.n verschieden. In Niedersachsen singen die Kinder:

Lieber, guter Nikolaus,

Sieh doch nicht so böse aus,

Stecke Deine Rute ein,

ich will auch immer artig sein.

Nicht immer bekommen die Kinder Knecht Ruprechts Vor­boten zu sehen. Es ist vielfach Sitte, daß die Schuhe vor Las Fenster oder auf die Türschwelle gestellt werden. In

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der Nacht, wenn alles schläft, kommt dann der alte Kinder- freund und beschert ihnen seine Gaben. Früher stellte man die Schuhe sogar auf den Herd, denn man meinte, der Ni­kolaus käme durch den Schornstein, um zu sehen, ob es im Hause auch ordentlich zuginge. Deshalb hängen die Kinder in England die Strümpfe, in die recht viel hineingeht, an den Kamin. Am Morgen sind sie meistens prall gefüllt, und der Wunschzettel, den man abends hineingelegt hat, steckt schon lange in der großen Tasche vonSt. Claus", der dem Weihnachtsmann Bericht erstattet und für genaue Ausfüh­rung aller Wünsche sorgt.

Mit dem Nikolaustage sind auch die Lebkuchen untrenn­bar verbunden. In manchen Gegenden bringt der gute Kin­derfreund sogar Andenken an sich selbst mit. Da gibt es morgens zur großen Ueberraschung Pfefferkuchen, auf denen er selbst in Zuckerguß konterfeit ist. Oder man findet süße Medaillen, die ihn mit Rute, Sack und Zipfelmütze dar­stellen. Manchmal formt man ihn sogar als Reiter aus schö­nem würzigen Teig und malt das Gewand u:.d seine Gaben mit bunter Zuckrrfarbe aus.

Die Aepfel, die St. Nikolaus bringt, haben auch ihre be­sondere Bedeutung. Junge Mädchen müssen sie sorgsam spiralförmig abschälen und den Streifen der Schale hinter sich werfen. Daraus kann man dann den Anfangsbuchstaben vom Namen des Zukünftigen lesen. Auch aus den Kernen und der Form des Gehäuses findet man allerlei Weissagun­gen heraus.

Daß sich der 6. Dezember als Nikolaustag in Deutschland schon lange eingebürgert hat, beweist eine Chronik aus Stollberg. Darin heißt es am 6. Dezember 1618:Der Grä­fin zu Händen am St. Nikolaustag sieben Paar Messer, Ta­schen und Pfefferkuchen 15 Er. 4 Pfg., für Bilder, Reuter und anderes Narrenwerk 5 Er. 4 Pfg."

Nikolausdrauche in deutschen Landen

Das Nikolausholz

In einigen Gegenden des süddeutschen Sprachgebietes, wo Sankt Nikolaus jedesmal am Abend vor dem Nikolaustag seinen Umgang hält, hat bei den Kindern das Nikolausholz noch eine gewisse Wichtigkeit. Wenigstens jedes Kind, das schon in die Schule geht, mrß ein Nikolausholz haben. Dies ist ein kleiner Holzstenget, oer vem Sankt Nikolaus ;edes Jahr vorgezeigt wer­den muß. Nach der Befragung der Kinder über Betragen und Lernen in der Schule und nachdem Nikolaus auch die Schulbücher daraufhin durchgesehen hat, ob sie gut imstand gehalten werden, macht Sankt Nikolaus einen Einschnitt in das Holz. Diese Ein­schnitte sind jedoch verschiedener Art und bedeuten auch verschie­denes. Die eine Art des Einschnitts bedeutet, daß Nikolaus mit dem befragten Kmd sehr zufrieden war, ein zweiter bedeutet schon eine geringere Zufriedenheit, und die dritte Art des Einschnitts drückt die völlige Unzufriedenheit von Sankt Nikolaus aus. So wird das Nikolausholz gewissermaßen zu einer Zensur für die ganze Schulzeit, und bei älteren Kindern weiß der Nikolaus immer gleich, wie sie sich in den vorhergegangenen Jahren auf- Lfführt haben. Stößt der Nikolaus auf einen Jungen oder auf ein Mädchen, die schon ein paarmal schlechte Einschnitte hatten und zeigen sie noch keine Besserung, so kann es wohl Vorkommen, daß er solchen Sündern eine große Strafpredigt hält und mit der Rute zuschlägt. Dagegen hält er auch mit Lob und Ge­schenken nicht zurück, wenn er Kinder antrifft, die auf dem Ni­kolausholz günstige Einschnitte vorzeigen können. Kinder, oie zu Ostern des nächsten Jahres in die Schule kommen, müssen Sankt Nikolaus um Aushändigung eines Holzes bitten.

Die Wurstnickel als falsche Nikolause

In Süddeutschland gibt es auch noch Gegenden, wo falsche Nikolause auftreten, junge Burschen, die sich äußerlich wie Sankt Nikolaus aufgeputzt haben, die jedoch den Kindern keine Ge­schenke bringen, sondern selbst etwas ergattern wollen. Sie wissen, aus diesem oder jenem Hose ist vor kurzem Schlachtfest gewesen und beanspruchen nun von diesem Schlachtfest eine Wurst, ein Stück Speck und dergleichen. Dabei werden zunächst allerlei Lieder gesungen. In einem dieser Lieder heißt es:

Ich bin ein armer Sünder.

Hab neunundneunzig Kinder.

Komm ich heim und Hab nicht viel Krieg ich was mit dem Besenstiel.

Die Bauersfrauen können es kaum darauf ankommen lassen, diese Wurstnickel abzuweisen, wenn sie nicht Spottlieder hören wollen, die den Geiz der Bewohner des Hofes laut verkünden und zwar ebenfalls in Knittelversen.

Ntkolauslieder und Nikolaussprüche

Häufig sagen die Kinder am Abend vor dem Nikolaustag den Spruch aus:

Klopf! Klopf! Klopf!

Wer klopft denn an mein Haus?

Klopf! Klopf! Klopf!

der gute Nikolaus!

In der Steiermark sagen die Erwachsenen zu den Kindern:

Wenn einer nicht brav und ordentlich ist.

Nikolaus' Rute sich ihm in den Buckel 'nein frißt.

In Süddeutschland sagt man:

Heute kommt der Nikolaus,

O, Ihr Bösen, welch ein Graus!

Packt die Kinder in den Sack Nimmt die Rute: Klick, Klack, Klack!

Weil vor dem Nikolaustag überall in den Bauerndörfern die Schlachtfeste einsetzen, lautet ein anderer Spruch:

Wann kommt der heilige Sankt Nikolaus.

So sticht man Säulein groß und klein

Und macht draus gute Würst

Und macht auch Braten groß und klein.

In den Niederlanden singen die Kinder:

Sankt Nikolaus, der gute Mann,

Zieht seinen besten Rock sich an,

Er reit't damit nach Amsterdam,

Von Amsterdam nach Spanien.

Holt Aepfel von Oranien (Orangen).

Er gibt den kleinen Kindern was,

Die Großen läßt er laufen,

Die können sich selbst was kaufen.

Sankt Nikolaus kommt mit Begleitung

In einigen Gegenden von Tirol kommt Sankt Nikolaus auch noch mit Begleitung. Im Gebiete der Lech hat Nikolaus selbst keine Rute, dagegen ist der Knecht, der ihn begleitet, mit einer großen Rute versehen. Dieser Nikolausknecht, der dem Teufel ähnlicher sieht als dem alten guten Nikolaus, ist wohl eine letzte Erinnerung an die bösen Geister, an den wilden Jäger und noch andere Gestalten, die nach altgermanischem Volksglauben jedes­mal im Spätherbst, vor der Zeit der Wintersonnenwende, durch die Lüfte zogen, um den Menschen Schaden zuzufllgen. Im Paz- nauntal, ebenfalls in Tirol, macht Sankt Nikolaus seinen Um­gang mit einer Frau, die den Namen Klase trägt. Diese Frau soll niemand anders darstellen als Perchta oder Berchta, eine oltgermanische Göttin, die im süddeutschen Sprachgebiet die Rolle der Frau Holle übernommen hat, wie sie weiter nördlich bekannt ist. Nach altem Volksglauben geht sie jedesmal vor der Winter­sonnenwende durch die Lande, um nach dem Rechten zu sehen und um faule Hausfrauen zu bestrafen. Vereinzelt tritt Niko­laus auch noch mit einem Bären auf. Auch darunter hat man sich wohl einen Dämon der alten Heidenzeit vorzustellen.

Das Nikolausgebäck

Besonders volkstümlich ist das Nikolausgebäck heute noch bei den Ostfriesen im Nordwesten Deutschlands. Dort will jedes Kind am Nikolaustage wenigstens noch einenKlaaskerl" haben. Dies ist ein Gebäck in der Form des Nikolaus auf einem Pferde sitzend. Aber auch noch vielerlei andere Figuren werden zu Ni-' kolausgebäcken geformt, so Backwaren als Adam und Eva, als Schwein. Kuh, Windmühle, Spinnrad, Wiege, Pflug usw. Die Kinder der Ostfriesen sind immer sehr stolz auf ihr Nikolaus­gebäck. Damit es von allen Vorübergehenden gesehen und be­wundert werden kann, kommt es zunächst einige Tage an die Fenster der Wohnungen, bevor es aufgegessen wird. Ein Ni­kolausgebäck wird auch in der Lausitz hergestellt. Das sind die Nikolaus-Kränzel, die Sankt Nikolaus den Kindern heimlich in der Nacht auf die hingestellten Teller legt.

Fritz Lohmar.

Alte Leserin LLü"

Skizze von Hans Wörner

Die alte Uhr in dem traulichen Arbeitszimmer schlug Mitternacht. Die weichen, bronzenen Klänge hallten ge­dämpft durch den Raum, fingen sich in den dichten Wand­vorhängen, in dem knöcheltiefen Teppich, und die von Zi­garrenrauch schwere Luft zwischen den wandhohen Bücher­borden und dem großen Schreibtisch schien von den tiefen Tönen des Uhrgongs mitzuschwingen.

Herbert Wenger sah von feiner Arbeit hoch. Schon wie­der Mitternacht? Sollte man nicht doch vernünftig sein und zu Bett gehen? Herbert Wenger matz den Stoß der erledigten Arbeit und warf einen raschen Blick auf die Ein­tragung in feinem Geschäftstagebuch. Siebenundzwanzig Anfragen hatte der Vriefkastenonkel Herbert Wenger wie­der an einem einzigen Arbeitstage beantwortet. Auf dem Ablagetisch warteten Nachschlagewerke darauf, fortgeräumt zu werden, der Notizblock neben dem Telephon zeigte dis raschen Niederschriften fernmündlich eingeholter Erkundi­gungen. Und eigentlich mußten hier noch sechs Briefe ge­schrieben werden. Rückfragen an das Statistische Landes­amt, die Steuerbehörde, das Vormundschaftsgericht, dis Briefmarkenzentrale, das lettische Konsulat. Sollte man sich noch an die Schreibmaschine setzen?

Der Arbeitende spürte Müdigkeit. Immerhin konnten gerade die Briefe noch warten, bis am Morgen die Schreib­hilfe wieder zur Stelle war. Aber warteten nicht gleicher­weise auch noch sieben Anfragen. Die Arbeit nahm über­hand. Wenn man zurückdachte... Der kleine Anfang da­mals, Briefkastenonkel einer ganz kleinen Zeitung, deren ganzes Wochenpensum an einem Nachmittag zu erledigen war... Dann kam der Anzeiger dazu... im nächsten Jahre gleich vier auswärtige Blätter... Und nun war man Briefkastenonkel für neun Zeitungen, arbeitete jeden Tag von früh um acht bis abends spät... Wie oft wurde es Mitternacht...

Herbert Wenger blätterte gedankenlos in den noch un­erledigten Anfragen. Ungelenke Bleistiftbuchstaben, wie sehr gab er sich gerade den schlichten Ratsuchenden gegenüber immer besondere Mühe, sah den ganzen Menschen hinter den Nöten um einen strittigen Lohn, eine kleine Aufwer­tung, ein geringwertiges Erbe, um irgend so etwas aus der Welt der kleinen Leute, denen er sich immer verbunden gefühlt hatte. Und war es ihm oft nicht vergönnt gewesen, in wirklich ernsthaften Fragen als kluger Mann zu raten und mit diesem Rat entscheidend zu helfen? Herbert Wen­ger fühlte den leisen, bescheidenen Stolz seiner stillen Tä­tigkeit... Raten, Helfen...

Mein Mann ist fleißig und strebsam, er ist ein guter Mensch, trotzdem bin ich nicht glücklich. Er sorgt für mich, er hat es in seinem Beruf zu etwas gebracht, aber gerade seine Arbeit nimmt ihn mir fort. Selten kommt er vor elf Uhr abends von seiner Arbeit frei, immer bin ich allein. Vielleicht werde ich selbst schon reizbar und ungerecht gegen ihn. Was soll ich tun?" Ganz ohne seinen Willen hatte Herhert Wenger unter den unerledigten Anfragen gelesen.