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Nummer 215
Fernruf 479
Samstag den 15. September 1934.
Fernruf 479
69. Jahrgang.
Znternaiisnales Protektorat über Oesterreich?
Italienische Bemühungen in Genf
Während die Franzosen in Genf alle Minen springen lassen, um ihrem sowjetrussischen Freund Litwinow, der, anspruchsvoll und mit scheinbarer Kühle, in Evian sitzt und an den Entwürfen für das ihm zugedachte Einladungsschreiben heru»Kritisiert, den Weg in den Völkerbund zu ebnen, bemühen die Italiener sich eifrig um Oesterreich und das, was sie das österreichische Problem nennen. Die Rede des Bundeskanzlers Schuschnigg lügt zwar für den, der die Sprache des Schwachen zu deuten versteht, das Bemühen erkennen: Oesterreich politisch aus der Problematik, in die es hineingestellt werden soll, bsranszulöjen. Sie klingt in dem Teil, der sich mit den politischen Fragen beschäftigt. sehr stark an die Rede an, die Schuschnigg am 2. September auf dem Berge Jsl bei Innsbruck hielt. Auch damals betonte er wie jetzt, daß Oesterreich da sei, daß man es leben lassen und das Selbstbestimmungsrecht des österreichischen Volkes achten müßte. Wenn er diesmal vor dem internationalen Forum ein Eingehen auf die unglückselige Grenzziehung mit einer Bemerkung, die sachlich immerhin deutlich genug war, ablehnte, hat er auf dem Berge Jsl ganz offen ausgesprochen, daß die Oesterreicher sich die Grenzen ihres Landes nicht ausgesucht hätten und daß sie nicht an ihnen schuld seien. Und er hat damals noch recht eindeutig hinzugefllgt, die Oesterreicher hätten die Aufgabe, darllberzuwachen.daßnichteinFu tz- breit deutschen Bodens dieses Landes irgendwann und irgend jemandem üb e.r antwortet werde. Nur auf wirtschaftlichem Gebiet hat Schuchschnigg jetzt in Genf an die Mitarbeit der anderen Länder appelliert. Oesterreich sei bereit, mit allen Staaten in Unterhandlungen einzutreten, die hierzu geneigt seien.
Wenn aus diesen Ausführungen des österreichischen Bundeskanzlers zweifellos der Wunfch spricht, sich gegen eine neuerdings allzu heftig zutage getretene politische Hilfsbereitschaft gewisser Staaten etwas zu distanzieren, gehen die italienischen Absi chten offenbar in anderer Richtung, und es scheint, daß ihnen dabei die Unterstützung Frankreichs zuteil wird. In den letzten Tagen haben mehrere ausgiebige Unterhaltungen zwischen Schuschnigg, dem italienischen Völkerbundsdelegierten Aloisi, dem französischen Außenminister Barthou und dem englischen Außenminister Simon stattgefunden. Im Anschluß an sie ist von italienischer Seite bestätigt worden, daß in Genf Verhandlungen über einen allgemeinen Unabhängigkeit spa kt zugunsten Oesterreichs geführt würden. Italien bemüht sich, ein Abkommen aller an Oesterreich grenzender und an Oesterreich interessierter (!) Staaten zustande zu bringen, in dem die österreichische Unabhängigkeit noch einmal ausdrücklich proklamiert und garantiert werden soll. Das würde praktisch natürlich die Aufrichtung eines internationalen Protektorats über den Staat bedeuten, der durch seinen leitenden Staatsmann nun schon wiederholt erklären ließ, er wünsche nur, daß man ihn Ie-> ben lasse und das Selbstbestimmungsrecht seiner Bevölkerung. achte. Herr Schuschnigg ist seinerzeit am 2. September aber gerade mit Rücksicht auf diese Bestrebungen noch viel deutlicher geworden. Er erklärte damals, man habe in Oesterreich vollkommenes Verständnis dafür, daß es u. U. notwendig sein könne, Aufsichtsorgane zu bestellen, aber er fügte hinzu : „Meinetwegen in Afrika, aber nicht bei uns in Oesterreich."
Trotz der wiederholten Versicherung Schuschniggs, daß die Existenzmöglichkeit Oesterreichs in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht gegeben sei, werden alle unvoreingenommenen Beobachter dahin übereinstimmen, daß die Schaffung dieses Staats, so wie er aus den Friedensverträgen von 1919 hervorging, auf die Dauer eine Unmöglichkeit ist. Es ist das Verhängnis solcher Gebilde, daß sie mit ihren Sorgen nicht allein gelassen werden, sondern daß jeder direkt oder indirekt an ihnen Jnter- ibr * suhlt, "hne Ratschläge zu erteilen, sich
, - ö" .kümmern und sie, erbeten oder uner-
das ist die^I^^ schützende Fittiche zu nehmen Genau
Juli 1934 in einem von einer ReU>/e„^,üi rikanischer Zeitungen veröffentlichten Frage Oesterreich sei eine gesamleuropä! A wenn Her? Bene >ch vor den außenpolitischen Ausschüssen^« AA* choslowakischen Senats und Abgeordnetenhauses ^^ich^m Marz 1934 sehr ausführlich mit den ,e,ner Meinun?naL bestehenden verschiedenen Lösungsmöglichkeiten des Lste^ reichlichen Problems beschäftigte und dabei, natürlich ohne Oesterreich gefragt zu haben, sich souverän für eine dieser Losungsmoglichkeiten, nämlich die internationale Garantie für die Unabhängigkeit Oe st er- reichs, entschied. Und nicht minder spricht es für die Begriffsverwirrung, die der staatlichen Selbständigkeit Ocher-
Tagesspiegel.
In der Völkerbundsversammlung haben der englische und französische Außenminister sich gegen Polens Haltung in der Minderheitenschutzfrage gewandt und die Verletzung des Versailler Diktats festgestellt.
Der europäische Nationalitätenkongreß in Eens fordert weiteren Minderheitenschutz und wendet sich in einer Erklärung gegen den Abbau der Schutzbestimmungen.
Sowjetrußland soll Mitte nächster Woche seinen Einzug in den Völkerbund halten.
Das Lustschiss „Graf Zeppelin" führte am Freitag eine Fahrt über die Strecken der Reichs-Autobahnen aus, um 27 fremdländischen Vertretern diese Arbeiten zu zeigen.
Im Europaslug sind alle acht deutschen Flieger am Ziel in Warschau gelandet.
Der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg wendet sich dagegen, daß Oesterreich zum Objekt der europäischen Politik gemacht wird.
reichs gegenüber Platz gegriffen yar, wenn vonfugo, ia - w i s ch e-r S.e i t.e Ende .Juli zwar der streng innerpoliti- sche Charakter der damaligen Vorgänge in Oesterreich betont, gleichzeitig aber der Völkerbund als die allein zur Entscheidung über etwaige Maßnahmen berufene Stelle bezeichnet wurde.
Herr Schuschnigg wird wissen, warum er sich der allzu lebhaften Sorge seiner italienischen und französischen Freunde um das von ihm regierte Land ein wenig zu erwehren versucht. Er wird sich der E e n s e r P r o t o k o > l e vom 4. Oktober 1922 erinnern, die ihrem Inhalt nach >>i« wirtschaftliche und finanzielle Wiederaufrichtung Oesterreichs zum Ziel haben sollten und die doch in Wirklichkeit nur eine Knebelung des freien Selbstbestimmungsrechie>; des österreichischen Volkes bedeuten. Dafür, daß die Wiener Regierung diesen Staatsvertrag mit Großbritannien, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei Unterzeichnete, wurde ihr gnädigst die Genehmigung erteilt, Staatsobliga- tionen in Höhe von 650 Millionen Goldkronen auszugeben, für die die Vertragspartner eine gewisse Zins- und Tilgungsgarantie übernahmen, freilich ohne daß dadurch in den Folgejahren die katastrophale Entwicklung des österreichischen Staatsbudgets verhindert werden konnte. Und als man Oesterreich im Juli 1932 im Schoße des Völker-- bundes notgedrungen durch die jogenannie Laujanner Anleihe eine neue wirtschaftliche Hilfe bewilligte, ist sie zunächst aus dem Papier stehen geblieben. Es hat bis ins Jahr 1934 hinein gedauert, ehe die letzten von den einzelnen Staaten übernommenen Tranchen aufgelegt wurden und Oesterreich also in den Genuß oer Anleihe kam, von der es im übrigen praktisch wenig hatte, da es sie größtenteils vertragsmäßig zur Abdeckung anderer internationaler Schulden verwenden mußte.
Die „europäische Lösung", die die italienische Diplomatie jetzt in Genf für die österreichische Frage herbeizuführen sucht, hat, von anderem abgesehen, auf jeden Fall das eine gegen sich, daß sie niemals eine österreichische Lösung sein wird. Die könnte nur durch das österreichische Volk selbst in freier Wahl erfolgen.
Halienische Wne um Oesterreich
Eens, 14. Sept. Die Außenminister der Kleinen Entente haben verschiedene Vorschläge durchgesprochen, die hauptsächlich von italienischer Seite im Hinblick auf die österreichische Frage angeregt worden sind. So hat man über das bereits bekannte Projekt eines „Nicht-Jnterventions-Pak- tes" gesprochen, zu dessen Unterzeichnung auch Deutschland aufgefordert werden soll. Dann wurde angeblich derPlanei - nes Earanriepaktes mit Sanktionen erwogen für den Fall, daß Deutschland den erstgenannten Pakt ablehnen sollte. Bei alledem aber hat es sich, wie betont wird, nur um Anregungen und vorbereitende Besprechungen gehandelt. Parallel mit dieser Besprechung der Außenminister der Kleinen Entente unter sich gehen bekanntlich Verhandlungen, die von den Großmächten mit dem österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg geführt werden. Ueber die Ergebnisse wird strengstes Stillschweigen gewahrt. Man weiß aber, daß die italienische Diplomatie besonders rege ist und in der österreichischen Frage auch in Genf einen maßgebenden Einfluß auszuüben sucht.
Sie PliiischeMUrW in Genf
Zum Minderheitenschutz
Die Erklärungen des polnischen Außenministers Beck über die Beseitigung der praktischen Wirksamkeit der internationalen Mindeeheitenschutzverpflichtungen sür Polen haben in d.en interessierten Genier Kreisen große Bewegung
und zum Teil starke Erregung ausgelöst. In neutralen Kreisen weist man darauf hin, daß noch niemals vor dem Völkerbund in dieser Form ein internationaler Vertrag offen als unwirksam erklärt wurde. Man glaubt, daß damit der ganzen Völkerbundsidee ein schwerer Schlag zugefügt worden ist. Zn neutralen Kreisen wird gleichfalls betont, daß Polens Erklärung mit einer praktischen Revision der Friedensverträge gleichzusetzen sei, da der Minderheitenschutzvertrag ein wesentliches Ergänzungsstück zu den Bestimmungen des Versailler Vertrages über die territorialen Fragen im Osten sei, was nicht nur aus dem Vertrag selbst und der Präambel des Minderheitenschutzvertrages, sondern auch aus der Vorgeschichte des letzteren, insbesondere der Note Llemenceaus an den damaligen polnischen Ministerpräsidenten Paderewski vom 24. Juni 1919 Hervorgehe.
Ueber die Hintergründe der polnischen Erklärung werden die verschiedensten Vermutungen laut. Man fragt sich, warum Polen nicht bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes gewartet hat. Die polnische Erklärung wird dabei dahin ausgelegt, daß Polen nach seinen bisherigen Sondierungen die Annahme seines Antrags auf Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes für völlig ausgeschlossen hielt und deshalb schon jetzt die vorauszusehende Folgerung gezogen hat.
Der Eindruck im Ausland
Paris über Polens Haltung schwer verstimmt Paris, 14. Sept. Die Ausführungen des polnischen Außenministers Beck über die Minderheitenfrage und die gleichzeitig aus London eintreffende Nachricht, daß Oberst Beck durch Vermittlung Edens der englischen Regierung einen abschlägigen Bescheid in der Ostfrage gegeben habe, haben in Paris außerordentlich verstimmt. Der Sonderberichterstatter der Havasagentur schreibt, die Schlußfolgerungen Becks seien eine glatte Kündigung der von Polen cingegangenen Verpflichtungen. Niemand sei auf die einseitige Ablehnung dieser intsr- „«tioiiaicn Verpflichtungen gefaßt gewesen. Das Auftreten Polens habe um so mehr überrascht, als der Minderheitenoertrag von 1919 wie auch der Versailler Vertrag ein reguläres Revisionsverfahren vorsehe. Der Genfer Berichterstatter des „Journal des Debats" sagt, der Vertrag sei durch einen Säbelhieb des Marscholls Pilsudski zersetzt worden. Was wird aus den Verträgen, wenn dem Völkerbund ein Staat in irgend einem Augenblick erklären könne, daß er nicht mehr seine Verpflichtungen anerkenne. Wohin steuere der Völkerbund, wohin die Welt?
Das „Oeuvre" bezeichnet den polnischen Schritt als den Aufstand eines Landes gegen den Völkerbund, dem es überhaupt erst sein Bestehen verdanke. Es sei der schwerste Schlag, den die Genfer Einrichtung bisher erhalten habe: selbst der Austritt Deutschlands sei in den Augen vieler verständlich gewesen. „Jour" fragt, ob man Polen vor den Haager Schiedsgerichtshsf stelle, gegen dessen Urteil es keine Berufung gebe.
Zn England lleberraschung und Besorgnis London, 14. Sept. Das Arbeiterblatt „Daily Herald" spricht von einem polnischen Ultimatum, der liberale „News Lhronicle" von einem gegen den Völkerbund gerichteten Schlag, die „Times" von einem ernsten Schritt, die dem Völkerbund abgeneigte rechtskonservative „Morningpost" läßt sich eine gewisse Befriedigung über diese neueste Entwicklung anmerkeu. Den Standpunkt der britischen Abordnung dürste eine Reutermeldung wiedergeben, in der es u. a. heißt: In Völkerbundskreisen werde Polens Vorgehen sehr ernst beurteilt, denn die Unterzeichnung des Minderheitenvertrages sei eine Vorbedingung für die Gewährung der polnischen Unabhängigkeit gewesen.
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Die Kleine Entente schließt sich dem Standpunkt Becks an Gens, 14. Sept Ueber die Konferenz der Kleinen Entente erfährt man, daß die Vertreter ver drei Staaten den Standpunkt Polens zur Minderheitenfrage, wie er durch den polnischen Außenminister Beck dargelcgt worden ist, sich im Prinzip zu eigen gemacht haben und daß sie sich ausdrücklich gegen jede Diskriminierung eines Staates durch einseitige Mindcrhciteiischutzver- pslichtungen ausgesprochen haben.
Au; dm Völkerbund
Drei Außenminister nehmen zu der Minderheitenerklärung Becks Stellung
Genf, 14 Sept. Zu Beginn der Vollversammlung des Völkerbundes am Freitag begründete der Vertreter Chinas den Anspruch seines Landes auf die Wiederwahl in d'en Völkerbundsrat und befürwortete den Eintritt Sowjetrußlands. Dann sprach als zweiter Redner der englischen Außenminister Simon. Er erwähnte, daß er ursprünglich nicht die Absicht gehabt habe, zu sprechen und er überhaupt der Ueberzeugung sei, daß es „gerade bei der gegenwärtigen ernsten Lage des Völkerbundes" viel wichtiger fei, hier praktische Politik zu machen und sich mit Len vielen ungelösten Fragen und den tatsächlichen Aufgaben dieser Völkerbundstagung zu befassen. Er habe sich aber durch die Erklärung 1» es polnischen Außenminister»,