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Nummer 263 Fernruf 179

Donnerstag den 8. November 1928

Fernruf 179

63. Jahrgang

Sie Eeletzm-rigkeit -es Schlichtungs­verfahrens

Der Lohnkompf in der nordwestöeutschen Eisenindustrie hat die Krise des Schlichtungsverfahrens, über die man sich, trotz ihrer großen Bedeutung, in weiten Kreisen wohl noch keine rechte Vorstellung macht, wieder in den Vordergrund gestellt. Von allgemeinem Interesse sind daher nachstehende , streng sachliche und unparteiische Ausführungen eines Fach-

' manns von Ruf, des Landgerichtsdirektors Denn ecke, des

' Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses Dortmund.

Die Weigerung der nordwestdeutschen Eisenindustrie, den Schiedsspruch trotz der Verbindlichkeitserklärung durch- i zuführen, ist nicht nur ein Kampf um die Lohnhöhe, son-

j dern hauptsächlich um die Aenderung des Schlich-

tungsver fahrens selbst, dessen Anwendung, wie' aus dem Folgenden ersichtlich, in direktem Widerspruch zum Ge­setz steht, also gesetzwi drig ist.

Der Kampf richtet sich gegen 8 2t der A u s h r u n g s- oerordnung, wonach, wenn sich keine Mehrheit für eine Meinung ergibt, die Stimme des Vorsitzenden der Schsichtungskommer allein entscheiden solle; mit andern Worten: in solchen Fällen habe der Vorsitzende allein den Schiedsspruch zu fällen. Das Reichsgesetz der Schlich­tungsordnung bestimmt in 8 5, daß nach vergeblichem Einigungsversuch des Vorsitzenden eine Schlichtungs k a m- m er durch Zuziehung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmer­beisitzern zu bilden, daß die Sache vor dieser Kammer zu verhandeln ustd von der Kammer, wie es ausdrücklich heißt, ein Vorschlag für den Abschluß einer Gesamtvereinbarung zu machen ist. In Uebereinstimmung mit dem Preßgesetz l will das Gesetz also hier eine Kollegialverfas­sung zur Fällung des Schiedsspruchs. Wenn Reichs­arbeitsminister Wissell in den Nachverhandlunqen des vorliegenden Lohnkampfes seine Verbindlichkeits- erklärung mit der Behauptung begründete, nach jener Ausführungsverordnung sei jahrelang verfahren worden, so ist dies nicht beweiskräftig, denn eine Aus­führungsverordnung muß sich selbstver- ! stündlich im Rahmen der im Gesetz selbst ge-

i gebenen Grundsätze holten, sonst ist sie unge-

setzlich, und sie wird auch durch jahrelange Anwendung ! nicht gesetzlicher.

Die Bestimmung jener Ausführungsverordnung, daß der Vorsitzende allein zu entscheiden habe, bedeutet aber auch eine Aenderung des ganden Systems der , Schlich tungsoronung überhaupt. Man hat sie > offenbar getroffen, weil man ein Schlichtungsverfahren ohne Abschluß durch einen Schiedsspruch vermeiden wollte.

! Die Meinung war dabei, daß, wenn weder die Parteien der I Gesamtvereinbarung noch die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Schlichtungskammer zu einer Eini­gung miteinander oder mit dem Vorsitzenden kommen, es dmn Sache des Vorsitzenden als Vertreters des Staats sei, eine Lohnregelung durch eine Gesamtverein­barung zu ermöglichen, die unter Umständen erzwungen wird. Das ist bekanntich der Gedanke des Lohnamts- jystems, wie es namentlich in Australien besteht und sich übrigens als vollkommen undurchführbar erwiesen hat.

Von diesem Lohnamtssystem unterscheidet sich das Schlichtungssystem dahin, daß die Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen Aufgabe der Arbeit- , nehmer-und Arbeitgeberverbände ist, der Staat ! nur Hilfe zum Abschluß solcher Gesamtvereinbarungen

! leisten soll. Man kann aber nicht mehr von einer Hilfe-

! leistuna sprechen, wenn auch die Vertreter der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, die sich an dieser Hilfeleistung beteiligen § sollen, den Schiedsspruch sämtlich nicht gewollt haben, der nur dem Willensentschluß des Vertreters des Staats entspricht, und diese Entscheidung dann hinterher zum A wangsvertrag, womöglich gegen den ausge- i sprochenen Willen beider Tarifparteien,

! erhoben wird. Wohl kann man bei einem Zwangsvertrag, der auf einem Mehrheitsschiedsspruch beruht, immer noch davon reden, daß auch bei diesen Arbeitsbedin­gungen die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer mitgewirkt haben, auf keinen Fall aber bei einem Schieds­spruch des Vorsitzenden allein. Die fragliche Ausführungs­verordnung widerspricht also auch insofern dem Schlichtungs­gesetz, als'sie den Uebergang zum Lohnamtssystem l bedeutet, mindestens ermöglicht. Sie i st also aus die- ' se n zw ei Gründen un gülti g. l Daraus folgt, daß auch ein Schiedsspruch, der auf Grund dieser Bestimmung gefällt ist, und die auf einem sol- j «hen Schiedsspruch beruhende Verbindlicherklärung I nichtig ist, und keine einen Arbeitskampf beendende Ge- i jamtvereinbarung herbeiführm ka'm. Er kann und muß

> vor den Gerichten für ungültig ertlärt werden. Denn der Grundsatz, daß die Gerichte die Art des Zustandekommens

j einer gerichtlichen oder verwaltungsrechtlichen Entscheidung

> nick! nachzuprüsen haben weil der Gang der Beratung und i Abstimmung im Jnterc e der Unabhängigkeit geheim

bleiben muß, kann hier keine Anwendung finden. Es 1 findest sich hier nicht darum, ob der Spruch.des Schlich».

lagessviegel

Dr. Skresemann erstakkeke am Mittwoch dem Reichs­präsidenten Vortrag über auswärtige Fragen.

Die polnifch-likauifchen Verständigungsverhandlungen, die in Königsberg stakkfanden, sind wieder einmal als aussichts­los abgebrochen worden. Polen will das geraubte Wilna, die Hauptstadt Litauens, nicht mehr herausgeben, und Litauen will nicht daraus verzichten.

tungsausschussesin orünungsmüßiger Welse", Das heißt unter Beachtung der Verfahr ungsvorschriften, zustande gekommen ist, sondern ob überhaupt ein Spruch des Schlichtungsausschusses selbst vorliegt oder nur der Spruch eines nach den gesetzlichen Bestimmungen gar nicht zuständigen Or­gans, nämlich des Schlichters oder Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses allein. Die Zulässigkeit einer Prü­fung verwalkungsrechtlicher Verfügungen und Entscheidun­gen durch die Gerichte in dieser Hinsicht ist aber vom Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannt.

Würde in dem anhängigen Verfahren der Schiedsspruch a s diesen Gründen für nichtig erklärt, so würde damit e ne Bestimmung beseitigt, die. wenn vielleicht auch nicht die einzige, doch eine derHauptursachen für die Mängel

des heutigen Schlichtungswesens ist. Denn in den meisten großen Lohnkämpfen der letzten Jahre beruhte der Schieds­spruch nur auf der Stimme des Vorsitzenden allein. Nicht nur die Tarifparteien als solche, sondern auch ihre Vertreter in der Schlichtungskammer haben sich der Verantwortung für die Beilegung des Arbeitskampfes entzogen; sie.konnten dies, weil eben der Vorsitzende auf alle Fälle einen Schiedsspruch fällen und damit allein die Verantwortung übernehmen mußte. Ebenso konnten die Tarifparteien sich jeder wirklichen Verhandlung, die doch in mehr oder weniger Nachgeben in der einen oder anderen Hinsicht besteht, entziehen. Wissen die Tarifparteien, daß ein Schiedsspruch nur mit Stimmenmehrheit zu­stande kommen kann, so werden sie von Anfang an geneig­ter sein, keinen übertriebenen Standpunkt einzunehmen.

Die verfehlte Methode

Eine andere Frage ist es natürlich, ob es von den Arbeit­gebern wohlgetan war, mehr als 200 000 Arbeiter zu ent­lassen. So wenig zweifelhaft es sein kann, daß die Zurück­führung des Schlichtungswesens auf seine gesetzliche Grundlage im beiderseitigen Interesse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelegen ist und wenn man auch das Bestreben auf eine Aenderung des Schlichtungswesens verstehen kann, so wird man doch die im gegenwärtigen Lohnkampf vom Arbeitgeberverband an­gewandte Methode nicht billigen können. Zugegeben, daß die Lage der Eisenindustrie unter dem Joch der Dawes- Obligationen und anderer Umstände zurzeit nichts weniger als glänzend ist, so wird man doch sagen müssen, daß es so grober und gefährlicher Mittel nicht bedurft hätte.

Varlamenlsbeginn in England

CushendunsDeukschfreundlichkeik" angeprangert

London. 7. November. Die fünfte und letzte Tagung des egenwärtigen Parlaments wurde gestern durch eine vom König verlesene Thronrede eröffnet. Die Rede erwähnt das englisch-französische Abkommen mit keinem Wort, was man so deutet, daß für das Abkommen ein stilles Begräbnis gewünscht wird, ohne daß die geheimen Abmachungen auf­gehoben werden. Bezüglich des Entschädigungsaus­schusses wird von der Möglichkeit einer vollständigen und endgültigen Lösung gesprochen; es sollen auchVerhand­lungen über die Rheinlandräumung erfolgen". Viel ist es nicht, aber es ist immerhin anzuerkennen, daß die englische Regierung sich in einer Form erklärt, die für ihr künftiges Verhalten bindend ist. Bemerkenswert ist, daß die Thronrede auf diegeschichtliche Freundschaft mit Ja­pan hinweist und daß sie die neue Regierung in China an­zuerkennen beabsichtige.

Von den Fragen, die der Lösung durch Regierung und Parlament harren, ist die wichtigste die noch immer an­wachsende Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeits- losen beträgt zurzeit 1 344200 oder etwa 3,5 v. H. der gesamten Bevölkerung des Landes, und sie ist um 270 168 größer als im Vorjahr. Die Regierung sieht das Heil in einer Verminderung der Steuerlasten der not­leidenden Industrie sowie der Landwirtschaft durch Verbil­ligung der Frachten und Ermäßigung der Kommunal­steuern für beide bis zu 75 v. H.

Der liberaleManchester Guardian" (und die konser­vativeSunday Times") verlangt, England solle die ..Entente" mit Frankreich durch eine Entente mit Amerika ersetzen. Sehr scharf wendet sich das Blatt gegen die un­wahrhastige Beteuerung freundschaftlicher Absichten der Re­gierung gegen Deutschland. Die Behauptung Lord Cus- henduns (der vielfach als Tölpel behandelt wird).

Deutschland sei der T) r i t t e in der ENtenre t^ranr- reich, England und Deutschland) stimme schlecht zu der Tat­sache, daß deutsche Gebiete noch besetzt seien und daß deutsche Bürger von englischen und französischen Besetzungsgerichten bestraft werden, wenn sie deutsche Lieder singen. Trotz solcher Redensarten werde es Cushendun schwer werden, seine innere Feindschaft gegen Deutschland zu verbergen. Es sei noch in aller Gedächtnis, daß er vor vier Jahren gegen die Räumung der ersten Zone (Köln) Einspruch erhob, weil Deutschlandbetrügerischen Bankerott" gemacht bcbe. Er werde niemand glauben machen, daß er aus einem Sau­lus ein Paulus geworden sei. Jedenfalls werde man in Deutschland kein Vertrauen zur enalischen Regierungspolitik bnben, wenn sie von einem Cushendun (in Vertr?< '-g ^hamberlains) geleitet werde.

Ileueste Nachrichten

Der Reichshaushalkplan 1628

Berlin, 7. Nov. Das Reichskabinett bat sich gestern zum neuen Reichshaushaltplan, der einen Fehlbetrag von mehr als 600 Millionen Mark aufweist, im allgemeinen ausgesprochen. Gegen die von Hilferdina geplante Er­höhung der Umsatzsteuer erheben sich starke Bedenken. Wie berlautet, ist die Vorlage des Reichshaushaltvlans und der Deckungsgesetze im Reichstag frühestens anfangs nächsten Jabrs zu erwarten, auch der Nachtragshaushast für das laufende Jahr steht nicht in naher Aussicht.

Von der demokratischen und fosialdemokratif'ben Frak­tion sind Anträge auf Herabsetzung des Stärke- Maiszolls, der seinerzeit von Reichsernährvngsminister Schiele aeschaffen worden ist, eingebracht worden, da der Mais ein Volksnahrungsmittel sei. Der Reichsrat wird sich in seinen am 15. November beginnenden Verhandlungen mit dem Zoll-Ausgleich zwischen Jndustriemais und Mais für Brennereizwecke beschäftigen.

Der deutsche Landwirtfchaftsral zur Handelspolitik

Berlin, 7. Nov. Der ständige Ausschuß des Deutschen Landrvirijchaftsrates hat der Reichsregierung eine Ent­schließung übergeben, in der Getreideübergangszollsätze und die Inkraftsetzung der autonomen Sätze des deutschen Zoll­tarifs gefordert werden. Weiter wird verlangt eine Er­höhung der deutschen Zollsätze für Zucker und die beschleu­nigte Herabsetzung und baldige völlige Aufhebung des Ein» fuhrkontingents für zollfreies Gefrierfleisch.

Die Unterstützung der Ausgesperrten durch die Gewerkschaften

Essen, 7. Nov. Die Unterstützung der im rheinisch-west­fälischen Industriegebiet Ausgesperrten durch die Gewerk­schaften je nach der Vermögenslage des Arbeitnehmers, nach der Zahl der Kinder, ferner nach der Zahl der geklebten Beitragswochen und gezahlten Beiträge schwanken zwischen 2 und 4 Mark täglich. Von den Metallarbeitern sind nur etwa 30 v. H. organisiert. Die 213 000 Ausgefperrten sind aber nicht durchweg Metallarbeiter; es kommen auch Maurer, Schreiner, Modelltischler und andere in den Be­trieben beschäftigte, anderwärts organisierte Leute hinzu, so daß die Gesamtzahl der Organisierten im Prozentsatz etwas steigt.

Am Dienstag haben die Gewerkschaften die Gegenklage beim Arbeitsgericht in Essen eingereicht. Die Gewerkschaften sind vom Arbeitsgericht aufgefordert worden, sich zur Klage­schrift der Arbeitgeber zum 10. d. M. zu äußern.

Der Arbeiterführer des christlichen Metallarbeiterver­bands, Franz Wieder, geriet am Sonntag in einer Ver­sammlung in Duisburg in einer Rede in solche Erregung, daß er bewußtlos zusammenbrach. Sein Zustand ist immer noch sehr bedenklich.

Hoover gewählt

Neuyork, 7. Nov. Die gestrigen Wahlen ergaben einen Sieg des republikanischen Kandidaten hoover mil geradezu überwältigender Mehrheit. Nach der bis jetzt möglichen Feststellung vereinigt hoover von insgesamt 5Z1 Wahl­männerstimmen 467 auf sich, während der demokratische Kandidat Smith es nur auf 64 Stimmen brachte.

Der Sieg Hoovers ist noch bedeutender als derjenige Coolidges, der im Jahr 1924 384 Wahlmännerstimmen er­hielt. Besonders bemerkenswert ist, daß Hoover namentlich viele Stimmen in den Süd st aalen zufielen, die bisher als die Hochburg der Demokraten galten. Am meisten über­rascht, daß Smith, der bisher Regierungsgouverneur des Staats Neuyork war, in Stadt und Staat Neuyork gänzlich durchgefallen ist.

Die Wahlbeteiligung war außerordentlich stark. Vorläufig werden die Gesamtstimmen auf etwa 40 Millionen geschätzt. Namentlich die Frauen haben sich lebhaft an den Wahlen beteiligt; in manchen Bezirken Neuyorks sollen die Frauenstimmen die Männerstimmen um das fünffache übersteigen. Für Hoover scheinen die Farmer, die Kauf­leute, die Frauen und die Deutsch-Amerikaner weit über» wiegend gestimmt zu baden. -