Nr. 236

Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.

98. Jahrgang.

Erscheinungsweise: Smal wöchentlich. Anzeigenpreis: Di« Zeile SO Mk., Familienanzeigen SS Nt. «eklamen SW Mk.X Schlüsselzahl. Auf vammelanzeigen kommt «in Zuschlag von Iw"/«.

Dienstag, Den S. Oktober 1923.

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sspreiS: In der Stadt mit rrägerlohnS60w«0Mk. wöchentl. PoftbezugSpreis 360WW0 Mk. iestellgeld. Einzelnummer 6MOOW Mk. Schluß der Anzeigenannahme 6 Uhr vormittags.

Die Aussprache im Reichstag.

Das neue Kabinett Stresemann gegen die Stimmen der Deutschnationalen, der bayrischen Dolkspartei und der Kommunisten bestätigt.

Die Erklärungen der Parteiführer.

Berlin, 8. Okt. Die heute beginnende Aussprache über die Regierungserklärung wird eingeleitet von dem Sozialdemokra­ten Dr. Breitscheid. Er billigt aus finanziellen Gründen die Aufgabe des passiven Widerstands und bezichtigt Euno und seine Mitarbeiter einer schweren Schuld deshalb, weil sie das deutsche Volk über das Ausmaß der Finanzierung des Ruhrkampfes im Unklaren.ließen. Den deutsch-nationalen Kreisen um Herrn von Hugenberg wirft er vor, daß sie die Fortsetzung der sperrigen Abwehr forderten fast zu ein und demselben Zeitpunkt, wo sie sich gegen neue Steuern auflehnten. Sein Verlangen geht an die Regierung, die Möglichkeit zu einer direkten Verständigung mit Frankreich zu benützen, um damit die Pläne von Stinnes in Be­zug auf Anbahnung wirtschaftlicher Beziehungen mit den Fran­zosen in einem Grade zu durchkreuzen. Dom Reichswehrminister erhofft Breitscheid die baldige Aufhebung der Pressezensur als Gebot des öffentlichen Interesses.Der Feind steht rechts" lautet 'seine Parole und mit Nachdruck verlangt Redner von der Re­gierung ein Einschreiten gegen die von rechts drohende Gefahr. Den bayerischen Ausnahmezustand kennzeichnet er als skanda­lös und völlig unerträglich, gegen den einzugreifen nicht nur die Kommunisten, sondern auch alle diejenigen verpflichtet seien, die es mit der Republik und der Freiheit der Presse ernst meinen. Hinsichtlich der materiellen Abhängigkeit Bayerns vom Reich biete sich der Reichsregierung ein nützliches Machtmittel gegen die bayerische Abtrünnigkeitsbewegung. Weiter müsse einge- »schritten werden gegen die RuhrLergbauunternehmer wegen Miß­achtung des Arbeitszeitgesetzes. Der Vertreter des Zentrums, ^Dr. Bell, ist mit der Verhängung des Ausnahmezustands einver­standen und begrüßt die Zurückhaltung des Reichskanzlers gegen­über Bayern. Der berechtigten Eigenart Bayerns und der üb­rigen süddeutschen Länder müsse auch in kultureller Hinsicht Rech­nung getragen werden. Die Lösung der Währungsfrage hält Bell für dringend notwendig, macht sie aber von der Leistungs­fähigkeit unserer Wirtschaft abhängig. Den Ausführungen des Reichskanzlers über die Beendigung des Ruhrkampfes pflichtet Redner bei und verlangt von Frankreich die Aeutzerung darüber, was Deutschland noch tun soll, um seinen Verständigungswillen zu beweisen. Unter Bekennung des treuen Deutschtums der Rheinländer verlangt Redner Verständnis für deren Eigenart und freiheitliche Gesinnung, sowie weitgehende Fürsorge für die Märtyrer am Rhein. Abg. Graf v. Westarp ruft gleich zu Beginn seiner Ausführungen eine lebhafte Bewegung der Ver­sammlung hervor. Cr findet die Verhandlungen der letzten Woche komisch und der auferstandenen großen Koalition sagt er kurzen Bestand voraus. Ein Dorn im Auge sind ihm die Sozialdemo­kraten und deshalb mutet er der Regierung zu, sich von ihnen loszulösen. Klär und rückhaltlos sei die Opposition seiner Partei gegenüber dieser Regierung. Mit diktatorischen Befugnissen sei sie nur einverstanden, wenn die Ausführung in die Hände von Militärbefehlshahern gelegt werde. Auch im weiteren Verlauf seiner Ausführungen ruft der Abg. Graf Westarp häufig den stürmischen Widerspruch der Linken hervor, so vor allem, als er erklärte, Dr. Hilferding habe als Finanzminister versagt und die Lösung des Währungsproblems verzögert. Jetzt bestehe die große Gefahr, daß das Volk wegen des Mangels einer besseren Wäh­rung kein Brot bekomme und bei vollen Scheuern verhungern müsse. Die Linke steht darin eine Aufreizung der Bauern zur Hungerblockade und macht ihrer Erregung durch entsprechende Zwischenrufe Luft. Weiterhin erklärt der Redner, der Abbruch des passiven Widerstandes sei unvermeidbar gewesen, aber damit hätten auch gleichzeitig alle diplomatischen Beziehungen mit den Einbruchsmächten abgebrochen, alle Leistungen eingestellt und der vertraglose Zustand hergestellt werden müssen. Seine Partei verlange diesen Abbruch mit allen seinen Konsequenzen. Auf einen Zwischenruf des Abg. Ledebour: Sie wollen also den Ein­marsch der Franzosen? entgegnet Abg. Westarp: Mit einem sol­chen Risiko rechnen wir. Was wir dann zu tun haben, darüber will ich mich jetzt nicht äußern. Wer darauf verzichtet, der feindlichen Gewalt entgegenzutreten, der verzichtet auf Rhein und Ruhr. Reichskanzler Dr. Stresemann bedauert die ^Ausführungen des Vorredners und polemisiert gegen die Deutsch- -»ationalen, an denen es gelegen Hab«, die Regierungskrise zu

vermeiden. Sie hätten aber anstatt dessen in das Feuer Hinein­geblesen. Gegen dieselben Steuern, die sie selbst bewilligt hätten, seien sie selbst in Opposition getreten. Von einer marxistischen Vorherrschaft im Kabinett könne nicht gesprochen weiden. Ein Ermächtigungsgesetz hätte ein rein bürgerliches Kabinett nur gegen den Widerspruch der Sozialdemokraten durchsetzen können. Auf den Zwischenruf des Grafen Westarp, daß dann der Reichs­tag hätte aufgelöst werden müssen, erklärte der Kanzler, daß in dieser kritischen Zeit das deutsche Volk unmöglich der Belastungs­probe von Reichstagswahlen ausgesetzt werden könne. Er fuhr fort, daß mit der Aufgabe des passiven Widerstands keineswegs der Kampf um den Rhein aufgegeben sei. Die Ausführungen des Abgeordneten v. Westarp betr. das Recht auf Zurückweisung des deutschen Papiergeldes müßten geradezu katastrophal wirken. Vom ganzen deutschen Volk müsse verlangt werden, daß es sich mit Papiergeld bezahlen lasse. Die schwierige Lage der Land­wirtschaft gebe ihr kein Recht, die Parole zu seiner Zurückwei­sung auszugeben. Die Währungsfrage habe die Regierung mit größtem Eifer bearbeitet, aber es sei vielleicht ein Fehler ge­wesen, zuviel Sachverständige zu hören, die selbst untereinander nicht einig gewesen seien. Gegenüber dem Verlangen des Grafen Westarp, den Versailler Vertrag als nichtig zu erklären, weist der Kanzler.darauf .hin, doß.Ltestr-.Vertrog gegenüber der von. französischer Seite betriebenen Gewaltpolitik einen gewissen Schutz für Deutschland bedeute. Man müsse die Verhandlungen abwarten und dürfe nicht vorher erklären, daß dabei nichts herauskommen werde. Abg. Scholz (D. V.P.) verteidigt die Verhängung des Ausnahmezustandes sowohl in Bayern als im Reich und verlangt die Beseitigung der Demobilmachungsverord­nungen, sowie Befreiung des Außenhandels von allen Fesseln. Hauptsache aber sei die Hebung der Arbeitsintensität. Abg. Dr. Koch-Weser (Dem.) begrüßt die Wiederkehr der großen Koalition und betont, daß die Zahlung in Papiergeld nicht zu- rückgewiesen werden dürfe. Der Großgrundbesitz scheine es aller­dings nicht zu gebrauchen, ein Beweis, daß er steuerlich geschont sei. Bezüglich des Ausnahmezustandes müsse bald eine Klärung zwischen dem Reich und Bayern eintreten. Die freie Wirtschaft müsse erweitert werden unter Bekämpfung des Kartellunwesens. Der Achtstundentag sei für seine Partei lediglich eine Frage der Erhaltung des Staats und der Wirtschaft. Die Qualitätsarbeit müsse wieder besser bezahlt werden. Abg. Leicht (Bayr. Volksp.) billigt den Ausnahmezustand im Reich und in Bayern, erklärt jedoch, daß seine Partei nicht für das Ermächtigungs­gesetz stimmen könne, dessen Schlußsatz ein Unikum in der Gesetz­gebung darstelle. Von der Regierung erwarte sie, daß sie bei allem Verständigungswillen die Grenze nicht überschreite, die durch die Hoheitsrechte an Rhein und Ruhr gezogen sei. In­zwischen ist von den Regierungsparteien folgender Vertrauens­antrag eingebracht worden: Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregicrung und spricht ihr das Vertrauen aus. Nach Ausführungen des Abg. Remmele (Komm.), in denen er den Reichskanzler heftig angrcift und behauptet, daß mit Hilfe des Ermächtigungsgesetzes das Proletariat niedergeschlagen werden solle, beantragen die Kommunisten namentliche Abstimmung über das Vertrauensvotum. Seitens der Sozialdemokraten ist folgender Antrag eingegangcn: Der Reichstag billigt die Rechtsaussassung der Reichsregicrung über die bayerische Aus­nahmeverordnung und erwartet, daß die Reichsregierung bal­digst eine Klärung der Lage herbeiführt. Abg. v. Gräfe (Deutschvölk.) stellt fest, daß er den Reichskanzler nicht deshalb angreife, weil er den aussichtslosen Widerstand aufgebe, sondern weil er wie seine Vorgänger diesen nicht organisiert habe, viel­mehr die Schuldknechtschaft an die goldene Internationale noch über Versailles hinaus ausdehnen wolle. Reichsminister des Innern Soll mann legt namens der Reichsregierung gegen die in der jüngsten Rede Poincares gegen die deutschen Polizei­beamten in Düsseldorf erhobene Beschuldigung, daß sie ein grau­sames Gemetzel begangen hätten, schärfste Verwahrung ein. Nach den deutschen Berichten hätten die deutschen Polizisten erst zur Waffe gegriffen, als auf sie geschossen worden fei. Reichs­wehrminister Dr. Eetzler bezeichnet di« Vorgänge in Küstrin als Komödie, dankt der Reichswehr und betont, daß er die ihm anvertraute Macht rücksichtslos einsetzen und daß die für die ^Presse erlassene Zensurverordnung ft. Kürze aufgehoben werde.

Neueste Nachrichten.

In einfacher Abstimmung hat gestern der Reichstag nach scharfen Auseinandersetzungen das Programm des neue« Kabinetts ^ Stresemann mit großer Mehrheit genehmigt.

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Im Reichsrat wurde das Ermächtigungsgesetz, wonach die Reichs­regicrung aus finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Ge­biet außerordentliche Maßnahmen zu treffen ermächtigt wir-, mit der nötigen Zweidrittelmehrheit angenommen.

Im Ruhrgebiet haben die Bergbauindustriellen von der Arbei­terschaft die Verlängerung der Schichte« ans Stunden (unter Tag) verlangt; die Arbeiterorganisationen lehnen diese Forderung ab.

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Die Reichskonferenz -er englischen Dominions läßt nach der Red« des Außenministers nichts von sich höre». Rur die englische Presse meldet, daß die Konferenz unbedingt etwas Positives zur Reparationsfrge beschließen werde. Auf den Schwindel wird man hoffentlich in Berlin nicht mehr herrinfalle«.

Nachdem die Abgeordneten Ledebour (llnabh.) u. Bartz (Komm.) dem Kabinett Stresemann schärfsten Kampf angesagt und das Ermächtigungsgesetz abgelehnt haben, wird das Ver­trauensvotum für die Regierung in einfacher Abstimmung gegen die Stimmen der Deutschnationalen, der Bayerischen Volkspartei und der Kommunisten angenommen. Die namentlichen Anträge auf Beseitigung des Ausnahmezustandes im Reich und in Bayern werden abgelehnt. Der sozialdemokratische Antrag, in dem die Rechtsauffassung der^Reichsregierung über die bayerische Aus­nahmeverordnung gebilligt wird, wird angenommen. Um

Uhr nachts vertagt sich das Haus auf Dienstag nachmittag 2 Uhr mit der Tagesordnung: Ermächtigungsgesetz, Währungs- bank, kleine Vorlagen.

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Bayern mit der Rede Stresemanns zufrieden.

Berlin, 8. Okt. Wie der Münchener Korrespondent derDos- sischen Zeitung" erfährt, ist die vorgestrige Rede des Reichskanz­lers von der bayerischen Staatsregierung mit Befriedigung aus­genommen worden. Die dortigen zuständigen Stellen erklärten ihm, daß jetzt noch nichts gesagt werden könne, wann die baye­rische Ansnahmeverordnung aufgehoben werden könne.

Das Ermächtigungsgesetz

im Reichsrat angenommen.

Berlin» 8. Okt. Der Reichsrat hat in seiner heutigen Sitzung dem Ermächtigungsgesetz bei Stimmenthaltung Thüringens zugestimmt. Dagegen stimmten außer einigen preußischen Provinzen Bayern »nd Mecklenburg-Ctrelitz. Der Gesetzentwurf ist also vom Reichsrat mit der erforder­lichen Zweidrittelmehrheit angenommen. Das Ermächti­gungsgesetz, das von der heutigen Tagesordnung des Reichstags vorläufig abgesetzt wurde, hat folgenden Wort­laut: § 1. Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maß- nahmen zu treffen, welche ste auf finanziellem, wirtschaft­lichem und sozialem Gebiet für erforderlich und dringend erachtet. Dabei kann von den Grundrechten der Reichsver­fassung abgewichen werden. Die Ermächtigung erstreckt sich nicht auf die Regelung der Arbeitszeit und auf Einschrän­kung der Unterstützungen der Versicherten und Rentenemp­fänger der Sozialversicherung, sowie der Kleinrentner. 8 2. Die erlassenen Verordnungen sind dem Reichstag und dem Reichsrat unverzüglich zur Kenntnis zu bringen. Eie sind auf Verlangen des Reichstags sofort aufzuheben. 8 3. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage der Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem Wechsel der derzeitigen Reichs- regierung oder ihrer parteipolitischen Zusammensetzung, spätestens aber am 31. März 1924 außer Kraft.

Die Gurgelabfchneider an der Arbeit.

Berlin, 8. Okt. DerV. Z. am Mittag" wird aus ame­rikanischen diplomatischen Kreisen in Berlin mitgeteilt, doß mehrere führende Bankgruppen in den Der. Staaten ihr Interesse an der Reform der deutschen Währung den Ber­liner zuständigen Stellen mitgeteilt hätten. Sie erklärt:.: sich, dem Blatt zufolge, unter bestimmten Voraussetzungen bereit, sich mit Kapital an der Errichtung der Währungs- Hank zu beteiligen. (Anm. des WTB.: Bei der hiesigen amerikanische» Botschaft ftegt keine Bestätigung dieser Mel- .dung vor.) -