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Nummer 79
ffsvnruf 178
Lieber Versailles als Genf
^ Die „Dummen der Abrüstung" s
Je länger man von den peinlichen Haarspaltereien hört, die gegenwärtig unter dem Namen „Tagung des Vorbereitungsausschusses für die Abrüstungskonferenz" mehrere hundert Diplomaten und militärische Sachverständige, eine große Zahl von Völkerbundsbeamten und Journalisten aller Länder, sowie ein Dutzend neugierige Amerikanerinnen in dem berühmten Galasäal des Völkerbundsgebäudes' langweilen, um so tiefer sinken, so schreibt der Köln. Ztg. ihr Genfer Berichterstatter, die Hoffnungen, die man auf die Wirksamkeit der neuen Genfer Abrüstvngspläne und die Ehrlichkeit der Nachkriegsdiplomatie setzen mochte. Niemand, außer den entwaffneten Deutschen und ein paar wohlmeinenden früheren Neutralen, will die Abrüstung, und diese wenigen Ehrlichen haben nichts, aber auch gar nichts zu sagen. Maßgebend sind Frankreich, das nicht das Geringste von seiner den europäischen Erdteil beherrschenden Militärmacht aufgeben will, Italien, das nur das eine Ziel verfolgt, sich alle Möglichkeiten offen zu lassen, um einst ebenso stark wie Frankreich zu werden, England, das gern die Festlandmächte geschwächt, seine Seeherrschaft und seine militärische Stellung aber in den feinen Kolonialinteressen unterworfenen Ländern ungebrochen sehen will, die Vereinigten Staaten, denen Europa gleichgültig ist, und der Block des Kleinen Verbands mit Polen, der sich in Mitteleuropa, im Balkan, im Baltikum und dem deutsch-russischen Zwischengebiet alle Trümpfe zu erhalten gedenkt. Von irgend einem Vertrauen in die friedenerhaltende Wirksamkeit des Völkerbunds ist bei all diesen Rüstungsinteressen kein Hauch zu spüren. Jeder will so stark bleiben wie möglich. Das Ziel ist dabei schon lange nicht mehr die Abrüstung auf das mit der nationalen Sicherheit vereinbare Mindestmaß, von dem Artikel 8 der Völkerbundssatzung spricht, auf den man sich angeblich stützt, ja nicht einmal eine Rüstungsbeschränkung, sondern nur die Erhaltung der Rüstung. Um diese wirklich kühne Irreführung der öffentlichen Meinung aller Länder zu verschleiern, hat man einfach einen Strich durch die gesamten bisherigen Abrüstungsredensarten gezogen und das öde Schlagwort aus der Vorkriegszeit, in der es einen Sinn hatte, nämlich das Wort von dem „W ettrüsten" herausgeholt. Dieses „Wettrüsten" wird jetzt als die „Hauptgefahr" bezeichnet und ihm allein hat daher der Kampf zu gelten. Den „Stillstand des Wettrüstens" will man dann den Völkern als den großen Triumph der Völkerbundsberatungen hinstellen.
Wo ist aber dieses Wettrüsten? Und zwischen wem und wem wird eigentlich wettgerüstet? Vor dem Krieg, zur Zeit der Haager Friedenskonferenzen, kamen in erster Linie in Frage als Bewerber im Wettrüsten: Frankreich, England, Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Rußland.. Deutschland hat heute 100 000 Mann, untersteht dem Vbrüstungszwang des Versailler Vertrags und einem „Jn- vestigationsrecht" des Völkerbundsrats. Oesterreich-Ungarn besteht nicht mehr. Rußland ist keine Gefahr im internationalen Wettrüsten: es hat weder eine Flotte, die der englischen Furcht einflößen, nach ein Heer, das auf europäischen Schauvlätzen avftreten kann. Die großen Militärmächte der Welt sind heute Frankreich, Italien, England, Japan, die Vereinigten Staaten und hinter ihnen marschiert das ehrgeizige Polen und der Kleine Verband. Fast alle diese Staaten sind mehr oder weniger miteinander verbündet und durch zum Teil dem Geist der Völkerbundssatzung widersprechende Militäbabkommen miteinander verkettet. Ihre etwaigen Gegner sind entwaffnet und kriegsunfähig. Wenn diese Staaten also die Abrüstung woll'ten, könnte das nur die eigene Abrüstung sein! Und wenn es ein Wett- rüsten gibt, so doch nur unter den Staaten desselben Sieger- blocks! Wen täuscht man also in Genf? In Versailles, Trianon, St. Germain und Nevilly sind die Mittelmächte entwaffnet oder zerstört worden. Was Artikel 8 der Völker- bnndssatzüng, was die Einleitung zum Teil 5 des Versailler Vertrags, was die Schlußakte des Vertrags von Locarno verlangen, ist die A b r ü st u n g der Sieger. Das Ergebnis all der bisherigen Beratungen, an dem sich wohl nichts mehr ändern wird, ist aber dieses, daß die Sieger unter keinen Umständen abrüsten.
Welches ist dabei nun die Rolle des Besiegten? Der Pole Sokal hat in einer seiner Reden das Wort von den „Dummen der Abrüstung" gebraucht. So wie die Dinge sich bis jetzt gestalten, sind wir Deutsche diese Dummen. Man hat uns, noch ehe wir dem Völkerbund angehörten, zur Teilnahme an den „Abrüstunqsarbeiten" ^siheladen. Seitdem gehören wir dem Völkerbvndsrat außerdem als Ständiges Mitglied an, sitzen damit in der obersten Aufsichtsbehörde für die Durchführung des Ab- sMiungswerks, und dürften doch wohl auch daraus gewisse «chiusse ziehen. Was geht aber in Wahrheit vor? Der Hranzose Paul Boncour, ein Sozialist, schreibt in seinen Abkommensentwurf einen Artikel 29 hinein, der besagt, daß die Staaten, d-ren Rüstungen bereits durch andere Verträge geregelt sind, keinerlei Rechte aus dem neuen Abkommen ziehen. Lord Robert Cecil, ein alter 2lbrüstunasvorkäM"ser der Genfer Redeschlachten, gibt uns auf eine Frage zur Antwort, daß die Zahlen aus dem Ver-
Dienstag den 5. April 1927
Tagessyiegel
Der ungarische Ministerpräsident Graf Bethlsn ist ln Rom eingeiroffsn. — Ungarn möchte von Italien ein Freihafengebiet in Fiume (früher ungarisch) erhalten.
In Rumänien ist der Kampf um die Regentschaft bei einem Ableben des Königs erneut entbrannt
Die Aufstandsbewegung in Spanisch-Marokko nimmt immer größeren Umfang an.
lailler Vertrag in vie mustungstaveuen oes neuen Av- kommen einzutragen sind. Der belgisch? Sozialist d e Brouckere erklärt dem Grafen Bernstorff, daß man sich nicht auf den Versailler Vertrag berufen dürfe, der hier nicht hergehöre, und daß er übrigens kein Vorbild sei, weil die deutsche Abröstung schleckt gewesen sei und man es jetzt besser machen müsse. Besser, ja, für die andern, aber nicht für uns! Macht man sich über die Deutschen in Genf lustig? Sollen wir wirklich ernsthaft wochenlang an einer Vorkonferenz und später an der Konferenz selbst teilnehmen für nichts und wieder nichts? Ein Abrüstungsabkommen. das in keiner Weise die Abrüstung, der wir unterzogen sind, auch nur grundsätzlich auf die all- oemeine Abrüstung überträat, das weder die allgemeine Wehrpflicht der andern antastet noch gewisse Geschützkaliber und bestimmte Waffen verbietet oder zahlenmäßig beschränkt, das weder das Recht zur Befestigung irgend eines andern Staats antastet, noch entmilitarisierte Zonen schafft, das nicht dieselbe Ueberwachung wie für uns vorsieht, nichts, aber auch nichts von den Regeln auf die andern anwendet, die man auf uns anwandte, uns aber anderseits auch nichts erlassen will? Ein Abrüstungsabkommen, von dem man uns sagt, daß es uns nichts angehe, das wir nur mitberaten, mitunterzeichnen, nachher mitfeiern dürfen, wenn alles fertig ist, das uns aber keine Rechte gibt? Ist es so, dann sind wir die Dummen der Abrüstung, und nehmen wir das hin, so haben wir es verdient, die Dummen zu sein.
Was will man denn eigentlich von uns in Genf? Daß wir dabei sind! Daß wir durch Mitwirkung und Mitunterzeichnung das Abkommen, das nichts an dem Rüstungsstand der Welt im großen ändern wird und ändern soll, sanktionieren und unfern Rechtsanspruch damit verlieren! Kann dies das Ziel einer deutschen Politik sein? Man begreift, daß die Franzosen, daß die Italiener und die Polen, auch andere noch, den Trug, den man in Genf vorbereitet, als „Abrüstungswerk" begrüßen werden, weil er ihnen ihre Heere und Schiffe läßt. Aber wir? Was haben wir für einen Grund, nicht unerschrocken ehrlich zu bleiben und immer wieder zu erklären: das ist nicht Abrüstung, das ist nicht die Einhaltung der Versprechungen von Versailles, Genf und Locarno. Das ist S ch w i n d e l. Die andern Großmächte wissen das ebenso gut wie wir, vor allem die Großmächte, die wie Frankreich und Italien, obgleich sie in einer Front sitzen, die eigentlichenGegner sind. Alle wissen sie es. Aber sie sind einander verbunden durch die Gemeinschaftlichkeit der Gerüsteten, die gerüstet bleiben wollen, ind nicht ihre Gemeinschafter. Man hat uns aus der Geschäft der an Rüstungen interessierten Staaten ausge - stoßen. Das ist vielleicht schade, das hat aber auch sein Gutes. WirdürfendieWahrheit sagen, und diese unsere einzige Waffe, die uns nicht aus der Hand genommen wurde, sollen wir jetzt hingeben?
Kann ein internationales Abkommen abgeschlossen werden zwischen Staaten, von denen die einen alle Rechte habenunddieandernkeine? Ein „Abrüstungsabkommen", bei dem die einen in dis Tabellen hineinschreiben dürfen, was sie und ob sie etwas von ihrem Rüstzug hergeben wollen, und die andern nicht? Ein „Abrüstungsabkommen", das sich für die einen auf dem Gutdünken der eigenen Sicherheit aufbaut, während wir abgerüstet sind und bleiben sollen nicht nach der Beurteilung unserer Sicherheit, sondern ebenfalls nach dem Gutdünken der Sicherheit der andern. Immer die Sicherheit der andern, niemals die unsere! Diesen Grundsatz kann man, wenn man ihn für klug hält, in einem Friedensdiktat niederlegen, aber nicht in einem internationalen Vertrag unter gleichberechtigten „Hohen vertragschließenden Teilen".
Dies sind die Gedankengänge, die einen Deutschen, der den Genfer Verhandlungen beiwohnt, gegenwärtig beherrschen müssen. Sie bedeuten keine Auflehnung gegen die bestehenden Verträge, aber sie laufen in die schärfste Ableh- nung eines neuen Vertrags hinaus, in dem wir die Dummen, weil die Rechtlosen, weil ohne jeden Vorteil, ohne jede Gleichberechtigung, sein müßten. Was wir er- tragen können und ertragen müssen, das ist dies: Weiterleben unter dem Regime der Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags, den wir Hinnahmen und der in den Augen jedes rechtlich Denkenden eine ungeheuerliche Urige- rechtigkeit ist. Was wir aber nicht ertragen können, wäre: die zwangsweise einseitige Abrüstung unseres Landes in u« durch Unterzeichnung eines unwahren Abrüstungsabkommens als rechtmäßigen Bestandteil einer internationalen freiwillig aus uns genommenen Verein barung hinzu»
Wir
mein
Fernruf 178
62. Iahrgastz
nehmen, in ver vie anvern gerüstet vieiven. Urei willig, durch selbstgewollte Unterschrift, anerkennen, daß es zweierlei Recht gibt, eines für Franzosen, Italiener, Polen und die anderen, und eines für uns; freiwillig anerkennen, daß unsere Entwaffnung von Versailles für die Sicherheit der andern notwendig ist, daß alle andern Völker.über sich selbst entscheiden, wir aber andere über uns bestimmen lassen müssen, das ist undenkbar. Man muß in Gens, unter den Gutmeinenden wissen, welches unsere Lage ist und welche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten bestehen. Nur so ist etwas an dem äußerst gefährdeten Werk zu retten. Viele gute Deutsche glaubten, als man die Erörterung der Abrüstung begann, Gens sei besser als Versailles. Geht es aber so weiter wie bisher bei dem Abrüstungswerk, so muß für uns gelten: Lieber Versailles als Genf. Lieber der unverhüllte ungerechte Zwang, dem man sich ungern, aber ehrlich beugt, als der freiwillige Verzicht und die freiwillige Entehrung.
Neue Nachrichten
Der Bismarcklag in Hannover
Hannover, 4. April. Am 2. und 3. April fand in der Stadthalle der aus dem ganzen Reich stark besuchte erste Bismarck-Tag unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters von Duisburg, Reichsminister a. D. Dr. I a r r e s, statt. Dr. Jarres erklärte, das Nationaldenkmal solle alle Deutschen in alle Zeiten mahnen einig zu sein. Reichstagsabgeordneter Minister a. D. Wall ras führte aus, Vas am Rhein zu errichtende Bismarck-Nationaldenkmal solle nicht nur ein Zeichen der Dankbarkeit sein, sondern es soll dem deutschen Volk vor Augen führen, was es kann, wenn es sich von der politischen Erbsünde der Germanen, der Zwietracht, loslöst. Wenn Deutschland heute kein Genius mehr führe, so müsse jeder Deutsche an seinem bescheidenen Teil zu ersetzen suchen, was der Genius Bismarck in sich vereinte: Wille, Kraft, Maßhaltung und Treue bis an das Ende. — Reichsminister Dr. Stresemann erklärte, die Reichsregierung kehre mit ihrem Herzen und mit starkem Willen hinter dem Gedanken des Bismarck-Nationaldenkmals am Rhein; es könne aber nur auf freiem Boden stehen. Ueber alles Trennende weg müssen die Deutschen sich die Hände reichen, damit das zerschlagene Deutschland wieder in die Höhe komme.
Reichspräsident v. Hindenburg hatte an die Tagung folgendes Schreiben gerichtet: In alter und unwandelbarer Verehrung für den ersten Kanzler weile ich in diesen Tagen in treuem Gedenken bei Ihnen und begleite den der Erinnerung an die große Persönlichkeit Bismarcks und seines Werks gewidmeten ersten Deutschen Bismarcktag mit meinen besten Wünschen. Mit Genugtuung habe ich davon Kenntnis genommen, daß diese Gedächtnisfeier von Führern und Vertretern der verschiedensten politischen Richtungen und Weltanschauungen gemeinsam veranstaltet wird; ich freue mich dessen ganz besonders und möchte darin ein gutes Vorzeichen dafür sehen, daß sich bald alle Deutschen im e h r e n d e n G e d ä ch t n i s B i s m a r ck s und damit zugleich! meinheitlichenWillen, seingroßes hi st orischesErbezuerhalten, zusammenfinde n mögen.
Den Abschluß der Tagung bildete eine große Kundgebung an der Bismarcksäule in der großen Masch.
Dr. Stresemann über ein Konkordat >
Berlin, 4. April. In der gestrigen Sitzung der 5. KEür- tagung der Deutschen Volkspartei gab Dr. Stresemann, nach seiner Stellung zu dem vielbesprochenen Konkordat befragt, eine ausweichende Antwort. Er habe sich niemals dahin ausgesprochen, daß er den Abschluß eines Konkordats mit der Kurie aus außenpolitischen Gründen für unerwünscht halte. Nachdem Bayern ein Konkordat mit Rom abgeschlossen habe, handle es sich darum: Reichskonkordat oder Landeskonkordat? Es" sei seltsam, daß die Demokratische Partei im Reich sich an dem Sturm gegen das Konkordat beteilige, während es doch ihre Aufgabe wäre, eine solche reaktionäre Entschließung des demokratischen Kultusminister Becker in Preußen zu verhindern. Wenn erst Bayern u n ü P r e u ß e n ein Konkordat hätten, dann werde wenig mehr zurückgenommen werden können. Cs sei fraglich, ob die Deutsche Volkspartei stark genug sei, dies« Entwicklung zu verhindern.
Der Prozeß Stresemann—Müller
Plauen i. V.« 4. April. sin der heutigen Verhandlung der Privatlrlagesache Dr. Skresemanns gegen Rechtsanwalt Müller beantragte der Verteidiger die Ladung des sächsischen Ministerpräsidenten Heldk und die Heranziehung der Skeuerakken zum Beweis, daß der aus Polen stammende Direktor und Haupkinhaber der „Evaporator- Gesellschaft", die seinerzeit die Millionen-Munikions-Schie- bungen nach Polen gemacht haben soll, im siahr 1919 20 einen Gewinn der Gesellschaft von mehr als 16 Millionen Mark zu verzeichnen gehabt habe, und daß Dr. Stresemann mit 38 000 Mark aii dieser Gesellschaft beteiligt gewtzser, sei. sin