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Nsrnmer 74

Fesumf 179

Mittwoch den 3V. März 1927

Fernruf 179

62. Jahrgang

Der ruhende Pol

Christentum und Okkultismus

Heutzutage sind Spiritismus und Okkultismus nicht nur salonfähig, sondern auch wissenschaftsfähig gewor­den. Wir haben z. B. die Parapsychologie und wir können uns also auf allerhand lehrreiche Ergebnisse ge­faßt machen. Immerhin mag es vorläufig erlaubt sein, noch nicht gleich bei jedem umfallenden Stuhl an einen rumo­renden Poltergeist zu denken. Und wem die Rede eines hysterischen Weibleins, das sich Medium nennt, noch nicht gleich höchste Offenbarungsweisheit ist, der wird hoffentlich nicht ohne weiteres aus dem Kreis der Gebildeten verbannt werden. Der sogenannte gesunde Menschenverstand steht ja heute bei manchen Leuten nicht allzu hoch im Preis, aber ganz läßt er sich nun doch einmal nicht ausschalten. Und mit seiner Hilfe mag man beispielsweise erinnern, wie einst das berühmte Medium Rothe in Berlin in etwa 1800 Sitzungen an die 23 000 Menschen mit ihrenBlumengrüßen aus dem Jenseits" an der Nase herumsührte, denn besagte Blümlein stammten nicht aus dem Jenseits, sondern vom Blumentisch der Frau Rothe oder aus einem Berliner Blu­mengeschäft, und 153 Blumen fand man bei der Entlarvung dieser Dame in deren Unterrockl Natürlich kann nicht alles alsSchwindel" erklärt werden. Es gibt Dinge zwi­lchen Himmel und Erde, für dis man nach nicht eine rest­lose Erklärung hat. Aber es gab schon so manchesunerklär- liche Etwas", so manchenunerklärbaren Rest", wofür sich später doch die Erklärung fand. Also nicht gleich auf jeden neumodischen Spuk hineinfallen, der in der Regel doch nur eine Anleihe beim urältesten Aberglauben ist!

Gerade die Nachkriegszeit war und ist geeignet, auch dem schaurigsten Unsinn mit offenen Armen zu begegnen. Eine seelische Verarmung und Verwilderung hat Platz gegriffen, wie man so etwas schon lange nicht in der Geschichte der Kultur oder vielmehr Unkultur aufzuweisen hatte. Innerlich halt- und wurzellos geworden, taumeln diese Auch-Modernen aus einem Anlehnungsbedürfnis in das andere. Und wenn nur irgend etwas nachMystik" oder so Aehnktchem aussieht, dann schnappen diese armen Seelchen danach, und es gibt nichts so Blödsinniges und Abliegendes, das nicht mit Wonne binunteroeichluckt würde. So kann es denn aar nicht anders fein, der Weizen auch des wirklich tollsten Okkultismus blüht, und wir haben einen Beleg mehr für die traurige Tatsache, daß wir in einer beträchtlichen Verfallszeit leben.

Doch diese Angelegenheit ist nicht damit erledigt, daß man sie mit ein paar spöttischen oder seufzenden Bemerkungen beiseite schiebt. Wer tiefer sieht, der fühlt bald, daß hier ein gewisses irrendes Verlangen nach Religion vorhanden ist. Mochte es genug Leute geben, die da mein­ten, mit der großen Umwälzung nach dem Krieg habe die Sterbestunde der Religion geschlagen, so hat eben die tat­sächliche Weiterentwicklung gezeigt, daß diese Meinung ein törichter Wakm gewesen ist. Mit dem bloßen schönen Ge­danken der Humanität, der Edelmenschlichkeit, war und ist nicht viel zu machen. Auch der Moralunterricht hat's nicht geschafft. Trotz aller Propaganda hat man ihn den Eltern­herzen nicht näherbringen können. Es hat sich aber :in sehr starker christlicher Elternwille bekundet, der unzweideutig einen christlichen Religionsunterricht verlangt.

Auch der neuzeitliche Mensch verlangt, sofern er etwas Höheres sucht, schließlich noch Religion. Nur läuft da oft das wunderliche Mißverständnis mit, daß man durchaus eine neue oder moderne Religion haben müsse oder gewisser­maßen erfinden könne. Man verkennt die Bedeutung einer großen geschichtlichen Religion. Das hängt damit, zusammen, daß heute und das ist auch wieder eine Vergleichserschei­nung überhaupt das Verständnis für das geschichtlich Gewordene stark ins Wanken aeraten ist. So 'ommt es auch, daß manche Sekten und Grüppchen, besonders auch die mit okkultistischen und theosophischen Einschlägen, gar keine Ahnung haben oder nicht haben wollen, daß sie An- leihen bei altem und ältestem religionsgeschichtlichen Gut machen. Vieles dieser Art, das sich als Modernstes aufspielt, ist ja weiter nichts als bruchstückartige Entlehnung vom fernen Osten her, ein bißchen zurechtgemacht, vielleicht ein bißchen sensationell aufgebauscht, und, wie gesagt, etliche fallen ja immer hinein.

Dem gegenüber wirkt es erfrischend, daß immer noch ein warmherziges praktisches Christentum auf dem Plan ist, das in seiner großartigen Einfachheit die Menschen über den Tag bebt, und das sie doch zugleich tüchtig machen möchte, die Pflicht des Tages treulich zu erfüllen.

eue Nachrichten

Zum Streik von königshorst

Berlin, 29. März. Der Kirchengemeinderat von Königs­horst, Kreis Osthavelland, hat einstimmig beschlossen, eine außerordentlich scharfe Beschwerde gegen die Berliner Polizei an den preußischen Minister des Innern wegen des unerhört rücksichtslosen Vorgehens gegen den Ortepfarrer Schn vor gerichtet, der durch ein Schreiben des Mords an seinem Schwager bezichtet worden war. Dis ganze Gemeinde hat

Tagesspiegel

Rach einer Mitteilung des Reichsjuslizministeriums ist von der Vorbereitung eines Amncsttegesetzes anläßlich des 80. Geburtstags des Reichspräsidenten (2. Oktobers nichts bekannt.

Die Jentrumsfraktion hat im preußischen Landtag den Antrag eingebracht, die preußische Regierung solle sich im Reichsrat mit allen Mitteln dafür einsehen, daß die Titel- Verleihung, die in der Weimarer Verfassung (Artikel 109s verboten wird, im ganzen Reich wieder eingesührt werde.

Dem Reichskagsabgeordneken Dr. Mittelmann (D. Vp.), der au? Einladung von sudetendeutscher Seite am 1. April in Karlsbad eine Bismarckrede halten wollte, ist die Einreise­erlaubnis in die Tschechoslowakei verweigert worden.

Der Pariser Botschasterrat hat beschlossen, daß die mili­tärische Äeberwachungskommjssion in Ungarn am 31. März ihre Tätigkeit einstellt. Die kommissionsmikglieder werden jedoch zumAbschluß gewisser Arbeiten" bis 15. Mai in Ungarn bleiben.

sich zu einer Ehrenerklärung für den Pfarrer zuiammen- getan und entrüsteten Einspruch dagegen erhoben, daß Pfarrer Schnoor drei Wochen lang durch die Berliner Polizei verhört worden sei.

Der Oberkirchenrat und das Konsistorium der Provirtz Brandenburg haben es, wie die T.R. meldet, vorläufig ab­gelehnt, dem Antrag des Berliner Polizeipräsidiums ent­sprechend gegen Generalsuperintendent O. Dibelius vorzu­gehen.

Berichtigend teilt der Ev. Preßverband für Brandenburgj mit, daß l). Dibelius zu der Angelegenheit erst nach dem Gottesdienst in Königshorst Stellung genommen und daß er nicht davon gesprochen habe, der Schwager des Pfarrers sei von Kommunisten erschossen worden. Der Generalsuper­intendent habe dagegen die Erwartung ausgesprochen, daß die Polizei das Amt des Geistlichen respektiere, und er habe gegen die Form des Vorgehens der Polizei EinspruH erhoben.

Sachsen fühlt sich benachteiligt

Berlin, 29. März. Der sächsische Ministerpräsident Hel dt traf in Berlin ein und führte beim Reichskanzler Beschwerde über die für Sachsen ungünstige Verteilung der Umsatzsteuer bei der Neuregelung des Finanzausgleichs, ferner werde Sachsen durch die Streichung des Südflügels vom Mittellandkanal und der Beiträge für das Hygiene­museum in Dresden benachteiligt. Heldt brachte noch eine Reihe von Wünschen vor, insbesondere wegen des Ausbaus des Flughafens in Leipzig. Der Reichskanzler wies auf die großen Schwierigkeiten hin, den Reichshaushalt dieses Äahr ins Gleichgewicht zu bringen, versprach aber, die vorgebrach­ten Beschwerden in der nächsten Kabinettssitzung zur Sprache zu bringen. Den Beschwerden Sachsens wollen sich Preußen, Braunschweig und Anhalt anschließen.

Ausnahmerechl m Ostoberschlesien?

Berlin. 29. März. Bei einer großen Versammlung der Korfanty-Partei in Kaktowih machte, wie die Blätter Mit­teilen, der polnische Abgeordnete Ianihky Mitteilung von einem Gesetz, das in allernächster Zeit im schlesischen Sejm eingebracht werden soll und dessen Annahme sicher sei. Dies Gesetz solle den schlesischen Wojwoden zur Auflösung der­jenigen Stadtverwaltungen ermächtigen, deren Mitgliedern ein Verhalten zeigen, das mit den «Staatsbürgerpflichten unvereinbar" sei. Das Gesetz richtet sich gegen die als Er­gebnis der letzten Gemeindewahlen ln den Städten Ost-Ober­schlesiens gewählten deutschen Mehrheiten in den Stadt­parlamenten.

Der Kaiser will nicht nach Deutschland zurückkehren

Hamburg, 29. März. DieHamburger Nachrichten" sind von dem Leiter des Internationalen Nachrichtendienstes, Sir Dunbar Weyer, der einen Besuch im Schloß Doorn machte, zu der bestimmten Erklärung ermächtigt: Weder vom Kaiser noch von seiner Gemahlin noch vom Hof­marschallamt sind irgendwelche Schritte unternommen wor­den, die auf eine Rückkehr des Kaisers nach Deutschland abzielen würden. Der Kaiser hat auch nicht im geringsten die Absicht, solche Schritte zu unternehmen, da er es für unvereinbar mit seiner Würde und nach der ganzen Natur der Dinge für unmöglich hält, unter der jetzigen Staatsform um die Erlaubnis zur Rück­kehr nach Deutschland zu bitten. Wenn ein Teil - des Berliner Palais in Stand gesetzt wird, so geschieht dies, damit das Palais der Kaiserin Hermine jeweils bei Reisen nach Deutschland als Ort für kurzen Ruheausenthalt in Berlin dienen kann.

Kommunistischer Ueberfall

Leipzig. 29. März. In Mark-Kleeberg bei Leipzig wur­den acht Stahlhelmleute auf dem Weg zu einer Gedenkfeier von 100 Rotfrontkämpfern überfallen und durch Messerstiche und Stockhiebe ernstlich verletzt. Als das Leipziger Ueberfall- kommando eintraf, waren die Täter entflohen.

Französische Gereiztheit gegen Mussolini

Paris, 28. März. In Paris ist man allgemein der An­sicht, wenn es zu einem Zusammenstoß zwischen Südslawien und Italien Käme, würde Frankreich gegen Italien marschieren lassen müssen. Das «Journal des Debüts" schreibt, Mussolini habe Italien in eine derartig schwie­rige und geradezu betrügerische Finanz- und Wirtschaftspolitik Hineingetrieben, daß er mit einem militärischen Abenteuer sich einen Aus­weg suchen müsse. Die italienische Industrie sieht im Kampf mit sehr großen Schwierigkeiten. Eine englische oder ameri­kanische Anleihe folge auf die andere. Die in London und In Neuyork eingegangenen Anleihen seien durch Hypotheken verpfändet. Wenn diese Anleihepolikik in einem derarti­gen Tempo fortgesetzt wird, so werden bald alle nationalen Reichtümer Italiens von angelsächsischen Finanzleu­ten abhängig sein. Die italienischen Großindustriellen, die noch vor kurzem die Geldgeber des Faszismus waren, zeigen sich sehr beunruhigt. Sie fragen sich, ob die jetzige Herr­schaft, die sie aus Furcht vor dem Kommunismus ermutigt hatten, sie nicht dem Ruin, der allgemeinen Arbeitslosig­keit und Arbeiterunruhen entgegenführe. Mussolini unter­stütze einige Firmen dadurch, daß er bei ihnen Kriegs­material bestellt. Er zwinge die Banken, diesen Firmen das entsprechende Kapital zu liefern. Er verfüge über das Ban­kenkapital wie über ein nationales Eigentum. Die Bilanzen seien gefälscht. Eine Gesellschaft der Metallindustrie schulde u. a. dem Banco Commerciale, dem Credito Italiano usw. mehrere hundert Millionen. Es gebe eine Menge anderer Beispiele. Ein Streit mit Südslawien, eine militärische Be­setzung Albaniens solle wohl als Gegenmittel gegen dies« Zugeständnisse dienen.

Gefälschte Schriftstücke

Paris, 29. März. Nach einer Meldung aus Washing­ton soll durch Beamte des Auswärtigen Amts festgestsllt worden sein, daß dem mexikanischen Präsidenten Calles gefälschte amtliche Schriftstücke mit der Unterschrift des Staatssekretärs Kelloggin die Hände gespielt worden sein, in denen die mexikanische Regierung heftig angegriffen wurde. Es sei eine Untersuchung eingeleitet worden, um die Urheber der Fälschung, die eine gefährliche Verschärfung der Beziehungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten bezweckten, festzustellen. -

Gegen das Achkslunden-Abkommen

London, 29. März. Der Nationalverband der britischen Fabrikanten ersucht in einer Denkschrift die Negierung dringlich, dem Achtstunden - Abkommen von Washington nicht beizukreten wegen der schweren Schädigungen, die Englands Handel und Industrie von dem Abkommen ZU erwarten hätte. Mindestens solle von der Unterzeichnung so lange Abstand genommen werden, bis der Beitritt alletz Länder ganz sicher sei. . ^

Line Londoner Nachwahl

London, 29. März. Bei der Nachwahl in North South- wark, einem Arbeiterviertel von London, erhielt der Libe­rale Strauß 7334, der Arbeiterparteiler Jsaacs 6167 und der Unabhängige Hadenguest 3215 Stimmen.

Die Lage in China

London, 29. März. Der frühere englische Vizek-onsul in Kanton, Wallis, ist von Schanghai nach Nanking gesandt worden, um den an der dortigen britischen Niederlassung angerichteten Schaden, für den England Ersatz fordern wird, festzustellen und die Frage zu untersuchen, von weicher Seit« die Plünderungen ausgegangen sind. General Tschang- kalschek behauptet, daß die zurückweichenden Nordtruppen mit städtischem Gesindel die Ausschreitungen verübt habe.

Vier britische Kriegsschiffe und einige Flugzeuge haben die chinesischen Seeräubernester an der Biasbucht zum zwei­ten Mal beschossen. 150 Häuser sollen zerstört und gegen 2000 Chinesen getötet worden sein. Auch 50 chinesische Dschunken (Segelboote) wurden versenkt.

Der japanische Leutnant Kameo Araki, der die Wache im japanischen Konsulat in Nanking während des Angriffs auf das Konsulat befehligte und der dem japanischen Admiral in Schanghai über die Ereignisse in Nanking Bericht erstattete, versuchte Selbstmord zu verüben. Cr hatte nicht den Befehl gegeben, auf die das Konsulat angreifenden Chinesen zu schießen, weil er befürchtete, daß dies zur Niedermetzelung aller Konsularbeamten und ihrer Familien führen würd«.

Verlängerung der Arbeitszeit für das Schweizer Berkehrs­personal

Bern, 29. März. Der Ständerat hak die Vorlage be­treffend Verlängerung der,Arbeitszeit für einen Teil -es Verkehrspersonals um eine'halbe Stunde täglich angenom­men und die vom Bundesrak als Ausgleich vorgeschlagene Gehaltszulage bis zu 200 Franken abgelehnk.

Deutscher Reichstag

Berlin, 29. März.

Aba. Dr. Bredt (W. V.) betont die Bedeutung des