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Nummer 132
Fernruf 179
Wildbad, Mittwoch, den 10. Juni 1925
Fernruf 179
6V. Jahrgang
Arbeit und Bildung
Vom Weltkrieg Häven viele die Läuterung der deutschen Seele, die echte Volksgemeinschaft, einen vernünftigen Ausgleich der Stände und damit, wenn nicht das Ende, so doch die Milderung des Klassenkampfes erwartet. Aehnliche Troftgedanken ließen uns die Niederlage ertragen. Aber die reinigenden Wirkungen sind, worauf die „Leipziger Neuesten Nachrichten" mit Recht Hinweisen, zunächst noch nicht eingetreten. Wildes Ringen ums tägliche Brot, durch die allgemeine Verarmung erzwungen, hat es einstweilen zu keiner inneren Erneuerung und keiner sozialen Aussöhnung kommen lassen.
Vor dem Krieg hatte man oft Besitz und Arbeit voneinander geschieden und dabei immer von „Bildung und Besitz" wie von etwas eng Zusammenhängendem gesprochen. Aber die Bildung ist heute zum großen Teil proletarisiert, steht zumeist in, wenn auch ungewollt, schroffem Gegensatz zum Besitz. Am verheerendsten hat die Inflation gerade unseren geistig hochstehenden, geistige Güter anstrebenden Mittelstand getroffen. Jene wertvolle Schicht, die unentbehrliche Kulturarbeit freudig leistet und darüber den Gelderwerb vernachlässigt, den sie nicht als höchstes Menschheitsziel anzuerkennen vermag. Diese für das Staatsleben entscheidend wichtige Schicht ist, was ihr« Macht und ihren politisch-sozialen Einfluß anbelangt, beinahe völlig beseitigt. Allmählich kommen wir zwar aus dem Gröbsten heraus. Jeder Enieignete des Mittelstands sucht irgendwie Unterschlupf, unbekümmert um stolze Vergangenheit und starke Erinnerung. Mit ihm wetteifert das Heer der verarmten Kmnrentner, der entlassenen Beamten, der überflüssig geworden Angestellten. Sie alle drängen in Tätigkeiten hinein, die, geht's gut, wengistens ein Leben von der Hand in den Mund ermöglichen. Daß dabei viele notwendige Geistes- arebit liegen bleibt, von der doch unser Zukunftsfortschritt abhängt, ist leider unvermeidlich.
Und doch — in dieser Anpassungsfähigkeit unserer Gebildeten liegt eine trotzige Kraft, die, münzbar gemacht und recht verwendet, den Wiederaufstieg wesentlich erleichtern kann. Hunderttausende haben bewiesen, daß sie in ihrem früheren Berus nicht einseitig erstarrt find, sondern auch außerhalb des gewohnten alten Kreises die Hände tüchtig zu regen verstehen. Es ist eine harte Schule, in die sie hineingezwungen sind, aber dem Aufbaugedanken nützt sie fraglos.
Der Klassenkampf hat an Erbitterung zunächst nichts ver- loren, schon weil ein Teil der Arbeiterschaft immer noch, trotz der eindringlichen Lehren des Tags, nur den Handarbeiter als wirklich Schaffenden gelten lassen will. Für die Dauer wird diese parteimäßige Befangenheit des Blicks jedoch nicht bestehen bleiben können. Daß wir Arbeitenden sämtlich schwere Last tragen, ja, daß die geistigen Berufe, genommen, oft schlechter daran sind, als diS industrielle Arbeiterschaft, bestreitet schon heute kein Ehrlicher. In den Betrieben lernt man sich allmählich kennen und verstehen. Törichte Mißachtung, an der es früher auf beiden Seiten nicht gefehlt hat, schwindet. Der redliche Eifer, das praktische Verständnis des Werkstudenten, sind so wenig ohne Wirkung geblieben, wie die gewissenhafte Pflichterfüllung der Umgesattelten. Denn aus den Familien des ge- blödsten MrttelstcinÄs dem bürgerlichen Errverbsleüen jetzt viel junge Kraft zu, die früher an gelehrte. Berufe ge- setzt worden ist. Es langt einfach nicht zum Studium. Die jetzt bevorzugten Berufe des Alltags aber können aus der aufgespeicherten Intelligenz und Energie dieses Nachwuchses Hohen Nutzen ziehen. Sie werden durch das neue Blut nicht allein neue Machtmittel gewinnen, nein auch, was ebenso wichtig ist, im äußeren Ansehen, in der allgemeinen Wertschätzung steigen. Benutzt dann auch der gehobene Arbeiter die bequeme Möglichkeit, seine Sprößlinge in die Mittelschicht hineinzubringen, was bei einiger Zähigkeit, einigem Opfermut durchführbar ist, dann findet sich hier etwas wie die schaffensfrohe Blüte der Nation zusammen. Unserem Handwerk, unserer Kleinindustrie, unseren kleinen Unternehmungen überhaupt hat es zu lange am elektrisierenden Zuzug gefehlt. Es war Mode, jede erkannte Intelligenz auf die Universität zu schicken. Wenn sich hier die Ansichten wandeln, tüchtige Burschen in die Produktion eintreten, haben bestehende Gegensätze keine Berechtigung und Gültigkeit mehr. Auch segensreiche politische Folgen können hier nicht ausbleiben, weil dann die Arbeiter aller Stände, die Bildung und die Arbeit, notgedrungen zusammenstehen und mit vereinter Kraft jenem volkswirtschaftlich schädlichen Besitz entgegenwirken werden, der sich barmatisch betätigt. Nur auf Umwegen gelangt die Entwicklung zum Ziel. Niederlagen und Armut helfen uns vorwärts, wenn wir wollen. Was das deutsche Volk braucht, um aus eigener Kraft emporkommen zu können, ist in der Hauptsache nicht fremdes Leihkapital, sondern die eigene Entschlösse n heit, sein gesamtes Können eisern in den Dien st der neuen Wirtschaftsidee zu st eilen. Arbeit adelt, jede Arbeit adelt und wird adlig, wenn der rechte, tüchtige Mann sie anfaßt. Diese „Ethisierung des Schaffens" ist eine im Hindenburg-Programzn enthaltene
Tagesspiegel
Der Reichslag bewilligte den Bau eines kleinen Kreuzers und fünf großer Torpedoboote sowie das Gehall des Reichswehrministers gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und Kommunisten. Der komm. Mßtrauensankrag wurde abgelehnt.
Zm Reichskagsausschuß für Auswärtiges machte Reichsminister Dr. Stresemann längere Ausführungen über dir Auffassung der Reichsregierung von der Enkwaffnungsnote des Pariser Botschafterraks.
In Belgien ist endlich ein katholisch-sozialistisches Kabinett unter Poullet zustandegekommen.
Dis französische Regierung hak den bisherigen österreichischen Gesandten in Paris, Eichhoff, der nun abberufen worden ist. zum Großritker der Ehrenlegion ernannt. —
Forderung. Sie entspringt im letzten Grund der Not, aber wohl uns, wenn wir aus der Not eine Tugend zu machen verstehen.
Streik oder Aufstand in China?
Darüber gehen die Ansichten weit auseinander. Und wenn auch der chinesische Gesandte in Berlin amtlich die Versicherung gab, die Vorgänge in Schanghai seien rein sozialer Art und keine nationale, fremdenfeindliche Bewegung, so scheinen die neuesten Ereignisse in Schanghai und in Peking nicht dazu zu stimmen. Allerdings war der Anfang ein A r b e i t e r st r e i k in chen japanischen Baumwollfabriken der Millionenstadt Schanghai. Auch die chinesischen Arbeiter beanspruchen für sich das Streikrecht, und im Grunde kann kein vernünftiger Mensch ihnen das übelnehmen. Aber zu den 100 000 streikenden Arbeitern kamen 10 000 Studenten in Schanghai und fast ebenso- viele in Peking und halfen wacker mit. Studenten heißt man in China nicht bloß unsere eigentlichen HochschAer, sondern auch andere Schüler höherer Lehranstalten und alle, die mit ihnen mehr oder weniger Zusammenhängen. Und bei diesen jungen Leuten handelt« es sich nicht um einen Lohnstreit, sondern um eine nationale Bewegung, die bewußt gegen das Ausland, und zwar in erster Linie gegen die Japaner, dann auch gegen die Engländer und zuletzt gegen die Europäer überhaupt gerichtet ist, und die in'-Av bekannte Forderung sich zuspitzt: „China den Chinesen!"
Es iit bekanntlich noch gar nicht so lange her, Laß dieses uralte Kulturvolk seine Tore der westlichen Kultur geöffnet hat -Japan, der stammverwandte Jnselnachbar, hatte dies auch getan, nur in einem rascheren Tempo und mit größerer Empfänglichkeit als das schwerfälligere, durch natürliche Schranken abgeschlossene Riesenreich „der Mitte". Gegenwärtig sind es nicht weniger als 58 Dertragshäfen, die den Völkern der Erde, wie sie nun auch heißen mögen, offen- stehen.
Natürlich haben die Japaner und die Engländer von dieser Vergünstigung den weitestgehenden Gebrauch gemacht. Namentlich die Japaner, die sich nach und nach daran gewöhnt hatten, sich als die berufenen Vormünder ihrer bezopften Anverwandten jenseits des aekben Meers aufzuspielen. Mit der Zeit aber wurde diese Vormundschaft dem Mündel lästig, und neuerdings will er offenbar sich ihr ganz entziehen. Die Zunahme des japanischen Handels machte in der Folgezeit den Chinesen ernstliche Sargen. Während 1912 der Anteil Englands an der Seeschiffahrt an Chinas Gestaden 38,1 und Japans nur 19,9 Millionen Tonnen betrug, waren die entsprechenden Zahlen für 1921 42,3 und 31,7. Das sagt genug.
Wir Deutsche freilich muffen heute in China wieder ganz vorne anfangen. 1913 waren wir mit 6,2 Millionen Tonnen Frankreich, Norwegen und sogar den Vereinigten Staaten voraus. Wir bezogen damals aus China für 130 Millionen Mark (hauptsächlich Sesam, Häute, Tee, Borsten, Bohnen, Eier und Eigelb) und lieferten dorthin für 123 Millionen Waren, hauptsächlich Farbstoffe, Nähnadeln, Eisen- und andere Metallwaren. Mit dem Raub von Kiau- tschou durch Japan ist das alles hinfällig geworden. Aber soviel scheint sicher zu sein, daß wir unter den Fremden immerhin noch, soweit man das überhaupt in China sagen darf, am ehesten wohlgelitten sind.
Was nun die jetzigen Unruhen in Schanghai betrifft, so wird man bei der f r e m de n f ei n d l i ch e n Form, die sie zweifellos angenommen haben, unwillkürlich an den Boxeraufstand 1900 erinnert. Freilich wird amtlicher- feits versichert, daß der Vergleich durchaus unzutreffend sei. Wir können dem nicht beipflichten. Der Unterschied ist da vor allem der, daß die chinesische Regierung sich bis jetzt nicht auf die Seite der Aufständischen gestellt hat. Aber ihre scharfen Proteste, die sie gegen die Schießerei der Polizei tm Europäerviertel bei den fremdländischen Gesandten wiederholt erhoben hat, lassen erraten, daß nicht viel fehlt, bis die Regierung.selbst eingreift. Allerdings welche Regierung?.
China hat seit 1912, wo sie Ihre theokratische Monarchie ab- geschafft bat, immer noch Revolution. Nur nicht in europäischer Form, sondern es sind ehrgeizige Generale und Verwaltungsbeamte, die miteinander um die oberste Macht ringen. Man weiß eigentlich heute nicht, wer in Peking Koch oder Kellner ist, ob General Chang oder General Feng. Es kommt nun ganz darauf an, wer von diesen Wettbewerbern sich zu den Aufständischen schlägt.
Noch etwas! Man munkelt, daß hinter den neuen Vorgängen in Schanghai die Bolschewisten stecken. So ganz unmöglich ist-das nicht. Jedenfalls ist die ungewöhnlich warm gehaltene Beileidsnote des Sowjetbotschafters Karachan an den chinesischen Außenminister wegen der „Opfer in Schanghai" recht verdächtig. V. II.
Neue Nachrichten
Begnadigung
Berlin, 9. Juni. Wie der „Tag" berichtet, sind die Verhandlungen über die Begnadigung in den Einzelheiten noch nicht abgeschlossen. Man erwartet aber, daß die Regierung in einer der nächsten Sitzungen des Reichstags einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen wird und daß Reichsrat und Reichstag in einer Aussprache das Begnadigungsgesetz annehmen werden, nachdem mit den Fraktionsführern eine Absprache getroffen worden ist.
Hindenburgs Reise ins besetzte Gebiet aufgegeben?
Paris, 9. Juni. Der Berliner Berichterstatter des -Pariser „Newyork Herald" will erfahren haben, daß die Reise des Reichspräsidenten Hindenburg in die Rheinlands endgültig aufgegeben sei, und zwar nicht etwa deshalb, weil Hindenburg Furcht gehabt hätte, von den Verbündeten verhaftet zu werden, was seine Volkstümlichkeit nur noch erhöht hätte, sondern weil er es verschmähe, in Köln von einer französisch-belgischen Ehrengarde, die ihm hätte gestellt werden müssen, empfangen zu werden.
Die englisch-französische „Entente" wiederhergesteSk
Paris, 9. Juni. Halbamtlich wird mitgeteilt, daß der englische Staatsminister Chamberlain aus Grund seiner Unterredungen mit Vriandin Genf die englische Antwort auf die französische Note bereits übergeben und daß sie einen günstigen Eindruck in Paris gemacht habe. England werde keinen Einspruch erheben, wenn Frankreich das neutralisierte Rheinland durchschreite, oder es zum '"Ausgangspunkt seiner militärischen Unternehmungen mache, wennTss^rs irgend einem Anlaß Polen oder der Tschechoslowakei zu Hilfe kommen wolle. Ueber die an Deutschland zu übergebende Note sei volle Einigkeit erzielt, es handle sich nur noch um einige Aenderungen des Wortlauts. Englands militärische Hilfe bleibe zwar auf die Sicherung der französischen und belgischen Grenzen beschränkt, die Gre n- zenPolensund derTschechoslowakeibleioen unter dem Schutz des V ö l ke r b u n d s v e r t r a g s und seien daher ohne Zustimmung des Völkerbunds nicht berührbar. Frankreich habe volle Freiheit, seine „Verpflichtungen" als Mitglied des Völkerbunds (gegen Deutschland) Lurchzuführen, so wie es den Interessen Frankreichs und seiner Verbündeten im Osten am besten entspreche. Deutschland solle erst in den Völkerbund ausgenommen werden können, wenn es den Sicherheits- vertrag im Sinn der Verbündeten unterzeichnet und die Entwaffnung resllos durchgeführt habe.
Am Montag abends empfingen Briand und Chamberlain in Genf die Vertreter der Presse. Briand sagte, die gemeinsame Note an Deutschland über die Sicherheitsfroge werde schon in zwei oder drei Tagen nach Berlin gehen, und er fügte- spöttisch hinzu, es erscheine ihm recht und billig, daß von der Note zuerst der Kenntnis nehme, an den sie gerichtet sei. Deutschland habe jetzt Gelegenheit, an einem „soliden Friedenswerk" mitzuarbeiten. Er hoffe, daß Deutschland den Völkerbund bald durch seine Mitgliedschaft verschönen werde. Chamberlain erklärte sich mit den Worten Briands „ganz einverstanden".
Köln wird nicht geräumt
Nach den Pariser Blättern kommt die R ä u m u n g d e r Kölner Zone auf September nicht mehr in Betracht, da auch die französische Regierung „überzeugt" sei, daß die Entwasfnungssorderungen bis dahin nicht erfüllt sein werden.
Englische Pressestimmen
London, 9. Juni. Der diplomatische Mitarbeiter des „Daily Telegraph" weist darauf hin, daß in der Pariser Erklärung zur englisch-französischen Verständigung über die Sicherheitsfrage nichts davon stehe, daß England die deutschen Interessen gegen Verletzung ebenso wahren werde wie die französischen, wie Baldwin und Chamberlain bisher immer betont haben. Die englische Regierung scheine jetzt davon abgekommen zu sein und auch darin nachgegeben zu haben. Weiter sei. Ist a.lst e n nicht erwähnt, obgleich Mussolini sich