(Enztalbote)
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Sommer 227
Ferurrif I7S
Wildbad, Samstag, deu 29. September 1923
Mr Würfel ist gefallen. Ob man es sich selber ein gestehen mag »der nicht: eine Ruhrfrage oder eineFrage der besetzten Gebiete gibt es auf la n g e Zeit nichtmehr. Die Hoffnung des Reichskanzlers Stresemann und seines Kabinetts, durch Preisgebung des passiven Widerstands mit Frankreich und Belgien in Verhandlung m zu kommen, die das Reich wieder in seine Rechte an Ruhr und Rhein einfetzen würden, haben die drei letzten Sonntags- rcden Poincaräs in Champenoux bei Nancy, in Toul und im Priesterwald gründlich zerstört. Im Bollgefühl des Sieger- stolzes verherrlichte Poincare die starke Militärmacht Frankreichs, dis Deutschland jetzt gänzlich zu Boden geschlagen habe und die es dahin gebracht habe, daß Frankreich, von der ganzen Welt sich keine Vorschriften machen zu lassen brauche. Am wenigsten stehe es dem niedergezwungenen Deutschland zu, im Augenblick der restlosen Unterwerfung noch mit Bedingungen an den Sieger heranzutreten. Nicht einmal die Wiedergutmachung der brutalsten Willkür, dis Freilassung der cinge- kerkerten Deutschen, die Rückkehr der Ausgewiesenen darf irgendwie mit der geforderten Kapitulation in Verbindung gebracht werden. Ehe nicht eine gewisse Bedingung erfüllt sei, könne von den Ausgewissenen nicht die Rede sein, von den Eingekerkerten schon gar nicht zu sprechen. Was ist das wohl für eine Bedingung? Poincare und seine Blätter nannten sie nicht, aber vielleicht rät man nicht weit daneben mit der Vermutung, daß Frankreichs Bestreben, mit der deutschen Waffenstreckung endlich die nie aus dem Auge gelassene „B e r v o l l st ä n d i g u n g" des F r i e d e n s v e r t r a g s durchzusetzen, nunmehr Genüge geschehen soll.
Eine gewisse Rücksicht auf die öffentliche Meinung inCng- lcmd und in andern Ländern mag bestimmend gewesen sein, vorerst noch nicht auszusprechen, was mit jener „Bedingung" gemeint sei. Denn wenn es auch Poincare gelungen zu sein scheint, den britischen Erstminister Baldwin nach dem Frühstück in Paris ganz an seine Seite zu bringen, so hat sich doch die öffentliche Meinung Englands zum großen Teil zunächst wenigstens mit der Schwäche Baldwins nicht abfinden können, in dem richtigen Gefühl, daß das Ansehen Alt-Englands dadurch wieder einen argen Stoß erlitten habe. Aber Poincare zählt darauf, und wohl nicht mit Unrecht, daß die öffntliche Meinung drüben nicht weniger wandelbar geworden sei, als es die Regierenden in Großbritannien seit einem Jahrzehnt find; wozu wäre es denn eine „öffentliche Meinung"? Ihre Bearbeitung durch die in französischem Sold stehenden Blätter hat auch schon recht kräftig eingesetzt und von den Vorwürfen gegen Baldwin ist es ziemlich still geworden.
Die Karten offen auf deck Tisch zu legen, wird noch Zeit fein, wenn erst einmal die „Verhandlungen" begonnen haben werden. Wenn nicht alle Zeichen trügen, verlangt Frankreich nicht mehr und nicht weniger, als den unterschriftlichen Verzicht Deutschlands zum mindesten deslinksuferigenRheinlandsmitder Pfalz. In welcher Form das geschieht, ob durch die „Rheinische Republik", die am 1. Oktober von den Verrätern Dorten, Smeets und Genossen ausgerufen werden soll, oder in welch anderer Weise immer, das ist ganz nebensächlich; man wird vielleicht diejenige Form wählen, die es dem englischen „Gewissen" am leichtesten macht, zu den: englischerseits wiederholt festgestellten Vertragsbruch Ja und Amen zu agen. Gerade für die bevorstehenden Verhandlungen haben ich aber Frankreich und Belgien mit den zahllosen Auswei- ungen und Verurteilungen ein Pfand geschahen, das mit allen seinen Unwägbarkeiten weit wirksamer ist als die Beschlagnahme der Eisenbahnen, Kohlengruben usw. Was ist denn aus diesen „produktiven Pfändern" anders geworden als ein weites Trümmerfeld? Cs wird schwerster Arbeit von Monaten bedürfen, um die Spuren der französisch- belgischen Gewaltpolitik und den blinden Raubbau wieder einigermaßen auszugleichen. Die Instandsetzung des in den Grund verderbten Verkehrswesens wird allein ungezählte Eoldmillionen beanspruchen. Wer die zahlt? Das könnte dem Zufällen, der sich diese produktiven Pfänder geholt hat. Darin liegt eine Waffe für die Reichsregierung, die bei diplomatischem Geschick wertvoll werden könnte, denn jetzt arbeitet die Zeit nicht mehr für Poincare, sondern gegen ihn; er muß mit allen Mitteln versuchen, Rhein und Ruhr dem Chaos zu entreißen, und dazu sind Franzosen und Belgier, sie haben es in nun Monaten bewiesen, nicht imstande. Man rv ll ja nun die Engländer zu Hilfe nehmen und wohl auch Italiener, aber auch sie werden das Kunststück nicht fertig bringen. Ohne die deutsche Hilfe geht'» nicht, also verkaufen wir die deutsche Arbeit möglichst teuer!
Das ist ja wohl der einzige Verhandlungsgegenstand, der Deutschland vielleicht geblieben ist, nachdemdie Reichsregierung ausdenpassiven Wider st and verzichtet hat, bedingungslos, muß man Inder sagen, da wincare sich jede „Bedingung" deutscherseits verbeten und
Verbandlunaen über
kntschädigunasfraae von der vor-
L a ge sspiegel
Lord Lurzon Halle eine Unterredung mik dem deutschen Botschafter in London, Sthamer. s
Nach einer Meldung der bulgarischen Telegraphen-Agen- lur ist am 26 . September der letzte Herd der kommunistischen Revolutionäre, die Stadt Ferdinand, vom Militär beseht worden.
Reichskanzler Lr. Stresemann hat gestern den Botschaftern der Entente die Aufhebung des Passiven Widerstandes off zielt nritgctcrtt.
Eine Vcro'dnnng des ReichsWehrministers überträgt die vollziehende Gewalt an die Mikitärbefehlshaber der Wehrkreise.
Für den V. Wehrkreis (Württemberg, Baden, Hessen, Thüringen, Waldeck, Hessrn-Ne.ssan, Rcg.-Bcz. Erfurt und Hohcnzoliern) ist dem Generalleutnant Reinhardt in Stuttgart die vollziehende Gewalt übertragen worden.
In Berlin sowohl wie in München herrscht Ruhe, sllnr im Rnhrgebiet haben die Kommunisten örtliche Ansstände hervorgcrnsen.
heripen bedingungslosen Kapitulacion abhängig gemacht hat. Hat er es doch so wcir gebcachc, daß die amtlichen'Verlrercr der 'Vsrsandsrrrächtc in Berlin j-d n Verkehr mit der Reichsregierung abbrcchen wußten, bis die „Unterwerfung" ihnen amtlich angezeigt werde, was am 2C September denn auch geschehen ist. Der Entschluß, den passiven Widerstand im Ruhrgebiet auszugeben, stand im Ka- oinett Stresemann schon längst fest und bstdcte wohl, wenn auch nicht ausgesprochen, einen Teil seines Regierungspro- gramms. Das Ausland war jedenfalls davon früher unterrichtet, als die deutsche Oesfentlichkeit. Darauf soll es ja auch zurückzuführen sein, daß die englische Regierung sich von Deutschland zurückzog und sich wohl oder übel mit Frankreich verständigte. Doch sei dem, wie ihm walle, die Riederlegung dieser Waffe ist nun eine Tatsache. Und wir brauchen uns nicht zu verhehlen, daß der passive Widerstand' in der Art, wie er in der letzten Zeit geführt wurde, nicht lange mehr aufrechtzuerhalten war. In den letzten Wochen war der Widerstand in manchen Schichten des besetzten Gebiets selbst nur noch ein Schein von den Vorgängen, die wir im Januar bewundernd erlebten. Die Moral hatte vielfach gelitten, was auf das monatelange Fernbleiben von der gewohnten und geregelten Arbeit zurückzuführen ist. Dis Verlängerung dieses Zustands hätte noch unabsehbaren Schaden anrichtsn können. Sodann mußten bei der Wirtschafis- und Finanzlage des Reichs die g e w a l t i g e n A u s g a b e n für das Ruhrgebiet bedenklich machen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der passive Widerstand, anders betrieben, den Franzosen in weiteren drei bis vier Monaten ihr Ruhrabenteuer entleidet und zum deutschen Sieg geführt hätte, aber dann hätte man in Berlin nicht die Sabotage als „Verbrechen" brandmarken dürfen; sie war in dem Kampf gegen den brutalen, rechtswidrigen Ueberfall eine berechtigte und notwendige, im Vergleich zu dem feindlichen Vorgehen moralisch harmlose Waffe. Indem man sie amtlich für unerlaubt erklärte, lähmte man die Widerstandskraft und den Widerstandswillen in geradezu unbegreiflicher Weise. Für die Reichsregierung war der Kostenpunkt ausschlaggebend. Nach der amtlichen Erklärung beanspruchte die Ruhrunterstützung in voriger Woche die Summe von 3500 Billionen Mark, in dieser Woche würden etwa 7—8000 Billionen nötig sein D>s Summe erscheint etwas hoch gegriffen, denn 8000 Billionen Papiermark sind etwa 200 Millionen Goldmark. Wenn man nun annimmt, daß von den 4 Millionen Einwohnern des besetzten Ruhrgebiets etwa die Hälfte infolge des Widerstands erwerbslos geworden ist, so würden sich diese 2 Millwnen doch wohl mit 40 bis 50 Millionen Goldmark für sine Woche aushalten lassen, zumal noch viele andere Gaben w'-e die Lebensmittelsendungen der Landwirtschaft, die deutschamerikanischen Liebesgaben und andere namhafte Spenden nebenher gehen. Wenn trotzdem 200 Millione Goldmark verbraucht werden, so zeigt das eben, daß die Verteilung nicht so vor sich geht, wie es sein müßte. Aber gleichviel, auch 50 Millionen sind ein Betrag, den die Reichskasse nicht auf Wochen und Monate binaus hätte mehr leisten können. Und die Summen durch Steuern aufzubringen, dazu ist es zu spät, man sieht ja, welch ruinierende Wirkung die sogenannten Ruhrabgaben, Bstriebssteuer, LandabgRbe usw. haben.
Nur darüber müssen wir uns klar sein, daß jetzt das SchicksalderRhein-undRuhrlandrbesiegelt ist. Es wäre töricht, sich darüber irgendeiner Selbsttäuschung hinzugeben. Die Reichsregierung hat in der Voraussicht, daß die Erkenntnis dessen bei dem weitaus großen Teil des deutscher" Volks und besonders in den besetzten Gebieten selbst eine tiefe Erregung Hervorrufen müjse, .mnäcbü Vertreter der
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besetzten Gebiete nacy Berlin eingelöden und ihnen die Gründe auseinandergesetzt, die ihr die Fortsetzung des passiven Widerstands als unmöglich erscheinen lassen. Dann wurden die Häupter der Bundesstaaten berufen, auch im Reichstagsausschuß für auswärtige Angelegenheiten wurde vom Reichskanzler Aufschluß über die Beweggründe der Neichsregierung gegeben. Um aber gemalisamen Ausbrüchen der Erregung vorzubeugen oder ihnen gegenüber gerüstet zu sein, wurde im Anschluß an die Verkündigung des Abbruchs des Widerstands eine Verordn-ung des Reichspräsidenten erlassen, die über das ganze Reich den Aus - nahmezustand verhängt und die ausübende Staatsgewalt, wie in Kriegszeiten, dem Reichswehrminister bczw. den Kommandanten der Reichswehrkreiss überträgt. Daß die Vorsichtsmaßnahmen, die wohl auch mit den Ministerpräsidenten besprochen worden waren, nicht unbegründet waren, geht daraus hervor, daß just zwei Tage vorher in Berlin verschiedene Waffenlager der Kommunisten entdeckt wurden, die von der amtlichen Vertretung der Moskauer Sowjetregierung für den zu erwartenden Bürgerkrieg in Deutschland freundwilligst gestiftet worden waren.
Im übrigen ist die Verhängung des Ausnahmezustands mit Ruhe ausgenommen worden. Nur in Bayern gab es< eine Ueberraschung. Der bayerische Ministerrat nahm am Mittwoch den Bericht des Ministerpräsidenten von Knil - ling über die Berliner Besprechung entgegen. Knilling hatte gegenüber der Einstellung des passiven Widerstands verschiedene einschränkende Einwendungen erhoben, u. a. meinte er, man solle, um dem Ruhreinbruch wenigstens den dauernden Stempel des Unrechts aufzudrücken, mit Frankreich sich in keine Ve r h a n d l u n g e n mehr einlassen. Er drang damit aber nicht durch. Nebenbei bemerkt, wird aber die Reichsregierung, je nachdem die „Verhandlungen" verlausen, es sich doch noch zu überlegen haben, ob sie Verträge schließen oder es zum Bruch kommen lassen soll. — Der bayerische Mirkisterrat faßte nun den Beschluß, für Bayern einen General st aatskommissar oder, wie man gewöhnlich sagt, einen Diktator z':r Aufr-uhterhal- tung der Ruhe und Ordnung zu ernennen, und die Aukgabe wurde dem als tatkräftigen Staatsmann bekannten Herrn von Kahr, früher Ministerpräsident, derzeit Präsident von Lberbayern, übertragen. Jetzt geht's los gegen Berlin! hörte man vielfach sagen. Keine Spur. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Aufstellung eines bayerischen Diktators schon in der Ministerpräsidentenkonferenz besprachen und aus gewissen Zweckmäßigkeitsgründen gebilligt wurde. Aber auch wenn das nicht der Fall ist, wenn man in Berlin überrascht worden sein sollte, so wäre in dr Ernennung > ine Spitze gegen Berlin doch wohl nur insofern zu erblick-'n, daß wie be>m Ausnahmegesetz zum Schutz der Republik m einer so weit- tragenden Sache die Bayern'im eigenen Haus Herr bleiben und sich nicht von Berlin dreinreden lassen wollten. Eine Begünstigung oder gar ein Zusammengehen mit den kampsbe- reiien nationalsozialistischen Stoßtruppen Adolf Hitlers, die neuestens durch die Vereinigung mit den Verbänden „Oberland" und „Reichsflagge" eine bemerkenswerte Verstärkung erfahren haben, zu einem „Putsch" ist jedenfalls ausgeschlossen.Abwegig und recht überflüssig erscheint auch die Behauptung eines Berliner Blatts, das der Reichsregierung nahe steht, die Reichsregierung habe den Ausnahmezustand als Gegenwehr gegen die bayerische Diktatur verhängt. Und nicht weniger unnütz ist Re Behauptung eines anderen Blatts. General Ludendorss wolle in Bayern eine Gegenrevolution machen. 'Gerade das Gegenteil ist wahr. Ludendorff hat eindringlich vor Unbedachtsamkeiten gewarnt; die Zeit für eine Volksbewegung sei noch nicht gekommen und sie dürfe sich keinesfalls gegen Deutsche richten.
Wenn in einer gärenden Zeit wie der gegenwärtigen Zu- fälligkeiten von großer Nachwirkung natürlich nicht ausgeschlossen und vorauszusehen sind, so ist es doch wahrscheinlicher, daß im großen ganzen die Ruhe erhalten bleibt und daß die Reichsregierung ungestört daran gehen kann, das deutsche Finanz- und Währungselend durch ein wertbeständiges Geld zu kurieren, nachdem der erste Plan der Währungsbank und der „Bodenmark" allgemein als unbrauchbarer Wechselbalg erkannt und abglehnt ist. Die Frage soll nun auch von einer anderen «eite angefaßt werden, indem man die Gründe der immer inehr zurückgehenkst n A r - beitsleistung in den Bergwerken, die steigende Kohlenpreise bedingt, untersucht und über Mittel zur Abhilfe beratschlagt. Villeicht bringt die Zeit der Diktaturen neben dem Spar-, Devisen-, Finanz- und Ordnungsdiktator auch noch einen Arbeitsdiktator. Am besten freilich wäre es, wenn wir gar keine Diktatoren mehr brauchten und wir ungestört und im Frieden leben und arbeiten könnten. Aber das wird wohl noch lange ein Traum bleiben. -