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der Buchdruckerei
Wildkader Tagblatt;
Verlag und Schriftleitung
Wildbad
Nummer 190
58. Jahrgang
Wildbad. Donnerstag, den 16. August 1923
Fernruf i ?0
Fernruf 179
Die englische Antwortnote und die leider erst recht kümmerlichen "Auszüge aus dem englischen Blaubuch (die ' Sammlung der mündlichen und schriftlichen diplomatischen Verhandlungen mit anderen Staaten, in England nach der Farbe des Umschlags Blaubuch, in Deutschland Weißbuch, in Frankreich Gelbbuch genannt usw.) haben die Stimmung in Paris weidlich verdorben.
Man kann sich der Einsicht nicht wohl mehr verschließen, daß die Zeiten vorbei sind, wo Lloyd George sich mit besonderem Vergnügen von Clemenceau einen Ring durch die Nase ziehen ließ, an dem die französische Politik ihn dann sänftiglich zur Besetzung von Düsseldorf, Duisburg, Ruhrort und zur Drohung mit dem Einmarsch ins Ruhrgebiet leitete. Es ist der gewaltige Vorzug der englischen Politik, daß sie niemals auf bloßen „rühmlichen Erfolg", sondern immer nur auf den greifbaren Nutzen hinaus wirtschaftet. Daher kann Baldwin sich leisten, was Poincare sich nicht leisten kann: er kann einen begangenen Fehler eingestehen, Preisgaben und wieder gutzumachsn versuchen. Ganz England hat sich nach und nach davon überzeugt, daß Lloyd George, der ausgezeichnete Kriegs-Diktator, die britische Reichspolitik nach Kriegsschluß elend geleitet hat, im Abendland wie im Morgenland. Lloyd George ist in England zurzeit „unten durch". Dennoch bilden die Dummheiten, die er als Erstminister gemacht hat, für die englische Politik eine lästige Fessel. Im Orient ist es gelungen, dank der Blindheit, womit die Franzosen^sich in das Ruhrabenteuer stürzten, diese Fessel im Frieden von Lausanne wieder abzustreifen. Im Abendland wird das so leicht nicht gehen, die Franzosen werden alles daransetzen, England in den Fesseln der Lloyd- George-Politik festzuhalten. Da ist es schon eine achtbare Leistung, wenn die neueste englische. Note an Frankreich ganz offen erklärt: wir sind der Ansicht, daß es für die Besetzung des Ruhrgebiets keinen Rschtstitsl im Versailler Vertrag gibt, sind aber bereit, die Streitfrage dem Haager Schiedsgericht zu unterbreiten. Selbstverständlich können mir Deutschen nichts Besseres tun, als uns damit einverstanden erklären. Wir wollen aber auch nicht vergessen, was diese englische Schwenkung allererst möglich gemacht hat: sie ist die erste greifbare Frucht des passiven Widerstands. Wäre es Poincare gelungen, was er so heiß erstrebte, hätte Deutschland kapituliert, dann hätte Baldwin das Gutachten der englischen Kronjuristen in der Tasche behalten und sich mit der Tatsache des französischen Siegs abgefunden. Der Entwurf der englischen Antwortnote, der uns die Einstellung des passiven Widerstands empfahl, sollte schon der erste Schritt dazu werden. Poin- cares Verbohrtheit und die Ausdauer der Ruhrbevölkerung haben es verhindert, daß der Schritt getan wurde. Statt auf die von Poincare verkündete Tatsache der deutschen Kapitulation stellt sich die englische Politik auf die beiden Tatsachen ein: daß mit Poincare ein Einverständnis nicht zu erzielen und daß der passive Widerstand nicht zu brechen ist. Und sie vollzieht die Neueinstellung, indem sie sich offen zu der Anschauung bekennt: daß die Besetzung des Ruhrgebiets ein Rechts- und Vertragsbruch ist.
In Frankreich möchte man Ennos Rücktritt natürlich als die Eillleitung zur Kapitulation deuten, währeich er in Wahrheit die Einleitung zur Festigung des Widerstands sein soll. Je rascher die Welt darüber aufgeklärt wird, um so rascher wird auch die englische Note ihre Wirkung tun. Denn Festigung des deutschen Widerstands ist dis Voraussetzung dieser Wirkung. Zusammenbruch des deutschen Widerstands würde Baldwin ins Unrecht setzen und Poincare zum größten Triumph seines Lebens verhelfen. Er hätte dann nicht nötig, auf den englischen Vorschlag wegen des Haager Schiedsgerichts zu antworten. Und es wird doch auch für Poincare nicht ganz leicht sein, darauf zu antworten, wie er bisher geantwortet hat: ich pfeife auf die Rechtsfrage, ich pfeife auf die Meinung der englischen Regierung, ich habe die Gewalt, und gedenke sie gegen jeden zu gebrauchen, der mir in den Weg tritt. Es ist doch nichts ganz Alltägliches mehr, wenn von zwei Verbündeten der eine öffentlich feststellt, die Behandlung durch den anderen habe ihm „einen peinlichen Eindruck" gemacht. Viel peinliche Eindrücke dieser Art wird Lord Curzon nicht mehr feststellen können, ohne daß die Entente darüber endgültig zerbricht. Eine schwere Belastung für die französische Eitelkeit ist es ohnehin schon, wenn England erklärt, es wünsche „von Deutschland und Frankreich" bezahlt zu werden. Die liebenswürdige Aufforderung Poincares, sich an der deutschen Handelsflotte schadlos zu halten, wie Frankreich sich mn Ruhrgebiet schadlos halte, wird wohl nicht verfangen bei einer Regierung, die soeben den Anruf des Haager Schiedsgerichts zur Kläruna der Rechtslage ausgesprochen hat.
Tagesspiegel
Nach dem „Evening Standard" wird die britische Regierung eine Untersuchung der deutschen Zahlnngssöhigkeil durch Sachverständige veranlassen, sobald die Antwort aus Paris eingelaufen ist.
Der „Rewyork Herald" meldet, daß die Vereinigten Staaken, wenn eine Einladung von London oder Paris an sie ergehe, möglicherweise doch wieder an der Lösung der Entschädigungsfrage sich beteiligen werden. Präsident Eoolidae sei mit der Entwicklung der enelisK-französischen Streitfrage vertraut und lasse sich durch die Botschafter in London und Paris aufs genaueste unterrichten.
Tas neue Ne'.chskabiustt hat heute vormittag n«<er dem Borsitz des Reichskanzlers Tr. Stresemann seine erste Sitzung abgehaltcrr, in der die Ernährnngslage besprochen wurde. Tie Sitzung begann um 11 und war um 1 Nhr zn Ende.
Tie Rede des Reichskanzlers Tr. Stresemann findet in den Blättern der Koalitionspartcien sehr günstige Aufnahme, während die Pariser Presse auffallende Zurückhaltung übt.
Neichsbankpräsident Harnstein war gestern abend beim Reichskanzler. Wie verlautet, lehnte Havenstein als ««abhängiger Beam-.r der r»«Lo«v,i.srr Reichs '-ank es weiterhin ab, sein Temissionsgesuch einznreichen.
Ter französische Ministerpräsident Poincare ist von seinem Landaufenthalt nach Paris znrirckgekehrt.
Ter englische Ministerpräsident Baldwin hatte am Mittwoch eine überraschende Audienz beim König.
Tas Meerengenabkommen vom 24. Juli ist gestern von dem russischen Vertreter Fordansky unterzeichnet worden. Tiefer hatte darauf eine längere Unterredung mit Mussolini, die sich in der Hauptsache um die Wirtschaft. >)eu Beziehungen zwischen Italien und Rußland drehte.
Em Fortschritt, wie die Preisgabe der ganzen Lloyd- George-Politik, ist auch dis besondere Preisgabe des Londoner Entschädigungsplans von 1921. In Uebereinstimmung mit allen denen, die eine ernsthafte Lösung der Frage erstreben, wird eine feste Begrenzung der deutschen Schuldsumme gefordert. Sachverständige mögen die deutsche Zahlungsfähigkeit schätzen. Für sich beansprucht England von Deutschland „und den Verbündeten" 14 Milliarden Goldmark. Frankreich wird gebeten, mit der Verzinsung anzufangen, wenn das Verhältnis zwischen Frank und Pfund Sterling sich gefestigt Hobe. Das ist ein etwas schmerzlicher Wink. Aber Frankreich Hots ja dazu! Eben erst ist eine halbe Milliarde Gold dazu verwandt worden, den belgischen Frank zu stützen, der infolge des Ruhrabenteuers die Kränke gekriegt hat. Wie den beiden Raubstaaten die gegenseitige Stützung bekommen wird,> bleibt abzuwarten. Einstweilen hat England durch seinen volkswirtschaftlichen Sachverständigen bei der Pariser Barschaft feststellen lassen, daß di« Mär vom immer noch notleidenden Frankreich ein grober Schwindel sei. Die Veröffentlichung dieser Cahill-Be- richte, einstweilen bis zum 1. März 1923, gehört auch mit zum neuen System, das England der Politik Poincares gegenüber anwendet. Das Ergebnis der Berichte, auf eine kurze Formel gebracht, lautet: Frankreich hat Mangel an Arbeitskräften, während England bekanntlich Ueberfluß an Arbeitslosen hat. Böse leuchtet der Sachverständige auch in die Mißwirtschaft bei den französischen Steuern hinein. Und was den Wiederaufbau angeht, so geht der mit rüstigen Schritten der Vollendung entgegen, und man begreift plötzlich, weshalb alle deutschen Anerbietungen schnöde zurückgewiesen wurden: Frankreich hat das Geschäft „in sich" machen wollen. Nur beim Wiederaufbau der Häuser ist noch eine starke Lücke, und hier geruhte man bis zum Ruhreinbruch ja auch, deutsche Lieferungen anzunchmrn.
Täuscht nicht alles, so stehen wir wieder einmal an einer Wegwende. Wollen wir dabei.nicht ins Hintertreffen geraten, so haben wir mit verstärkter Tatkraft für Ordnung im eigenen Hause zu sorgen. Damit wieder deutsche Außenpolitik geinacht werden könne, muß es endlich Ruhe in der deutschen Innenpolitik geben. Sonst geht die Entwicklung doch noch über uns hinweg urch der ganz», sieben- monatige Heldenkampf an Rhein und Ruhr ist „für die Katz" gewesen.
Deutscher Reichstag
Vertrauensabstimmung für das neue Kabinett
Berlin, 14. August.
Nachdem die Vertreter der vier Koalitionsparteien dem neuen Kabinett das Vertrauen ausgesprochen hatten, wurde von diesen Parteien ein Antrag eingebracht: Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung und spricht ihr das Vertrauen aus.' Abg. Hergt (Deutschn.) erklärt, die Deutschnationale Volkspartei erblicke in dem Vorgehen der Regierungsparteien ein gefährliches Spiel mit den höchsten Interessen von Volk und Vaterland. Die Rückkehr zur Porteirsgierung könne nicht zur Zusammenfassung aller -Kräfte führen; auch im Reich werde der sozialdemokratische Einfluß die Große Koalition beherrschen, weder gegen die Vergewaltigung der rechtsgerichteten Kreise, noch gegen die rote Gewaltherrschaft auf der Straße, noch gegen die wirtschaftliche Not, werden die nötigen Maßnahmen zu erwarten sein. — Abg. Gräfe (Deutschvölk. Freiheitspartei): Es sei sonderbar, daß man ausgerechnet einen österreichischen Juden (Sollmann, Reichsminister des Innern) zum Verwalter der deutschen Konkursmasse gemacht habe. Das Kabinett Stresemann sei nur die Uebergangsstufe zur neuen Revolution.
Für die Vertrauenserklarung stimmten darauf 249 Abgeordnete, dagegen 76 (Deutschnationale, Deutschvölkische, Kommunisten, Abg. Dr. Geislsr und Ledebour). Die Bayer. Volkspärtei und der Bayer. Bauernbund (25) enthielten sich der Stimme. Abwesend waren 118 Abgeordnete.
Es folgt die zweite Beratung der Goldanleihe. Abg. Dr. Helfferich (DNat.) beantragt, die zur Befreiung von der Erbschaftssteuer erforderliche Zeichnungsfrist auf 1 Jahr auszudehnen. (Nach dem Ausschußbeschluß soll nur die bis 15. Mai 1924 gezeichnete Eoldanleihe von der Erbschaftssteuer frei fein.) Unter Ablehnung des Antrags Helfferich» wird die Vorlage in der Fassung des Ausschusses in 2. und 3. Lesung angenommen. In dritter Lesung wird di« Nachtragsfordcrung zum Rcichshaushalt für 1923 bewilligt mit einer Entschließung des Abg: Schreiber (Ztr.)> die Reichsregierung solle bei den Einzelstaaten auf eine schnellt Auszahlung kultureller Noistandsgelder hinwirken. Angenommen wird ferner das Gesetz über die Gebühren der Rechtsanwälte und die Gerichtskosten: die der Geldentwertung angepaht werden- Verschiedene Anträge werden an die Ausschüsse überwiesen.
Vom Ruhrkrieg
Der Raub geht weiker
Düsseldorf, 15. August. Die Franzosen haben die Reichsbank in Düsseldorf besetzt, weil sie sich weigerte, einen von den Franzosen vorgelegten Scheck einzulösen. — In Witte» wurden 50 Milliarden Mark beschlagnahmt.
Die Verschleuderung des Raubs
Lontwn, 15. August. Während der letzten Woche mehrten sich in London die Klagen über maßlose Ramschverkäuf« deutscher Waren, die zu Preisen von kaum einem Sechstel der englischen verkauft wurden. Es hat sich nun herausgestellt, daß dieses „Dumping" von den Franzosen aus- geht und Waren betrifft, die sie im Ruhrgebiet gestohlen haben. Eine Pariser „Times"-Meldung stellt fest, daß die französische Regierung nicht weiß, wie sie die 200 000 Tonnen geraubter Schienen, Balken und anderer Stahlwaren loswerden soll, und die „Westminster Gazette" bestätigt, daß englischen Häusern von Paris aus zu billige» Preisen große Posten Seide, Wolle, Baumwollwaren Motorräder, Zement, Ziegelsteine, Schokolade, Seife und elektrische Lampen, alles Raub vom Rhein und der Ruhr, an- geboten werden.
Nach dein Pariser Fachblait „Jorrnöe Industrielle", bringt die fra.izösische Regierung von den 7 Tonnen in Deutschland geraubter Farbstoff?, die in Kehl aufge- speichcrt liegen, zum Teil zum öffentlichen Verkauf. Der andere besteht aus solchen Farbstoffen, die in Frankreich nicht hergestellt werden können; diese sollen an französische Firmen verteilt werden. ^
Schreckliches deutsches Verbrechen
Düsseldorf, 15. August. Die französische Nachrichtenagentur Havas meldet, in einem Kaffeehaus in Lünen sei ein französischer Eisenbahner von deutschen Schuzpolizisten m Zivil verhauen, nach einer deutschen Polizeiwache verbracht und erst am andern Tag wieder sreigelassen worden. Untersuchung sei eingeleitet und das Kaffeehaus geschlossen — Was der Herr Franzose angestellt hat, verschweigt Havas.