Nr. 85

Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.

98. Jahrgang.

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schetnrrngrwetse: Sraal wöchentl. An-eigenpreiS: Die Heile 1V0 M.-Varnilienanzeigen

Mk.. Reklamen 400 Mk. Auf Sammelan-eigen kommt ein Zuschlag von 100 °/o. Fernspr. 9.

Freitag, den 13. April 1923.

8ezv?iipr«Ir: In der Stadt mit Lrägerlohn LÜV0 M. manatlich. PaslbczugSpiets L400 MI.

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ohne Bestellgeld. Einzelnummer 120 M.

Schluß der Anzeigenannahme 8 Uhr vormittag».

Neueste Nachrichten.

Im Reichstag wurde gester« gegen die Stimmen i>er Sozial­demokraten die Fortfii hrung der Getreideumlage abgelehnt, dagegen eine Sicherung der Brotversorgung ver­langt, und Verbilligung des Brotes durch die schiirsere Heran­ziehung des Besitzes.

Die deutsche Reichsregierung hat gegen die völkerrechtswidrige, den Versailler »Vertrag" verletzende Verordnung der inter­alliierten Rheiulandskommission, wonach dem Kommandanten der Besatzungstruppen diktatorische Gewalt über die deutschen Eisenbahnen und die Eisenbahnbcamten eingeräumt wird, schärfsten Protest erhoben, vor allem auch gegen die brutale Anwendung dieser Berordnuug durch die Ausweisungen der deutschen Eisenbahner.

Die Verhandlungen Mischen England und Frankreich über das Rcparationsproblem scheinen in vollem Gange zu sei«. Die derzeitige englische Regierung hat anscheinend ihre Autorität ausrechterhalten, sodatz jetzt wieder von bevorstehenden Ver­handlungen Mischen dem »kehlkopskranken" Bonar Law und PoincarS gesprochen wird. Morgen will PoincarL de« fran­zösischen Standpunkt in Dünkirchen nochmals bekannt geben, wonach die französischen Reparationsansprüch« nicht ver­kürzt werden dürfe«, und Frankreich das Ruhrgebiet nicht räumen werde, ehe sämtliche Forderungen bezahlt find. Nach der seitherigen Entwicklung der englisch-französischen Aus­einandersetzungen in der Öffentlichkeit ist mit dem Grade der Wahrscheinlichkeit damit zu rechne«, d«tz England sich de« fran­zösischen Eesamtforderunge« weitestgehend anpassen wird.

Feierliche Verwahrung Deutschlands gegen die Beschlagnahme der Eisenbahnen im Einbruchsgebiet.

Berlin, 12. April. Den Regierungen von Paris, London und Brüssel wurde folgende Note übergeben: Die interalliierte Rhein- landskommifsion hat durch die Verordnungen Nummer 119 und 150 dem Oberbefehlshaber der interalliierten Besatzungstruppe» diktatorische Gewalt über die deutschen Eisenbahnen übertrage« und unter völliger Ausschaltung der deutschen Eisenbahnverwal­tung eine »interalliierte Regie der Eisenbahnen des besetzten Gebiets" eingerichtet, deren Leitung einem französischen Direktor unterstellt ist. Die neue Verwaltung soll befugt sein, das bis­herige Personal insgesamt oder im Wege der Eiuzelkündigung zu entlasten. Die Verordnungen werden damit begründet, daß die deutsche Regierung durch gewisse, unter angeblicher Verletzung des Vertrags von Versailles und des Rheinlandabkommens an ihre Beamte erlassene Befehle den Eisenbahnverkehr im besetzten Gebiet lahmgelegt und somit die Sicherheit und den Unterhalt der interalliierten Armeen, sowie der Zivilbevölkerung der be­setzten Gebiet gefährdet habe. Di« deutsche Regierung mutz den Vorwurf der Vertragsverletzung aufs Entschiedenste zurvckwei- sen. Die von ihr an die Eisenbahnbeamten im vertragsmäßig besetzten Gebiet erteilten Befehle lauten ausdrücklich dahin, daß alle von den alliierten Behörden in llebereinstiminung mit dem Rheinlandsabkommen geforderten Militärtransporte für die Be­dürfnisse der Besetzung in im Maßstabe des Vertrags von Ver­sailles besetzten Gebiete durchzuführen seien. Dagegen hat es die deutsche Regierung mit Recht abgelehnt, die deutschen Eisenbah­nen und ihr Personal zu solchen Militärtransporten zur Verfü­gung zu stellen, die den von der französischen und belgischen Re­gierung unter Verletzung des Vertrags von Versailles eingelei- teten Gewaltaktionen dienen sollen. Nicht von deutscher Seite find die Betriebsunterbrechungen verursacht worden, sondern sie sind durch Vertreibung der deutschen Eisenbahner von ihren Dienstposten mit Waffengewalt und durch unmittelbare Ein­griffe französischer oder belgischer Militärpersonen in den Betrieb eingetreten, sodaß jegliche Sicherheit für die Reisenden und das beförderte Gut aufhörte. Durch die Zumutung an die deutsche« Bediensteten» ihre Arbeiten unter militärischem Zwang zur Un­terstützung des rechtswidrige» Einbruches in deutsches Gebiet fortzusetzen, wurde ihnen nur die Wahl gelassen Mische« de« Verlassen des Dienstes und dem Verrat am eigenen Volk. Nach­dem sie unter diesem Zwang den Dienst verlassen haben, wird behauptet, sie seien in den Streik getreten. Daraus wird ein Vorwand für die Wegnahme aller für dir Löhnung und Be- toldung bestimmten Geldbeträge abgeleitet. Durch Bedrohung

mit Waffengewalt. Mißhandlung, Eefägnnisstrafen und Zwangs­arbeit sollen die Bediensteten gefügig gemacht werden. Auch die Behauptung, daß bei dem Erlasse der neuen Verordnungen die Sorge für die Sicherheit und Existenz der Bevölkerung mitge­sprochen habe, wirkt wie ein beabsichtigter Hohn. Die Bevölke­rung der deutschen Rheinland«, die in unerschütterlicher Liebe zum Vaterland geduldig alle Lasten der Besetzung trägt, weiß genau, daß die Sorge für ihre Existenz niemand mehr am Herzen liegt als der deutschen Regierung. Die Bevölkerung wünscht von den bisherigen Bedrückungen und der Drangsalierung durch die Okkupation befreit zu werden, aber sie lehnt es ab, daß eine fremde Macht ihre sonst nicht wahrnehmbare fürsorgliche Gesin­nung durch Entlassung und Vertreibung der deutschen Volksge­nossen kundgibt. Alle angeführt«« Gründe find, wir jeder Be­obachter der Vorgänge am Rhein weiß, nnr ein Borwand, um das seit Beginn der Besetzung von Frankreich erstrebte Ziel z» erreichen und die Eisenbahn im die Hand seine, Militärs z« bringen. Di« jetzt getroffene Maßnahme reiht sich der Errichtung besonderer Verwaltungen für die Zölle und die Forsten und das Ein- und Ausfuhrwesen an. Sie ist ein weiteres Glied in der langen Reihe der Verordnungen der interalliierten Rheinlauds- kommission, die alle gleichmäßig dasselbe Ziel »erfolgen: das Rheinland politisch, wirtschaftlich und administrativ vom nn» besetzten Deutschland zu trennen. Die neu eingerichtete Regie macht von der ihr rechtswidrig übertragene« Ermächtigung znr Entlassung deutschen Personals mit äußerster Brutalität Ge­brauch und begnügt sich nicht mit de, Dienstentlassung, sondern vertreibt die Familie« ans den Wohnungen. So wurden allein am 7. April morgens in Trier 120 Eisenbahner mit Familie aus privaten Eenossenschaftshäuscrn von bewaffneten Spahis gewalt­sam ausgetrieben. 500 Männer, Frauen und Kinder sind dadurch abdachlos auf die Straße gesetzt worden; darunter befinden sich Wöchnerinnen und Säuglinge, auch 22 Kinder, die am nächsten Tage Mr Erstkommunion gehen sollten. Schriftliche und münd­liche Vorstellungen der Stadtverwaltung und Regierung waren vergeblich. Auch der kleinste Aufschub wurde verweigert. Gegen die neuen Gewalttätigkeiten und Vertragsbrüche der interalli­ierten Rheinlandskommission legt die deutsche Regierung hiermit feierliche Verwahrung «in.

Der Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete in Koblenz wurde gleichfalls beauftragt, der Rheinlandskommission eine Abschrift der Note zu überreichen.

Die planmäßige Fortsetzung der Gewalttaten.

(STB) Stuttgart, 12. April. In letzter Zeit wurden drei Geschäftsstellen des Deutschnationalen Handlungsge- hilfenverbands im besetzten Gebiet von den Franzosen durchsucht, in Mainz, Wiesbaden und Höchst. In Wies­baden durchstöberten 10 (!) französische Beamte die Ge­schäftsräume. Die Wohnung des Geschäftsführers wurde ebenfalls durchsucht, der Geschäftsführer selbst einem schar­fen Verhör unterzogen. Trotzdem weder die Durchsuchun­gen noch das Verhör irgendwelche Verdachtsmomente zu tage fördern konnten, nahm man dem Geschäftsführer ohne jeden Grund seinen Patz fort. Bei einem wiederholten Überfall auf die Geschäftsstelle Wiesbaden raubten die Franzosen 350 000 Cewerkschastsgelder unter dem Scheingrund, das Geld könne für die Ruhrhilfe bestimmt sein. Der Geschäftsführer wurde verhaftet.

Köln, 12. April. In Koblenz waren bis heute vormit­tag 7V Dienstwohnungen mit etwa 25« Personen geräumt. Heute müssen weitere 30 Dienstwohnungen geräumt wer­den. Oberbahnhofsvorsteher Still aus Schleiden wurde vom Kriegsgericht in Aachen zu zwei Monaten Gefängnis und 300 000 Mark Geldstrafe verurteilt. Oberbahnhofs­vorsteher Magner und drei Eisenbahnasststenten erhielten von den Franzosen den Befehl, ihre im Empfangsgebäude liegenden Dienstwohnungen bis zum 11. April, vormit­tags 10 Uhr, zu räumen. In Wickrath müssen 4 Beamte ihre Wohnungen räumen.

Köln, 12. April. Die Zahl der in Neutz aus ihren Wohnungen vertriebenen Eisenbahnerfamilien ist auf 36 gestiegen. Auf dem Bahnhof Mönningen am Rhein erhiel­ten heute nachmittag 5 Beamte den Befehl, die Dienst­wohnungen zu räumen.

Stolberg, 12. April. Gestern mutzten 20 Dienstwohnun­gen am Hauptbahnhof Stolberg von den Eisenbahnern geräumt werden.

Lauda«, 12. April. Bor dem französischen Kriegsgericht in Landau fand heut« die Verhandlung gegen den 1. Staatsanwalt Fischer und gegen den 2. Staatsanwalt Hel­mer aus Kaiserslautern statt. Der erste Staatsanwalt

war angeklagt, dem von den Franosen erteilten Befehl, drei deutsche Zollbeamte ins Gefängnis aufzunehmen, nicht nachgekommen u sein. Der zweite Staatsanwalt war an- getlagt, sich geweigert zu haben, den ersten Staatsanwalt ins Gefängnis aufzunehmen. Beide Angeklagte wurden zu fünf Jahren Gefängnis und füuf Millionen Mart Geld­strafe verurteilt.

Bochum, 12. April. Da die Emschertalbahn fortgesetzt von den Franzosen für Transporte benutzt wird, haben die Eisenbahnbeamten gestern den Bahnhof von Reckling­hausen-Süd verlassen. Die Franzosen besetzten den Bahn­hof und vollendeten dadurch die Militarisierung der Strecke Recklinghausen-Süd - Herne - Hörning - Kastrop - Merk­linde - Martern, wodurch der Anschluss an die bisher mili­tarisierte Strecke in Recklinghausen-Ost erreicht ist.

Münster, 13. April. In Dorstetten halten die Fran­zosen neuerdings wieder die nach Holland bestimmten Kohlenzüge an, sodatz der Verkehr unterbrochen ist. In Bochum wurde gestern die Verkehrssperre wieder aufgeho­ben. In Herne haben die Franzosen gestern morgen das von ihnen besetzte Rathaus wieder geräumt, 100 fremde Arbeiter find in Herne eingetroffen. Zn Aplerbek haben di« Franzosen drei Fahrdienstleiter und einen Rotten­führer wegen angeblichen Anschlags auf ein Bahngleis der militarisierten Nordstrecke verhaftet, ferner einen Ober­steiger in Recklinghausen und einen Polizeirat verhaftet und ausgewiesen, ebenso in Oberhausen einen Polizel- hauptmann, der sich in Recklinghausen aufhielt. Auf der Berginspektion 2 in Gladbeck haben die Franzosen 500 Mil­lionen Mark Lohngelder beschlagnahmt, die für die Zeche Rheinbaben" bestimmt waren. Die Zechenbelegschast ist in den Streik getreten.

Zur Sprengung des Kanalübergange bei Henrichenburg.

Berlin. 12. April, lieber die Sprengung des Kanal­übergangs bei Henrichenburg meldet dieVossische Zei­tung", daß der Rhein-Hernekanal durch die entstandene Bresche auf eine Strecke von 1100 Metern fast vollständig leer gelaufen ist. Das Wasser stehe nur etwa 50 Zenti­meter hoch. Der Berkehr aus dem Kanal ist vollständig lahmgelegt.

Weitere Schandurteile.

Köln, 12. April. Das Militärpolizeigericht in Werden verurteilte nach derKölnischen Zeitung" den Leiter der Guten Hoffnungshütte", Dr. Szymanski, in Oberhausen, zu einem Monat Gefängnis und 600 000 Mark Geldstrafe, weil bei einer Haussuchung in seiner Wohnung zwei Flug­blätter gesunden worden sind. Der Arzt Dr. Lip aus Vohwinkel wurde durch ein Bersäumnisurteil zu einer Million Mark Geldstrafe verurteilt, weil er bei der Be­handlung französischer Soldaten eine zu hohe Honorarfor­derung gestellt habe. Er legte gegen das Bersäumnisurteil Einspruch ein, den das Gericht für unzulässig erklärte. Weiter verhandelte Las französische Kriegsgericht gegen den 17jährigen Drogerielehrling Spellerberg und den Bureaubeamten Elaums. Spellerberg wollte Flugblätter verteilen, die sich an die französischen Soldaten richteten. In Elaums erblickte die Anklage den eigentlichen Organi­sator der Verteilung. Die Anklage stützte sich auf das fran­zösische Pressegesetz, dessen Anwendung auf deutschem Bo­den der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Grimm aus Essen nicht zugeben wollte. Das Gericht versagte in beiden Fäl­len mildernde Umstände und verurteilte Glaums zu 5, Spellerberg zu 2 Jahren Gefängnis.

Witten» 12. April. Vor dem Berufungsgericht Düssel­dorf fand gestern die Verhandlung gegen den Prinzen zur Lippe statt, der zu 10 Millionen Mk. Geldstrafe ver­urteilt worden war, weil man einen Totschläger bei ihm gefunden hatte. Nachdem die Strafe bezahlt war, wurde dem Prinzen frauzösischerseits erklärt, datz er noch in Haft bleiben müsse. Er wurde dann vom Militärgericht in Werden zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Die neue Anklage lautete auf Störung der öffentlichen Ordnung, weil der Prinz bei seiner Festnahme sich geweigert haben soll, seinen Pah herzugeben und seinen Namen zu nennen. Auch soll! er versucht haben, auszuweichen. Gegen das Urteil legte der Prinz Berufung ein. In der erneuten Verhandlung vor dem Berufungsgericht in Düsseldorf wurde ein Zivilist vernommen, der den Prinzen in der fraglichen Nacht nach dem Patz gefragt hatte, dessen