DEM

rMKGE-

^E7Z»

(Enztalbote)

Amtsblatt für Wildbad. Chronik und Anzeigenblatt

für das obere Enztal. -

krlcbeint täglicb, ausgenommen 5onn- u. feiertags, kerügspreis monstlicb Mk. 4.30, vierteljäkrliär 13.50 krei ins kjaus geliefert; äurcb ciie Post bezogen im inneräeutlcben Verkekr Mk. 13.50 unä 90 pfg. post- beltellgelä.

Anzeigenpreis: äis einspaltige petiweile oäer äeren kaum 50 pfg., susvärts 60 pfg.. keklsmerxilen 1.50 Mk., bei grökeren Aufträgen Rabatt nscki Larist äcblub äer An^eigensnnskme: läglickr 8 Ukr vor­mittags.

Druck der Buchdruckerei Wildbader Tagblatt; Verlag und Schriftleitung: Th. Gack in Wildbad.

HM

MM

ML

Nummer 263 Fernruf 179. Iläb 6 ä, vonncrswg, äen 11. November 1920.

Das hemige Ksbe^ in England«!

Ein Tentscher, der vor dem Krieg Jahrzehnte in Eng- j land gelebt und dort Land und Leute genau kennen ge- f lernt hat, kam vor einige:: Wochen wieder hinüber und s hat den größeren Teil Englands bereist! lieber die i Eindrücke, die er bei seinem neuen Aufenthalt im Ver­einigten Königreich erhalten hat, gibt er denLeipz.

N. Nachr." eine interessante und höchst lehrreiche Schil­derung, der wir Nachstehendes entnehmen:

Was jedem, der nach sechs- oder mehrjähriger Ab­wesenheit wieder nach England kommt, zuerst auffällt, ist die überraschende Aehnlichkeit dev'Eindrücke mit de­nen, die man von früher her im Gedächtnis behalten hat. Und dennoch haben die Kriegserlebnisse in Wirk­lichkeit eine gewaltige Veränderung hervorgebracht. Man braucht nur von den Folgen der Natur und den Gebil­den der Menschenhand, dem bloßen Rahmen des mensch­lichen Lebensbilds auf. seinen eigentlichen Inhalt, die Erscheinung und den Verkehr der Menschen, genauer hinzuschauen, um mit immer wachsendem Staunen den ersten gewaltigen Unterschied des Jetzt von dem Einst ivahrzunehmen. Das starke Verkehrsleben, das Zusammendrängen der Menschenmassen in großen Städten war immer schon ein Kennzeichen Englands, des städte­reichsten Landes der Welt, das eigentlich eine einzige große Stadt mit eingestreuten Land- und Parkgegenden ist. Ter Eindruck des Drängens und Strömens von Mmschcn- massen hat jetzt eine. Steigerung ins Ueberwältigende er­fahren durch eine Vermehrung der Kraftfahr­zeuge, Automobildroschken, Omnibusse. Lastwagen von oft elesanienhaften Ausmaßen. Eine solche Straße in London, Manchester oder Glasgow mit ihren 24 Rei­hen von sausenden, surrenden, knatternden, fauchenden und tutenden Wagennngetümen, zwischen denen das Pferdegespann die Ausnahme bildet, erweckt die Vor­stellung von Zukunftsbildern, wie sie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in dem bekannten Buch von Bel- lamy prophezeit wurde. (Der amerikanische Schriftstel­ler Edward Bellamy veröffentlichte 1888 ein Buch, in dem er Zukunftsbilder der Entwicklung der Vereinigten Staaten in Form eines Romans gibt. Diese Schilde­rungen wurden damals teils als phantastisch verlacht und bekämpft, teils aber auch sehr ernst genommen und sie riefen eine große Zahl Schriften für und wider her­vor. T. Schr.). Der Fußgänger ist noch mehr als früher auf die Bürgersteige angewiesen, und das Stra­ßenkreuzer: erfordert Wagemut, Kunst und Geduld. Auch auf den Landstraßen ist der Omnibus Herr geworden. Selbst die sonst so ruhigen Universitätsstädte Oxford und Cambridge werden während der Studienzeit durch die Unzahl der Motorräder, von denen fast jeder be­mittelte Student eines besitzt, zu einem lebensgefährlichen Aufenthalt. Ohne Zweifel wäre dieser Uebergang zum mechanischen Verkehrsmittel auch ohne den Krieg ge­kommen und ist durch diesen nur beschleunigt worden.

Das Anwachsen der Verkehrsmittel wirkt auf das Le- benstcmpo ein. War der Engländer schon vor dem Krieg beständig unterwegs, so erledigt er jetzt seine Ge­schäfte und seine gesellschaftlichen Verpflichtungen gewis­fermaßen im Flug. Jeder ist beständigsngagoä" (be- . fetzt); man muß Zusammenkünfte lange vorher einrichten und die Zeit genau einhalten. Bei dieser Hast des Le­bens, im Vergleich zu der selbst Berlin noch eine schläfrige Kleinstadt ist/k o m mt selb stv erst än d lich d er G eist nie zur Ruhe. Deshalb kann das englische Volk, hoch und gering, auch keine gründliche Denkarbeit leisten. Hier erklärt sich vieles in se'ncr geistigen Haltung der Welt, z. B. Deutschland gegenüber. Die Engländer haben einfach keine Zeit, daran zu denken!

Wie in den Bequemlichkeiten des Verkehrs, so steht sich auch im übrigen Behagen des Lebens der Engländer heute in fast allen Klassen besser als vor dem 'Krieg, sicherlich unvergleichbar besser als der Deut­sche. England genießt jetzt im Ueberfluß, was es früher mit dem Kontinent teilen wußte. Ich habe noch nie so gut, sauber, frisch, ge­schmackvoll und solid gekleidete Menschenmassen gesehen. Der Luxus der Frauenwelt beider Hälften ist unbeschreiblich. Während die deutsche Bürgersfrau irr ihrem dünnen, schäbigen, gewendeten Mäntelchen friert, stolziert die englische Straßendirne im elegantesten Pelz- ! gewand. Eine ähnliche Bewegung erfaßt einen b.eim.j

Anvncr ver vrechenv überladenen Ausstellungen von Le­bensmitteln der besten Art selbst in gewöhnlichsten Krä­merläden. Zwar sind die Lebensmittel teuer, so teuer, wie sie unter dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem immer im Verhältnis zum Einkommen sein werden, aber sie sind reichlich vorhanden und von guter Beschaffenheit. Die Menschen sehen darum auch besser genährt aus, als jemals vor dem Krieg und geben scheinbar mehr für Essen aus. als in früheren Zeiten. Butter ist allerdings selten, und Zucker und teilweise auch Eier sind noch einer gewissen Kontrolle unterworfen. Aber der Rei­sende bekommt im luxuriös eingerichteten Hotel oder Restaurant alles, wofür er bezahlen will.

Ein Unterschied ist im Genuß von Spirituosen zu merken. Es wird nach wie vor viel getrunken, aber der Alkoholgehalt der Getränke ist bedeutend geringer eine Folge des Kriegs und die grobe öffentliche Trunkenheit, früher ein Schandfleck im Bild des englischen Lebens, ist viel weniger bemerkbar.

Die Heizungsverhältnisse sind durch den Streik etwas verschlechtert. Es kann aber mit Maßen überall ge­nügend geheizt werden. Allerdings, wenn der -Streik noch Wochen gedauert hätte, so hätten wieder Kriegs­verhältnisse eintreten können, wo die Kohle nur für ein Zimmer reichte. Wohnungsnot besteht in ähn­licher Weise wie in Deutschland. Um da:- Bild des äuße- des Reichtums in Vergnügungen aller Art beobachtet iver- ren Lebens zu vervo.lständigen, m: ' tas Ausströmen den. Die Zeit der Tanzwut, ganz wie in Deutsch­land, ist ziemlich vorüber. Nun tritt das Theater, das Variete, das Kino wieder hervor. Es ist oft schwer, Plätze Zu bekommen. Hier merkt man die gesellschaft­liche Umschichtung. Das Publikum ist aus denPro­fiteers" (Wucherern) rekrutiert. Es hat noch keine festen Formen, kleidet sich zwar luxuriös, aber nicht der Etikette gemäß in Frack und Abendtoilette, und ißt Schoko­lade (aber kein Butterbrot).

Die neuen Reichen, die in ganz England jetzt , den Ton angeben, nehmen sehr langsam die Vorzüge der alten Aristokratie oder Plutokratie an, übertreffen sie i aber an' Hochmut und Laster. Die private und öffentliche f Moral ist stark und schnell im Sinken begriffen trotz aller Gegenarbeit der Kirche. Die Halbwelt herrscht mehr als je vor in Kleidung, Stil, Don, Gebärde. Es ist allgemein Sitte geworden, daß die Damen öffentlich' Zigaretten rauchen und sie bestellen sich zum Früh­stück oder Abendessen ihren Whisky und Soda. Anschei­nend ist durch den Krieg die Frau dem Mann völlig gleichberechtigt geworden.

Einige weitere Aeußerlichkeiten: Es fehlt der kos­mopolitische Zug. Sogar London ist fast ganz na­tional. Von fremden Sprachen hört man fast nur Französisch, das allerdings sehr viel. Die Bedienung in den. Restaurants und Hotels ist jetzt überwiegend eng­lisch, nicht gerade zum Vorteil des Reisenden. Den nationalen Charakter vermehren noch die vielen Uni­formen, nur Khaki, der rote Rock, ist trotz vieler Pro­paganda noch nicht wieder eingeführt. DerMili­tarismus" ist somit sichtbar. Seine Fühlbarkeit ver­langt eine besondere Behandlung. Das Polizeiaufgebot ist besonders in London sehr stark. Kein Wunder bei dem unruhigen Zustand ganzer Volksschichten. Man sieht auch Polizist innen in kleidsamen, den männ­lichen nachgebildeten Uniformen. Sie erscheinen als die Personifizierung des mittelbarsten Feminismus. Vom Militarismus beeinflußt ist auch ohne Zweifel die geradere und straffere Haltung der, Männer und der viel for­schere und schneidigere Ton im Verkehr.

Nun die Geldverhältnisse. An ihnen zeigt sich der Hauptunterschied des deutschen und englischen Lebens. Man muß sich eine neue, oder vielmehr eine alte, völlig < vergessene Rechenkunst aneignen. Tie alten Geldwerte bestehen noch insoweit, daß man Vorkriegspreise mit jetzigen ungefähr vergleichen kann. Im allgemeinen ist alles auf das 23fache gestiegen. Nur die Mieten wer­den auf gesetzlichem Wege niedrig gehalten. Neu iin ! Geldverkehr sind nur die 1-Lstrl..- und 10-Slstlling- ! Noten. Das Goldstück ist noch nicht wieder aufgetaucht. ^ An Silber- und Kupfermünzen besteht anscheinend kem > Mangel.. E . . -

Die im Vorstehenden geschilderte Entwicklung entsprm t j im wesentlichen genau den Bahnen, von denen Oswa.d l Spengler in seinem bekannten BuchTer Untergang i der Kultur des Abendlands" behauptet, daß sie zum Ab­

Fernruf 179. 54. lullpgLMg

sterben der bisherigen europäischen Kultur führen. Daß tatsächlich England, von Frankreich nicht zu reden, mit dem Weltkrieg einen weiteren bedeutenden Schritt getan hat, die Kultur in der Zivilisation zu ersticken, das wird man nicht leugnen können. Mögen diese Spuren Deutsch­land schrecken.

Neues vsm Tage.

Die 810 0«0 Milchkühe.

Berlin, 9. Nov.' Im Hauptausschuß des Reichstags erklärte auf eine Anfrage Helfferich (T.natl.Vp.) Mini­sterialdirektor v. Simson: Was die Milchkühe an­gehe, fo muß betont werden, daß die Ziffer 810000 die Endsumme der in die vorläufigen Listen der Entente aufgenommenen Kühe bedeutet. Weitere Verhandlungen werden erforderlich sein.

Anschlag auf die Ncichsvruckerei.

Berlin, 9. Nov. Ein Trupp von etwa 600 Ar­beitslosen demonstrierte gestern mittag gegen 121/2 Uhr am Moritzplatz. Die Demonstranten zogen dann in ge­schlossenem Zuge durch die Oranienstraße nach der Reichs­druckerei. Hier konnten die Eingangstore noch rechtzeitig geschlossen werden, doch war nicht zu verhindern, daß die Demonstranten durch den Eingang in der Komman­dantenstraße in das Innere der Reichsdruckcrei ge­langten. Hier versuchten die 600 Arbeitslosen, die dort beschäftigten Arbeitet zum sofortigen Streik aufzufor­dern. Es gelang schließlich den Arbeitern der Reichs­druckerei, die Demonstranten von dem Grundstück der Reichsdruckerei zu verdrängen. Zu weiteren Ausschrei­tungen ist es dann nicht mehr gekommen. '

Der 9. November.

Berlin, 9. Nov. Tie Berliner Gewerkschaslskom- mission hat beschlossen, daß der Jahrestag der Revolution durch Arbeitsruhe gefeiert werden soll. Die Berliner Zeitungen konnten infolgedessen nicht er­scheinen.

Streik.

Berlin, 9. Nov. In den städtischen Betrieben wurde über die Fortsetzung des Streiks abgestimmt. 14 289. Arbeiter waren dafür 12 699 dagegen. Ta die er­forderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht ist, müßte der Streik abgebrochen werden. Tie Obleute empfahlen die Wiederaufnahme der Arbeit, die heute, am Revolu­tionstag, in dem an Sonntagen üblichen Umfang er­folgen soll. Tie meisten Betriebe der Großindurstie und des Handels sind heute geschlossen. In den Re­volutionsfeiern der Kommunisten werden mehrere rus­sische Bolschewisten sprechen.

Ter Tarif für die Großen Berliner Straßenbahnen ist vom 15. November ab von 70 auf 80 Pfg. für die Fahrt erhöht werden.

"Der 9. November.

Berlin, 10. Nov. Die Sozialdemokratische Partei und die Unabhängigen veranstalteten gestern getrennt etwa 30 Versammlungen zur Feier der Revolution von 1918. Tie 'Versammlungen waren mäßig besucht, da ein' großer Teil der Arbeiter bei der Arbeit blieb. Nackr derD. Ztg." soll gegen diejenigen Beamten die gestern vom Dienst weggeb'ieben sind, strafweise vorgegangen und die Siaatsarbciter entlassen werden, Pa sowohl die Reichs- wie die preußischen Staatsbe­hörden angeordnet hatten, daß der 9. November nicht als Feiertag gelte. Die Nachricht ist bis jetzt nicht be­stätigt.

Aus dem bayerischen Landtag.

München, 10. Nov. Der Landtag genehmigte gestern die Strafverfolgung des Abgeordneten Gandotfer we­gen Veruntreuung von Staatsgeldern. Gandorfer' hat dem Kommunisten Eisner und Gen. eingestandener­maßen durch Hineinschiebcn von Kriegsanleihe in die Bar­erlöse von militärischen Pferdeverstcigerungen 960 000 Markzur Finanzierung der Revolution" zugcwendet. Außerdem werden ihm Geschäfte in der Schweiz mittels Staatsgeldern zur Last gelegt. Nach einer lebhaften Aussprache wurde das Ergebnis des Untersuchungs­ausschusses im Fall Dobner zur Kenntnis genommen, der feststellt, daß der angebliche Mordanschlag gegen den Spionen Tvbler unbegründet sei. Staatssekretär Tr. Schweyer erklärte, die Anklage gegen die Polizei sei