Wer etwa der Meinung ist, daß das russische Reich in seinen Völkerschaften eine einheitliche, geschlossene Masse bildet, der muß die Sibirische Bahn entlang fahren und das Volksmilieu beobachten, das an Typen so ziemlich alle Variationen zeigt, an Trachten aber von geradezu vorgeschichtlicher Bescheidenheit ist. In Tomsk und Tobolsk treffen wir neben Russen und L>ibiriaken Ostlaken, Samojeden u. die mongolischen Tataren und Kalmücken.
Die Hauptstadt Tomsk liegt noch in errechbarer Nähe der Sibirischen Bahn, und man wird vielleicht die 100 km nicht scheuen, der Landeshauptstadt einen Besuch abzustatteu; Tobolsk aber, für dessen 400 km Entfernung nicht einmal Schienenweg in Betracht kommt, dürfte von nur wenigen Reisenden ausgesucht werden.
Endlich, nach einer vollen Wochenfahrt, Tag und Nacht, die nur durch die Bequemlichkeiten der sibirischen Bahnwagen einigermaßen erträglich gemacht wird, ist mit der Station Tscheljabinsk das europäische Rußland erreicht, und nun zweigt sich die Bahn entweder hinauf über Jekaterinburg nach Petersburg oder sie behält weiter ihre West- rickitung, geht in die russische Staatsbahn über und endet über Slatoust, Ufa und Samara schließlich in Moskau, der alten und ersten Hauptstadt des russischen Reiches.
Gerade in dem gegenwärtigen Kriege, in dem so viele Erinnerungen an die Zeiten vor hundert Jahren wach werden, wurde Moskau, die Stadt mit den goldenen Zwiebelkuppeln, besonders häufig genannt. Petersburg, die eigentliche Hauptstadt des Reiches hat schon durch die Umwandlung des Namens in „Petrograd", mehr aber noch durch die Verpflanzung vieler Staatsheiligtümer schwer in ihrem Ansehen gelitten, und Moskau, die alte Krönungsstadt, bleibt immer wieder das „alte Mütterchen" Rußlands.
Wer je den Kreml bewunderte mit seinen ragenden Türmen, mit den Monumentaltoren und den wundertätigen Heiligenbildern, vor denen auch die Ungläubigen den Hut lüften müssen, mit seinen Palästen, Staatsgebäuden, mit Krönungskirche, Metropolitengräbern und allem Schönen, was seine Mauern umschließen, dem wird der Eindruck unvergeßlich sein — und die Phantasie wird hier den großen Napoleon verzweifelt auf die brennende Stadt blicken sehen, die seine Zuflucht werden sollte und mit leuchtenden Brandsackeln den Untergang kündete. —
Etwaige Waffensendungen, die ihren Weg von Japan nach Moskau nahmen, haben von hier verschiedene Verbindungen nach den Kampfplätzen.
Nun ziehen sich die Russen immer mehr zurück. Eine Festung um oie andere fällt. Es scheint, daß der Freund Jap, dem schwer bedrohten Zarenheere wenig Waffen zu liefern imstande war.
Die Tagesberichte.
Großes Hauptquartier. (W.T.B. amtlich).
Donnerstag, 19. August.
Westlicher Kriegsschauplatz.
Zwischen Angres u. Souchez führte der Gegner gestern abend einen während des ganzen Tages durch Artilleriefeuer vorbereiteten Angriff durch. Er drang stellenweise in unsere vordersten Gräben ein und hält in der Mitte des Angriffabschnitts einen Teil noch besetzt, ist aber auf der übrigen Front bereits geworfen.
In den Vogesen erneute der Feind seine Angriffe nördlich von Münster gegen unsere Stellungen am Lingekopf und Schratzmännle.
Nach vorübergehendem Eindringen in eines unserer Gräben auf dem Lingekopf ist der Gegner überall zurückgeschlagen.
Am Schratzmännle ist der Kampf noch im Gange.
Oestlicher Kriegsschauplatz.
Heeresgruppe des Generalfeld marsch alls von Hindenvurg:
Bei der Einnahme von Kowno wurden noch 3V Offiziere und 3000 Mann gefangen genommen. Unter dem Druck der Fortnahme von Kowno räumten die Russen ihre Stellungen gegenüber von Kalvaria—Suwalki. Unsere Truppen folgen.
Weiter südlich erstritten deutsche Truppen den Narew-Uebergang westlich Tykocin und nahmen dabei 800 Russen gefangen.
Die Armee des Generals von Gallwitz macht Fortschritte in östlicher Richtung. Nördlich Biels! wurde die Bahn Bielostok—Brest-Litowsk erreicht. 2000 Russen wurden zu Gefangenen gemacht.
Im Nordwestabschnirt von Nowo - Georgiewsk überwanden unsere Truppen den AZkraabschnitt,
zwei Forts der Nordfront wurden erstürmt, über 1000 Gefangene gemacht 128 Geschütze sielen in unsere Hand
Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls Prinz Leopold von Bayern:
Der linke Flügel trieb den Feind kämpfend vor sich her und erreichte abends die Gegend westlich und südweltlich von Mielejczyce. Der rechte Flügel über den Bug bei Melnik vorbrechend warf den Gegner aus seinen starken Stellungen nördlich des Abschittes und ist in weiterem Vorgehen.
H e eresgruppe des Generalfeld marschalls von Blackensen:
Auch hier wurde zwischen Niemirow und Jano der Bugübergang von den verbündeten Truppen erzwungen.
Vor Brest-Litowsk drangen die Truppen bei Rokitno in die Fortstellung der Festung ein.
Ostl. von Lotawa folgen unsere Truppen dem geschlagenen Feind.
Unter dem Drucke unseres Vorgehens hat der Gegner das Ostufer des Bug auch unter- und oberhalb von Lotawa geräumt. Er wird verfolgt.
Oberste Heeresleitung.
Die Festung Nowo-Georgielvsk, der letzte Halt in Polen, ist nach hartnäckigem Widerstand im Sturm genommen
Die gesamte Besatzung — davon gestern im Endkamps allein über 20 000 Mann — und vorläufig unübersehbares Kriegsmaterial fielen in unsere Hand.
S. M- der Kaiser hat sich nach Nowo-Geor- giewsk begeben, um dem Führer des Angriffs General der Infanterie v. Besseler und den Angriffstruppen Seinen und des Vaterlands Dank auszusprechen.
Oberste Heeresleitung.
Freitag, den 20. August.
Westlicher Kriegsschauplatz.
Zwischen Anger und Souchez wurde der Feind vorige Nacht aus den gestern von ihm besetzten Grabenstücken vertrieben.
Am Schratzmännle in den Vogesen ging ein kleiner Teil unserer vordersten Stellung an den Feind verloren.
Oestlicher Kriegsschauplatz
Heeresgruppe des Generalfeldmarschall von Hindenburg:
Westlich von Kowno folge» unsere Truppen nach erfolgreichen Kämpfen dem Feind.
Im Raume der Dawina bis zur Straße Augustowo—Grodnow sind die Russen in der Linie Gudele (östl. von Mariampol) — Lozdarseje Studzieniczna zurückgegangen und leistet dort erneuten Widerstand.
Auch westlich von Tykocin wird gekämpft. Die Armee des General von Gallwitz setzte ihre Angriffe erfolgreich fort und nahmen 10 Offiziere und 2080 Mann gefangen.
Die Festung Nowo-Georgiewsk, der letzte Halt des Feindes in Polen, ist nach hartnäckigemWider- stand genommen, die gesamte Besatzung, 6 Generale, 88 000 Mann, darunter gestern im Endkampf allein 20000 Mann zu Gefangenen gemacht. Die Zahl der erbeuteten Geschütze erhöht sich aus 700, der Umfang des gesamten sonstigen Kriegsmaterials läßt sich noch nicht übersehen.
Heeresgruppe des Generalfeldmarschall Prinz Leopold von Bayern:
Die Heeresgruppe ist in weiterein Vordringen.
Heeresgruppe des Generalfeldmarschall von Mackensen:
Der linke Flügel warf den Feind hinter den Koterka—Pulwa-Äbschnitt (südwestl. von Wffoko- Litewsk) zurück.
Südlich des Bug wurde gegenüber Brest-Litowsk Gelände gewonnen
Oestlich von Wlodawa erreichten die Truppen in scharfer Verfolgung die Gegend von Piszczac.
Oberste Heeresleitung.
KriegsnachrichLen.
Politische Rede des Reichskanzlers in der Reichstagssitzung.
Berlin, 20. Ang. Der deutsche Reichskanzler hat am Donnerstag im Reichstage anläßlich der neuerlichen Lage eine hochpolitische Rede gehalten die überall reichen Widerhall fand.
Die Berliner Presse äußert sich zur Rede wie folgt:
Die „Germania" spricht von einem großen parlamentarisch-politischen Ereignis.
Die „Vossische Zeitung" sagt: Die gestrige Kriegsrede des Kanzlers sollte den nicht zu widerlegenden Beweis führen, daß es eine Verleumdung ist, wenn man an den regierenden Stellen in England die deutsche Politik beschuldigt, die Austifterin des Weltbrandes zu sein. Die Rede wandte sich an den Verstand, das Urteil, daneben aber auch an das sittliche Empfinden.
In der „Kreuzzeitung" heißt es: Der Eindruck der Rede war geeignet, die politische Stellung des Reiches zu stärken und die Verantwortung für diesen furchtbaren Krieg aus die Stelle abzuwälzen. auf die sie gehört.
Auf einen der wichtigsten Punkte der Kanzlerrede, nämlich die der Polenfrage, gehen vorläufig nur wenige Zeitungen ein. Die „Berliner Post" schreibt: „Das sind Andeutungen, die positive Ziele bergen, gegen die Fülle der Einzelheiten, die aus der Gesamtheit aller einschlägigen Betrachtungen entspringe . Die deutsche Regierung hat für Polen ein Programm. Die Feststellung dieser Tatsache muß vorerst genügen, solange eine Pflicht zur Enthaltsamkeit im Urteil über diese Dinge besteht. Einstweilen gilt es, den Satz der Kanzlerrede über Polens Zukunft mehr als alles andere, was der höchste Beamte des deutschen Reiches dem deutschen Volke zu sagen hatte, im Gedächtnis zu behalten und die Folgerungen daraus nach dieser oder jener Seite hin durchzudenken. Die „Germania" schreibt: Man mag in diesen Worten freilich noch keine positive Aufklärung über die Zukunst Polens wie der Reichskanzler sie sich denkt, finden können, aber immerhin haben sie einen freundlichen Charakter gegenüber der Polen und sie deuten auch eine Wendung der preußischen Polenpolitik an.
Die „Tägliche Rundschau" schreibt: Bedeutend schwerer noch als die Ausführungen des Reichskanzlers über die Urheber dieses Kriegs und seine eindrucksvolle Entkräftigung der Lügen unserer Feinde waren seine Bemerkungen über Polen. Über Kriegsziele zu reden ist verboten, aber der Kanzler stellte sich über sein Verbot. Damit ist den Polen wohl aus Grundlage mit Besprechungen des österreichisch-ungarischen Ministers Bunan die beabsichtigte Trennung von Rußland und eine glücklichere Zukunft, worunter sie ein selbständiges oder fast selbständiges Polen zu verstehen, zugedacht und ein Kriegsziel, -zwar noch nicht festgestellt, aber Loch scharfumrissen, das zu den schwierigsten, aller gehört.
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Der in Aussicht gestellte neue Kriegskredit von 10 Milliarden Mark wurde in der gestrigen Reichstagssitzung genehmigt.
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Englisches Unterseeboot „L 13 " von einem deutschen Torpedoboot versenkt.
Berlin, 20. Aug. (Amtl.) Das engl. Unterseeboot „L. 13" wurde am 19. August vormittags durch ein deutsches Torpedoboot am Südausgang des Sund versenkt.
Ein großer engl. Dampfer torpediert.
London, 19. August. Das Reutersche Bureau meldet: Der Dampfer „Arabic" der White Star Line (10 000 Tonnen) ist auf dem Wege nach Amerika torpediert worden. Die Reisenden und die Besatzung wurden gerettet. Der englische Dampfer „Dunstse" wurde torpediert.
Die dritte englische Kriegsanleihe
Bern, 19. August. Nachrichten aus London zufolge ist es sicher, daß die englische Regierung noch vor dem Monat November zur Ausgabe einer dritten Kriegsanleihe im Betrage von nnw destens 600 000 000 Pfund Sterling (also ziM Milliarden Mark) schreiten wird.
Die deutsche Offensive im Norden
Berlin, 19. August. Aus dem Haag wird unter dem 18. August der „Täglichen Rundschau gemeldet: Die „Morningpost" läßt sich Petersburg melden: Die Verkürzung der deutscheu Front hat viele deutsche Streitkräfte freigemacht, die jetzt nach den Kriegsschauplätzen am Njemen und an der Düna gesandt werden. Hier nehmen die Operationen einen drohenden Charakter an und werden von der größren Bedeutung. möglich, daß Petersburg das Ziel des Feindes hl.
Furcht in Petersburg.
Berlin, 20. August. Aus Stockholm wird dem „Berliner Lokalanzeiger" gemeldet: Die > Petersburg herrschende Furcht der Bedrohung a