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kenese von dem Großkaufmann Godefroy.
Berlin, 16. Juli. (Privai.) Aus London wird der Botz. Zt>. telegraphiert: Die Blätter veröffentlichen eine St. Petersburger Meldung des Inhalts, daß Witte absolute Vollmacht erhalten habe, Frieden zu schließen.
— Im Prozeß gegen den Obersten a. D H ü g e r, der sich wegen Beleidigung des Generals von Witzendorff (seines früheren Brigadekommandeurs) und anderer höherer Militärs vor dem Landgericht in Dortmund zu verantworten hat, wurde der erste Verhandlungstag ganz mit der Verlesung der beiden inkriminierten Broschüren ausgefüllt. Diese von Hüger verfaßten Schriften sind betitelt: „Meine Erlebnisse in der Militärrechts- und Ehrengerichtspflege", und „Wie es meiner Petition im Reichstag erging." Hüger schildert darin die Vorgänge, die zu seiner Verabschiedung geführt haben; er beklagt sich insbesondere darüber, daß in einer Beschwerdesache des ihm seinerzeit unterstellt gewesenen Hauptmanns Schmahl das formelle Recht des Beschwerdeweges zu seinen Ungunsten ver- letzt worden sei.
Schweiz. Die Bahn von Montreux nach Zweisimmen, welche die kürzeste Verbindung zwischen dem Berner Oberland, Thuner- und Brienzersee und dem Genfer See darstellt, ist am 6. Juli feierlich eröffnet worden. Die Bahn ist mit 70 Kilo Meter die längste elektrische Bahn der ganzen an solchen bekanntlich nicht armen Schweiz und sowohl für die Industrie uud Landwirtsch aft, als auch den Touristenverkehr von hoher Bedeutung.
— Das lenkbare Luftschiff „Lebaudy" hat eine neue vielversprechende Leistung zu verzeichnen. Es hat die erste Strecke der von dem französischen Kriegsminister ungeordneten Etappenfahrt mit dem Hauptmann Voyer an Bord glücklich zurückge- lcgt uud ist genau an demselben Orte niedergegangen, der zuvor bezeichnet war. Die Fahrt war von Moifson nach Meaux ungefähr 100 Kilometer in 2 Stunden gemacht worden. Allerdings war sie von der Temperatur sehr begünstigt, da gar kein Luftdruck zu bemerken war, so daß das Schiff keinen Widerstand zu bewältigen hatte. Der Ballou hielt sich fortwährend in 500 Meter Höhe.
Petersburg, 13. Juli. Ein Augenzeuge berichtet über den Mord des Grafen Schuwalow folgendes: Der Mörder ist ein Mann anfangs der 30er, von großem Wuchs und glatt rasiert. Er benahm sich, bevor Graf Schuwalow in den Empfangssaal eintrat, wo ungefähr 70 Bittsteller versammelt waren, sehr erregt, verließ öfters den Saal, rauchte im Treppenhause und kam erst wieder, als Graf Schuwalow, mit dem Notizbuch in der Hand und begleitet von dem Beamten für besondere Aufträge, Namens Schneider, fast die ganze Reihe der Bittsteller abgeschritten hatte und nur noch einige nachgeblieben waren. Da feuerte jener Mann kurz nacheinander drei Schüsse auf den Stadthauptmann ab» der bewußtlos zusammen- drach. Die Anwesenden wollten den Mörder lynchen, wobei eine Frau ihm sogar Bißwunden beibrachte und ihn dadurch verhinderte, Selbstmord zu begehen. Der Polizei gelang es nur mit Mühe, ihn dem wütenden Publikum zu entreißen. Seinen Namen nannte der Mörder bisher noch nicht; doch ist er tatsächlich mit einem Verbrecher identisch, der seit einiger Zeit in Polizeigewahrsam gehalten wurde, wäh
rend eines Spazierganges aber enffprungen war. Man hatte ihn damals wegen krimineller wie politischer Vergehen verhaftet. Nach seiner Flucht setzte Graf Schuwalow eine hohe Prämie für seine Wiedereinlieferung aus. Während nun Geheimagenten noch immer auf der Suche nach ihm waren, trat er unbeanstandet bei dem Stadthauptmann ein uud ermordete ihn.
Warschau, 15. Juli. Nach einer Londoner Meldung wurden eine Anzahl Offiziere des Warschauer Militärbezirks hier standrechtlich erschossen. Die Offiziere hatten sich geweigert, nach der Mandschurei zu gehen, darauf wurden 4 Offiziere und 20 Unteroffiziere zum Tode verurteilt. Eine Abteilung des Lithauischen Regiments wurde beuftragt, die Exekurion zu vollziehen. Die Abteilung weigerte sich jedoch, dies zu tun, woraus die Kosaken damit beauftragt wurden. Als die Kosaken nach Ausführung der Exekution nach ihrer Kaserne zurückkehrten, wurden sie von dem Lithauer Regiment angegriffen, wobei über 200 Kosaken gefallen sein sollen.
Moskau, 14. Juli. Der Mörder des Grafen Schuwalow, der früher Lehrer in Petersburg war, erklärte, er gehöre der Kampforganisation der sozialrevolutionären Partei an. Graf Schuwalow habe auf der Liste der zum Tode Verurteilten gestanden.
-- Die Revolution in Odessa hat für 40 Millionen Rubel Gebäude, Anlagen und Waren vernichtet. Der größte Schaden aber ist die Vernichtung Odessas als Getreidehafen Südrußlauds. Odessa lebte vom Getreidehandel und der Ausfuhr. Die Industrie Odessas war immer nur sehr schwach entwickelt. Das Leben und der Wohlstand Odessas basieren einzig und allein auf seinem Getreidehandel und seiner Getreideausfuhr. Der vortreffliche Hafen brachte es von selbst mit sich, daß Odessa die Vermittlerin des ganzen Ausfuhrhandels von Südrußland wurde, denn nacht nur die eine Provinz allein, sondern das ganze Schwarzmeer-Gebiet hängen in ihrem Getreidehandel von Odessa ab. Hiebei fanden an vierziglausend Arbeiter ihre Existenz; einige zwanzig große Exporthäuser waren hierin tätig, welche an tausend Angestellte zählen. Der größte Teil der übrigen Bevölkerung besteht aus Getreidemacklern, Ankäufern, Händlern, Agenten und Unteragenten, die sich wie ein dichtes Netz über ganz Südrußland zogen. Das ist mit einem Schlage anders geworden. Der Hafen ist ausgebrannt, und der ganze Handel muß für Wochen, ja wahrscheinlich für Monate ruhen. Aber damit ist der Umfang des allgemeinen Stillstandes noch nicht erschöpft. Wer den Süden Rußlands kennt, der weiß, in wie hohem Grade alle die kleinen Städte wie Kremetschuck, Jelisfawetgrad, Cherson, Kischinew usw. von Odessa und seinem Ausfuhrhandel abhängen. Der Ruin des Odessaer Hafens ist also mit einem völligen Stillstand des Handels von Südruß- land identisch.
WnterrHaktenöes.
Noras Roman.
von
Emil Pesch kau.
13) (Nachdruck verboten >.
„Hans!" rief ich erschrocken, geh nun wieder zu Martha, sie wird dich suchen."
„Ich will aber nicht."
Er richtete nun den Oberkörper in die Höhe, so daß er jetzt aus dem einen Bein kniete, während das andere noch gerade zwischen zwei Balustern herniederhing.
Ich sprang auf und trat einen Schritt vor, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er plötzlich emporschoß und dann hoch aufgerichtet auf der Balustrade daherkam.
„Hans," stammelte ich, am ganzen Körper bebend, „ich rufe die Mama!"
Er lächle, machte mir eine Nase und ging weiter.
„Ruf sie nur! Daun sag' ich ihr was Böses von dir, und du kannst gehen. Du gehörst ja gar nicht in unser Haus — ja ja, die Mama hat cs gestern gesagt. Du mußt froh sein, daß du hier bleiben darfst und von uns gefüttert wirst."
Einen Augenblick sah ich ihn noch, das hämische Spitzbubengesicht, das zerzauste Blondhaar, die schlanke Gestalt mit dem dunkelblauen Matrosenanzug, den funkelnden Brouzeknöpfen und der weißen Seidenschleife unter dem Kinn. Dann sah ich nur noch die gelbe schäumende Flut dahinter und in meiner Todesangst streckte ich die Hand nach ihm aus und faßte seinen Arm, um ihn herabzureißen. Er aber wehrte sich, schlug nach mir, zog nach der entgegengesetzten Richtung und dann funkelten plötzlich seine Zähne über meiner Hand, ich fühlte einen heftigen Schmerz im Gelenke und ließ nach. Ein Aufschrei
— ein schwarzer Schatten, der nach der Tiefe sank — ein dumpfes Klatschen — und durch das Brausen der Flut klang ein furchtbarer, gellender Ruf an mein Ohr, der Ruf: „Mörderin!" Es war mir, als ob die Wellen über mir zusammeistchlügen und alles in Nacht versänke — ich stürzte zu Boden.
Mein erster Gedanke, als ich die Augen wieder aufschlug, war jener Schrei. „Mörderin!" Wer war es, der uns in dem entsetzlichen Augenblick gesehen harre, der mich so genannt hatte? Mein Äuge traf zwei wohlbekannte Gesichter, diejenigen Norberts und Gerharvts. Sie sahen beide bleich, erregt aus, aber kein Zug in ihrem Antlitz gab Antwort auf meine Frage. Norbert hatte in seinem Hut Wasser herbeigeholt und Gerhardt drückte mir ein nasses Tuch auf die Stirne. In dem Augenblick, als ich nach Hans fragen wollte, trug man ihn an denselben Stufen vorüber, die er vor einer Viertelstunde übermütig heraufgesprungen war. „Tot?" schrie ich auf, und der alte Ferdinand nickte mit dem Kopfe. Später erfuhr ich, daß das Kind, von der Strömung erfaßt, gegen ein Felsstück geschleudert worden war und daß man den Leichnam in der kleinen Bucht aufgefangen hatte, in der unsre Kähne lagen und wo gerade gearbeitet wurde. Bon dort aus konnte man die Terrasse nicht sehen, denn dichtes Gebüsch und alte, hohe Bäume trennten die beiden ein paar hundert Schritte voneinander entfernten Plätze. Es war also niemand von den Arbeitern gewesen, es war Norbert oder Gerhardt, der den kurzen Kampf beobachtet und der dieses gräßliche Urteil gesprochen, das mir noch immer in den Ohren klang. War cs gerecht, und dann
— dann — was mußte weiter kommen?
Von neuem wurde es Nacht vor meinen Augen, ich sank in meine Ohnmacht zurück. Als ich erwachte, lag ich in meinem Zimmer, mein Blick fiel auf die grüne Tapetenwand mit den beiden Calames. Der scharfe Duft des Essigs erfüllte den