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Tagblatts aus Rom ist vom Generalstreik keine Rede mehr und das Ende des Streiks dürfte bevorstehen. Bereits gestern wurden die Zugsverbindungen überall ausgenommen. Die römischen Blätter melden den vollständigen Mißerfolg der Ausständigen und geben ihrer Freude über den Sieg.der guten Sache Ausdruck. Nur ganz vereinzelt kam es zu Ausschreitungen, die militärisches Eingreifen notwendig machten. So wurde, wie der Messaggero meldet, der Zug Florenz—Rom viermal durch Männer, Frauen und Kinder aufgehaltcn, die sich auf die Geleise stellten; Kavallerie mußte die Menge auseinandertreiben.
Moskau, 18. April. Der Mörder des Großfürsten Sergius, Koliajeff, ist zum Tode verurteilt worden. Bei der Verhandlung im Senat war die Oeffentlichkeit ausgeschlossen.
— Zu einem blutigen Kravall ist es am Montag in Limoges gekommen, wo seit einiger Zeit die Poizellanarbeiter ausständig sind. Die Ausständigen suchten, nachdem sie einige Wasfenlager geplündert hatten, verhaftete Genossen gewaltsam aus dem Gefängnis zu befreien, und errichteten Barrikaden. Das Militär mußte von der Schußwaffe Gebrauch machen. Ein Ausständiger wurde getötet, drei wurden verwundet, davon einer tödlich. Auch mehrere Soldaten und Gendarmen wurden durch Steimvürse verletzt. 30 Personen wurden verhaftet.
ZU neuem Leben.
Eine Karfreitagsgeschichte von Th. Ebner.
(Nachdruck verboten.)
„Nun, Huber, frei sind Sie jetzt, und es liegt nur in Jbrer Hand den Flecken aus der Ehre durch tadelloses Benehmen ganz wegzubringen. Wollen Sie mir die Hand drauf geben, daß Sie alles ausbieten, um wieder ein ehrlicher Mensch zu werden?"
Mit diesen Worten bot der Direktor des Gefängnisses in der Provinzialhauptstadt dem vor ihm stehenden, soeben aus sechsmonatlicher Haft entlassenen Huber die Hand.
Aber es war, als müßte dieser sich zwingen, die Hand zu ergreifen. Stumm und finster blickte er zu Boden, und nur die krampfhaft wogende Brust zeigte, daß in dem Innern des jungen Mannes ein schwerer Aufruhr tobte.
Wer wollte es ihm auch verübeln? 's war eine traurige, leider aber auch ganz alltägliche Geschichte. Karl Hubcr war braver Leute Kind, ein frischer, aufgeweckter Bursche, und niemals hatte ihm jemand Böses nachsagen können. Mit großem Er- folg hatte er seine Lehrzeit im Bureau eines Notars durchgemacht, seine Prüfung glänzend bestanden, und als er kurz danach eine gute Stellung erhielt, da sahen er und seine Eltern mit freudiger Hoffnung in die Zukunft.
Sie waren beide miteinander in die Schule gegangen, der Karl Huber und des Schmiednachbars Lisabeth. Sie war ein blitzsauberes, adrettes Mädel, ein Gesicht hatte sie wie Milch und Blut, und ihr Vater — das war ein reicher Mann.
„Der vermag wenigstens 70 000 Mark," sagten die Nachbarn, und die mußten's ja wissen.
„'s gibt einmal ein stattlich Paar," sagten die Leute, und wenn die Zwei selbst auch nicht von der Zukunft redeten — daß sie einst Mann und Frau werden, das galt ihnen als ausgemachte Sache. Eile hatte
es ja nicht — sie konnten beide noch warten, sie waren ja so jung!
Da kam, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, der schwere Schlag. Dem Notar in der Residenz, bei dem Karl Huber arbeitete, waren eines Tages 1800 Mark abhanden gekommen. Niemand hätte Karl, der selbst alles aufbot, den Dicb ausfindig zu machen, der Tat für fähig gehalten. Aber ein anonymer Brief, der klar und deutlich sagte, daß man da und da in seinem Zimmer das Geld finden werde, wurde durch die Nachforschung bestätigt. Als Dieb wurde Karl Huber verhaftet und verurteilt . . .
Das alles zog noch einmal in dieser Stunde an der Seele des Unglücklichen vorbei. Sein Vater war mit Herzeleid in die Grube gefahren, und seine alte Mutter saß einsam und vergrämt daheim.
Unheimlich still war's in dem Zimmer. Mit aufrichtiger Teilnahme blickte der Di- rektor auf den Unglücklichen.
„Huber," mahnte er, »Sie sind ein Mann, beginnen Sie ein neues Leben."
Da lachte Huber gellend auf. „Ein neues Leben!" rief er. „Herr Direktor, ich Hab' einmal einen gekannt, dem ging's wie mir. Den haben sie auch mit Trostsprüchen aus dem Gefängnis entlassen, und dem Manne war's ernst mit seiner Besserung. Die Füße ha: er sich wund gelaufen, damit er wieder ein ehrlicher Kerl werde, an allen Türen hat er angeklopft, und wie sie ihn genug geschmäht und verspottet hatten, und wie ihn der Hunger gar so arg plagte — wissen Sie, was er tat in seiner Verzweiflung? Fragen Sie einmal im Zuchthaus die Nummer 7, die kann's Ihnen genau sagen."
Ernst schüttelte der Direktor sein Haupt. „Denken Sie an Ihre Mutter, Huber — noch gibt's Leute, die trotz allem an Ihre Unschuld glauben, halten Sie sich an die — ringen Sie um die Achtung der Menschen."
„Und der elende Kerl, der mich ins Verderben gestürzt," rief Huber, „dem sollt's nicht vergolten werden?"
„Karl Huber," sagte der Direktor, „kennen Sie den Spruch: Gottes Mühl-n mahlen langsam? — Und noch eins: wissen Sie, was morgen für ein Tag ist? Denken Sie an den, der dem Schächer am Kreuz vergeben und seine Feinde gesegnet hat. Wenn Sie morgen in das Witwenstüblein Ihrer Mutter treten, dann soll Ihr Gruß ein Gruß des Friedens sein."
Es war, als schmelze die harte Rinde, die sich um das Herz des Unglücklichen gelegt, bei diesen Worten. Er war auf einen Stuhl gesunken und hatte das Gesicht in die Hände geborgen.
„Friede sei mit euch," stöhnte er, und mit einemmale löste sich sein ganzer Schmerz in heißem Tränenstrome auf.
„Weinen Sie sich nur aus, Huber," sagte der Direktor, zu ihm tretend, „dieser Thränen brauchen Sie sich nicht zu schämen."
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4 : 4 :
Den Waldweg hinunter schreitet Karl Huber einsam und allein. Beinahe die ganze Nacht ist er gewandert, der Heimat zu. Wie er so seine Straße zieht, ist's ihm sonderbar zu Mut. Ihm ist's als müßte alles, alles noch gut werden. Zwei Menschen gibt es, die glauben auch heute noch an seine Unschuld, und wenn er an ne, wenn er an die Mutter und Lisbeth denkt, dann fühlt er, wie es ihm heiß in die Augen dringt. Aber es sind nicht Tränen wilden Zorns, nein! nach Liebe
und Treue ist's die Sehnsucht, der Ge» danke ist's, daß er noch eine Heimat hat, daß er bald, recht bald sie sehen wird.
Und nun gerade, da hinter den tan- nenbewachsenen Bergen die Sonne emporstieg, stand er droben und sah hinab in das Tal zu seinen Füßen. Das war ja seine Heimat — dort in jenem Häuschen wohnte seine Mutter. Karl Huber stand da, und mächtig schlug ihm das Herz. Was werden die da drunten sagen, wenn er durch die Straßen des Dorfes geht, er, der Dieb, der ehrlose, ausgestoßene Mensch. Wo war nur mit einemmale seine frohe Zuversicht, sein Vertrauen? Vor seiner Seele standen wieder all die trüben Bilder seiner Vergangenheit. Soll er fliehen — hinrns in die weite Welt, übers Meer, in das Land, wohin so mancher geflohen, der daheim Schiffbruch gelitten? Soll er diesem elenden Leben ein rasches Ende machen?
Er springt empor, waldeinwärts zu eilen — und doch hemmt er plötzlich den Schritt ... er steht und lauscht.
Leise erst und dann mächtig anschwellend tönl's vom Tale herauf. Die zittern- den Klänge der Karfreitagsglocken schallen weit hinein in den leuchtenden Morgen. Wie sonniger Himmelsglanz liegt's auf Tal und Höhen, lebendig wird's ringsum. Erst ein leises, halb träumendes Zwitschern r;nd Singen und dann mit einemmale, je höher die Sonne steigt am Firmament, der Vögel schmetternder Chor, der sich feierlich mischt mit dem Klange der Glocken.
Karl Huber horcht auf. Das sind Schritte — das ist — heiliger Gott! Die da vor ihm steht, das ist — er taumelt.
„Lisbeth!" schreit er — er will auf sie zustürzen, aber die Füße versagen ihm den Dienst. — Es wird dunkel vor seinen Augen. Er spürt nur eins, daß sich eine warme Hand um die seinige schließt, er hört nur eins, eine liebe, traute Stimme, die ihm Worte der Liebe sagt, die alles hofft und alles duldet, und wie er endlich emporsieht und hineinblickt in diese treuen Augen, da zieht's ihn hinab, ihr zu Füßen.
„Karl!" — das Mädchen beugt sich zu ihm und ihre Hand gleitet liebkosend überfein Haar — „Karl, komm zu dir, ich bin's ja, ich, deine Lisbeth!"
„Mein," ruft er, „mein? Nein, Lisbeth, das kann nicht sein — ein Dieb bin ich, ein Ehrloser, ein Sträfling — und du, du bist rein, rein wie ein Engel des Himmels."
Da geht's wie ein flüchtiges Lächeln über das ernste Gesicht des Mädchens.
„Nein, Karl, du bist kein Dieb, du kannst frei dahingehen . . . Gott ist ein gerechter Richter."
Sie hatte sanft seine Hand gefaßt. „Siehst du," so berichtete sie, „seit gestern weiß ich's", und wissen's die da drunten. Auf seinem Totenbette hat es der Georg, des Lenzenbauern Sohn, gestanden — Gottes Hand hat ihn schwer getroffen; im Walde ist er beim Baumschlagen verunglückt — just so viel Zeit blieb ihm noch, seine Schandtat zu beichten. Aus dem Wege wollte er dich schaffen, weil er ein Auge auf mich hatte. Als er dich einmal in der Residenz besuchte, hat er einen Augenblick lang deine Abwesenheit benutzt, das Geld zu entwenden — die Gelegenheit, es in deinem Zimmer zu verstecken, hast du ihm ja selbst gegeben, weil du ihn zur Nacht dabehieltest."
„Und darum ist mein Vater gestorben, darum mußte ich verurteilt werden. Hej-
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