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Kienlin abgestiegen war. Nach einem Telegramm der Münch. N. N. drang der Leutnant Donnerstag früh während der Vater am Brunnen der Kur oblag, in Kienlins Wohnung. Die Tochter eilte hilferufend zum Fenster. Im selben Augenblicke feuerte der Leutnant aus einem Revolver zwei Schüsse auf dieselbe ab, so daß sie schwerverletzt zusammen, brach; dann richtete der Leutnant die Waffe gegen sich selbst und brachte sich 3 Schüsse bei. Er blieb sofort tot. — Ueber das Drama wird einem Berliner Blatt unterm 25. Juni berücktet: Heute früh hatte sich, wie alltäglich. Komm.-Rat Kienlin zum Brunnen begeben, während seine Tochter zu Hause verblieb. Gegen Uhr, Frln. Kienlin war noch mit der Toilette beschäftigt, öffnete sich die Türe ihres Zimmers, und ein junger Mann, August Hoffmann aus Stuttgart, trat ein, nachdem er ein Zimmermädchen zur Seite gestoßen hatte. Es kam zu einem erregten Gespräch. Hoffmann rief plötzlich: „Liebst du mich noch?", dann hörte man Frl. Kienlin aufschreien: „Er will mich schießen!" und die Detonationen mehrer Schöffe folgten. Nun eilten die Hotelbediensteten in das Zimmer und fanden Frl. Kienlin schwer verletzt, Hoffmann mit einer Kugel im Herzen tot vor. Ein herbeigerufener Arzt leistete Frl. Kienlin die erste Hilfe. Er konstatierte in der linken Brust eine Schußwunde, welche zwar schwerer Natur aber nicht tödlich sei. Die Leiche Hoffmanns wurde in die Obduktionshalle gebracht, während die Verletzte im Hotel gepflegt wird. Alsbald traf eine Gcrichtskommis- sion unter Leitung des Landgerichtsrats Hähne! ein, die den Tatbestand aufnahm.
— Auf die Sozialdemokraten sind am 16. Juni 3087000 Stimmen abgegeben worden. In Preußen haben dieselben 500000 Stimmen oder über 44 "/» gewonnen, im übrigen Deutschland 400000 Stimmen oder 41 R<>, also in ganz Deutschland 900000 Stimmen oder fast 43 "/«.
— Im Königreich Sachsen fielen sämtliche 23 Wahlkreise den Sozialdemo, kraten zu.
— Die konserv. „Deutsche Reichspost" schreibt zu dem Ausfall der Stichwahlen u. a.: Die kräftige Behauptung des 2. Wahlkreises (Cannstatt-Waiblingen-Mar- bach-Ludwigsburg) durch den seitherigen Abg. Pros. vr. Hieb er freut uns und weite Kreise der evangelischen Bevölker- ung. Unsere gut organisierten Freunde in den Oberämtern Waiblingen, Marbach und LudwigSburg (Amt) haben dabei den entscheidenden Ausschlag gegeben. Höchst erfreulich ist der schöne Sieg unseres Freundes Dr. Wolfs im 3. Wahlkreis (Besigheim-Brackenheim-Heilbronn-Neckar- sulm). Als der bisherige Vertreter, Ober- bürgermeister Hegelmaier, die Kandidatur plötzlich niederlegte, da schien der Wahl, kreis eine sichere Beute der Sozialdemo, kratie. Mit unermüdlichstem Fleiß und äußerster Energie gelang es Or. Wolfs Herr der verzwickten Lage zu werden. Im 4. Wahlkreis (Böblingen-Leonberg. Baihingen'Mau'.bronn) war die Wut der waschechten Volksparteiler über die Nie- derlage Friedrich Haußmanns so groß, daß sie Mann für Mann für den Sozialdemokraten Sperka stimmten. Sehr schmerzlich ist für unsere Partei der Verlust des
7. Wahlkreises, in dem der Volksparteiler Schweickhardt — dank der schon nach der Hauptwahl genannten Umstände
— über den Kandidaten der konservativen Partei und des Bauernbundes Schrempf siegte. Das Oberamt Herrenberg hat sich ausgezeichnet gut gehalten und auck Nagold weist eine beträchtliche Besserung gegenüber der Hauptwahl aut. Dagegen hat uns Calw schwer enttäuscht, und Neuenbürg hat sich völlig reif für die Sozialdemokratie erwiesen. Zum letztenmal hat dort — um mit Bernstein zu reden
— die Sozialdemokratie den „Schwanz der Demokratie" gebildet, schon bei der nächsten Wahl wird die Demokratie den „Schwanz der Sozialdemokratie" bilden!
— Zum Ausfall der Stichwahl schreibt das „Calw. Wchbl." u. a.: Die Demokratie entfaltete in den letzten Tagen eine äußerst rege Tätigkeit; es wurden die meisten Orte von Calw aus besucht und die Agitation von Ort zu Ort, von Haus zu Haus getragen; die säumigen Wähler wurden durch Extraboten an die Wahlurne geholt. Durch diese energische Agitation wurde für Schweickhardt ein sehr günstiger Erfolg erzielt. Alle Mitglieder stellten ihre Kraft in den Dienst der Partei, alle traten offen für ihren Kandidaten ein, keiner blieb zurück. Dagegen geschah auf Seite des Bürgervereins für Schrempf eigentlich gar nichts. Ob dies nicht ein politischer und taktischer Fehler war, wird die Zukunft lehren.
Das Gesamt-Resultat im deutschen Reich einschließl. der Hauptwahl ist nun
folgendes:
Konservative
52
bish. 52
Reichspartei
19
V
22
National-Liberale
50
ff
48
Bauernbd. u. Bd.d. L.
7
9
Zentrum
99
§
108
Antisemiten
9
10
Deutsche Volkspartei
6
7
Freisinnige «
20
29
„ Vereinigung
10
„
13
Sizialdemokraten
Christlich-Soziale
National-Soziale
81
2
1
57
Elsäßer
9
10
Polen
17
14
Welfen
5
6
Dänen
1
„
1
Wilde
7
„
13
In zwei Wahlkreisen finden die Stich' Wahlen statt und zwar in Homburg (Pfalz) und Detmold. In Homburg stehen sich gegenüber Tiel (ntl.) und Stauffer (B. d. L.), in Detmold Meier Jobst (freis. VolkSp.) und Becker (Soz.)
WnLevHaLtenöes.
Auf der „Kolumbia".
von H. Rosenthal Bonin.
8) (Nachdruck verboten.)
Ein kleines elegantes Schränkchen fiel mir auf, der Schlüssel steckte, ich drehte ihn um, und die Eisentüre sprang auf. Der Schrank enthielt nnr einen Blech, kästen. Ich nahm ihn heraus, eilte mit ihm nach der Kapitänskoje, setzte ihn dort auf de« Tisch und öffnete, den Blick auf die Tür zum Deck gewendet, das schwere Behältnis.
Das Erste, was mir in die Hände kam, war das Loggbuch. EL war beinahe vollgeschrieben, der Kapitän mußte viele Jahre gefahren sein. Ich blätterte hinten und fand nun bald die Eintragungen aus der letzten Zeit.
Das Loggbuch war sorgfältig geführt. Der jüngste Bericht lautete: „Kolumbia:" Fahrt angetreten am 15. September ab Newyork; Bestimmung Hamburg. Neue Mannschaft vom abgemusterten „Neptun" übernommen, zwölf Hände und Steuermann. Ladung Thce, Tabak — Connosse- ment spezifiziert. Passagiere fünf: Dr. med. Otto Normack, Hamburg; Karl Rüster, Reisender, Lübeck; Martin Schwege!, Maler, Berlin; Friedrich Tölke, Seemann, Stettin; sämtlich halbe Passagierpreise; Fräulein Lina Bartholdi, Boston."
Der Kapitän der „Kolumbia" hieß gemäß der Aufschrift Stenton, demnach war die Kranke weder seine Tochter noch seine Frau. Die Eintragungen besagten weiter: „Am 16. schönes Wetter, gute Fahrt."
Draußen auf dem Deck vernahm ich plötzlich ein Geräusch. Ich klappte das Buch zu und machte mich kampfbereit. Es blieb alles still, nur ein eigentümliches Flattern ließ sich hören, wahrscheinlich hatte ein Seevogel, durch das Licht der Laterne angelockt, sich auf das Deck gewagt und war, erschreckt durch das Zu. schlagen der Kassette, wieder aufgeflogen.
Ich las weiter.
„Am 16. September guter Wind." nun folgte die Breitenbestimmung, Aufzeichnung der Fahrgeschwindigkeit und der zurückgelegten Strecke, bis zum 27. September ohne Zwischenfälle dasselbe.
Am 27. September die Bemerkung: „Ein Matrose am Typhus gestorben, von Dr. Normack behandelt, Abend bestattet.
28. September: Linda erkrankt unter bedenklichen Erscheinungen. Doktor Normack Behandlung.
29. September: Drei Matrosen am Typhus gestorben. Nachts Sturm von Westen kommend — Bemannung zu schwach. Zwei Matrosen krank; Leck; Pumpe gebrochen. Die zu schwach verstaute Ladung ist übergeschossen, Doktor Normack und zwei Matrosen über Bord gespült, schiefe Lage des Schiffes, drei Fuß Wasser im Kielraum, Masten gekappt.
30. September: Die beiden kranken Männer gestorben, Abends bestattet.
Linda Bartholdi sehr krank, keine Behandlung. Ich selbst krank.
31. September: „Kolumbia" vollkommen wrack, sinkt. Die drei letzten Mann nebst Steuermann und Passagiere die „Kolumbia" mit Boot II. verlassen. Ich sehr krank, ich Kapitän Stenton. sehr krank, sehr krank, sehr krank, dideldideldei."
Damit schloß der Bericht — es war die letzte Eintragung. Mir grauste es. Also dies Schiff war ein Lyphusheerd. Würde auch ich das Schicksal der Beiden, dir ich hier gefunden, noch teilen? War ich deshalb hierher gerettet worden, hatte der Himmel , mich dazu avsersehen, mein Leben dazu aufgespart? DaS wäre gräßlich ... . Nun, noch war ich gesund und spürte nichts als Ermüdung. So lange ich lebe, werde ich kämpfen und hier helfen, so viel ich kann.
Ich schloß das Schiffbuch, legte es in den Kasten und brachte diesen wieder