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lichte Händlerin, die aus ihrer Wohnung exmittirt worden war. Es schwebt gegen sie ein Verfahren wegen Beamtenbeleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Bei ihrer Vernehmung äußerte sie, daß es alle Welt auf ihr Leben abgesehen habe. Bei der Rückfahrt des Kaisers um 3 Uhr bildete die gesamte Garnison, die inzwischen allarmirt worden war, und die Schutzmannschaft auf dem Wege, den der Kaiser fuhr, Spalier. Der Kaiser war sehr ruhig.
— Die „Erste Pilsener Aktienbrauerei" hat im Geschäftsjahre 1899/1900 einen Reingewinn von rund 1200000 Kronen gemacht. Es werden an die Aktionäre 40 Prozent Dividende verteilt.
Leipzig, 15. Nov. Gestern debütierte hier vor etwa 20000 Zuhörern der „Genosse" Rechtsanwalt Dr. Karl Liebknecht, der kampfeslustige Sohn des verstorbenen Reichstagsabg, Wilhelm Liebknecht, mit dem Erfolg, daß ihm eine halbe Stunde nach dem Beginn seines Vortrages: „Die Weltmachtpolitik und die Sozialpolitik von oben" von dem überwachenden Polizeibeamten das Wort entzogen wurde, was zu ungeheurem Tumult Anlaß gab. Liebknecht sagte u. a.: Deutschland sei nach China gegangen um dort Land zu rauben, zu morden, zu sengen und alles, was ihm in den Weg laufe, abzuschlachten. Die fremden Gesandten in Peking haben die Chinesen auf offener Straße wie tolle Hunde niedergeschossen. Trotzdem sei drüben schon alles fertig gewesen, als Graf Waldersee dort angekommen sei. Deutschland komme überhaupt immer zu spät, es „stehe nur immer voran mit seinem großen Munde." Unsre deutschen Brüder werden drüben zu entmenschten Räubern und Mördern gemacht, Graf Bülow sollte sich schämen, daß er zu einer solchen Hunnenpolitik seinen Namen hergebe. Auch in Deutschland selbst werde solch scheußliche Hunnenpolitik getrieben. Die deutsche Regierung verletze offenkundig die Verfassung. Hier erfolgte die Wortentziehung.
Wien, 15. Nov. Wie das „Neue Wiener Tagblatt" meldet, kam zwischen König Alexander von Serbien und seinem Vater Milan eine Vereinbarung zustande, der bald die volle Versöhnung folgen wird. Die Apanage Milans wird von 300000 Francs auf 500000 Francs erhöht und König Alexander machte ihm Aussicht, seine Rückkehr nach Serbien zu ermöglichen, dagegen verspricht Milan, seinen Aufenthalt nicht in Oesterreich- Ungarn zu nehmen und überläßt sein Palais in Nisch dem königlichen Paare. Eine pikante Nachricht will der Pariser „Rappel" aus Belgrad erhalten haben: Die vielgeliebte Königin Draga soll schon vor einigen Tagen von einem kräftigen Knäblein entbunden worden sein, aber die Geburi des „Thronerben" werde noch geheim gehalten, weil die romantische Ehe der Königin mit dem König Alexander erst seit vier Monaten besteht.
Basel, 13. Nov. Infolge falscher Weichenstellung fuhr heute Nachmittag der Schnellzug Delsberg-Basel in Station Mönchenstein auf einen dort stehenden Güterzug. Schwer verletzt wurde ein Züricher Ingenieur, der mit einem Hilfszuge ins Basler Spital gebracht wurde. Mehrere Personen erlitten leichtere Verletzungen. Fünf Stück Vieh, die im
Güterzug verladen waren, wurden getötet. Der Materialschaden ist bedeutend.
Genf, 14. Nov. Ein eigentümliches Reglement hat der Genfer Stadtrat für das dortige Theater erlassen. Neu engagierte Sänger und Schauspieler haben dreimal aufzutreten. Dann stimmen die Abonnenten und alle diejenigen, die die drei Vorstellungen besucht haben, schriftlich darüber ab, ob der Künstler oder die Künstlerin anzustellen oder zu entlassen sei. Ueber die Anstellung entscheidet das absolute Mehr der Stimmenden.
— John D. Rockefeller wird als der reichste Mann der Welt betrachtet, der über ein größeres Vermögen verfügt als der Zar, der Kaiser von Oesterreich und noch ein halbes Dutzend Potentaten zusammen. Er könnte sich somit alle Genüsse der Welt verschaffen, und doch beneidet er den Arbeiter, der mit Behagen sein einfaches Mittagsbrot verzehrt. Der amerikanische Multi-Millionär, dessen Einkommentäglich 100000 Dollars (L4'/L ^!) übersteigt, leidet nämlich an chronischen Magenbeschwerden und nährt sich ausschließlich von Milch und Brot. Wer möchte mit diesem reichen armen Mann tauschen?
WnterHatLenöes.
Der weiße Hirsch.
Eine Erzählung von Adelheid von Rothenburg, geb. von Zastrow.
(Fortsetzung.)
„Ich bin's", rief Rüdiger gedämpft hinauf, „laßt mich sogleich ein!
Tritte kamen die Treppe herab, das war Robert mit dem Lämpchen in der Hand.
„Ich habe Geld," sagte Rüdiger, und wie frohlockender Triumph strahlt es in seinen Augen,
„Woher?" erwiderte düster blickend der Freund.
„Das bleibt mein Geheimnis."
„Du wirst dich verderben um meinetwillen."
„Deine Rettuug wird auch die meine sein."Morgen nacht schon bring ich dich im Kostüm einer unserer Bäuerinnen bis in die Nähe der Station, dort angekommen legst du die Maskerade ab unb steigst als unbekannter Fremde in den Eilzug."
„Sollte das wirklich Hilfe in der Not sein?" murmelte Robert. „Du kommst im rechten Augenblick," setzte er daun hinzu, — „heute nachmittag" . . . und er zog Rüdiger hinaus auf die Bank in die s Fliederlaube und flüsterte ihm eine lange Beichte in das Ohr. Das war wieder wie das Öffnen eines Abgrundes zn ihren Füßen, nun erst erkannte Rüdiger ganz, in welcher verzweifelten Lage Robert sich befand.
„Es soll, es wird glücken," erwiederte er zuletzt entschlossen, „so weit ich jetzt übersehe, mußt du mehr vor dem blut- roten Konnte als vor unserer Regie- rung flüchten, und es wird dir drüben besser wie hier gelingen, dich zu verbergen."
„Und meine Frau, meine Kinder?"
„Für die will ich sorge», bis du sie Nachkommen läßt; bist du erst fort, so darf ich auch meine Eltern mit in das Geheimnis ziehen."
Sie trafen noch einige Verabredungen, besprachen die Ausrüstung zur Flucht,
und schieden dann, aber Robert hatte die Hand Rüdigers fest gedrückt und ihm zugeflüstert: „Männer wie dich zu kennen, Freund zu nennen, versöhnt mich mit der Menschheit."
„Versöhne du dich mit Gott," war Rüdigers Antwort gewesen.
Rüdiger, der das ihm geliehene Pferd in den Ställen des Jagdschlosses abgegeben, eilte jetzt flüchtigen Fußes durch den Wald. Er langte ungehindert in der Oberförsterei an, wo er die Hausthür noch offen faud. Wie es in solchen Fällen bei ihnen Gebrauch war, schloß er, nachdem er sich innen befand, ab und begab sich, auf den Zehspitzen schleichend, an das Schlafzimmer der Eltern, dort hing er den Schlüssel an einen Nagel und zog sich dann lautlos zurück. Doch es wollte ihm oben in seinem tannenduftigen Stübchen die Ruhe nicht kommen, seine Pulse flogen, fein Herz pochte ungestüm. Wie und auf welchem Wege der Freund fliehen sollte, das hatte er klar im Kopfe, das verursachte ihm keine Aufregung mehr, was aber war es denn: „O sprich wie kommt denn Liebe? Sie kommt und sie ist da," — er blieb an dem geöffneten Fenster sitzen, er starrte hinaus in die nebelduftige, vom Mond- licht zart erhellte, märchenhafte Welt. Wie ein Märchen war es auch über ihn gekommen, wie ein Märchen lebte es in ihm fort, trotz alledem, und in das: „Die Sterne, die begehrt man nicht,,, mischte sich:
Ich weiß wohl manches, was entzückt,
Ich w iß wohl manches, was gefällt,
Der Mai, der sich m t Blüten schmückt,
Die gold'ne Sonn' am Himmelszelt,
Doch weiß ich ein, das schafft mehr Wonne Als aller Glanz der Maiensonne,
Das ist, getreu in tiefstem Sinne Zu tragen eine treue Minne,
Von der nur Gott im Himmel weiß! (Geibel)
Wohl war er ein Thor, ein armseliger, daß er sein Herz an die Tochter des Landesfürsten verloren, und, doch dünkte es ihm süß, sie, die er liebte, so hoch erhaben über sich zu wissen, denn der deutschen Liebe ist es eigen, zu ehren, was sie sich erkoren. Nun hatte sie huldvoll ihm die rettende Hand gereicht, ihm einen Ring gegeben, freilich nicht wie die Braut dem Bräutigam, sondern wie die Prinzessin dem Landsknecht, den die Würfel ums Glück betrogen, es war nur ein Geringes, aber doch ein Band zwischen ihr und- ihm. Den Ring mußte er sich erobern, aber wie, aber wodurch? Da hätte er wohl viele Jahre drechseln können und die Summe, um welche er ihn versetzt, doch nicht erworben. Das eben machte, daß ihn der Schlaf floh, und nachdem er sich seufzend eiue Weile, wiewohl vergeblich, auf sein Lager gestreckt, sprang er auf, griff nach seinem Hut, hing sich einen schwarzen, eigentümlich gestalteten Kasten über die Achsel, öffnete das Kammerfenster, that einen behutsamen Schritt auf das Dach des Altans und schwang sich behend, gleich dem kletternden Marder an dem Gitter des wilden Weiues hinab. Wo wollte er hin? Was hatte er vor? O nichts, als die übervolle Brust entlasten, nichts als es der Stille des mitternächtigen Waldes klagen, daß er kein herzfrischer Waidmann mehr war, wie in früheren Tagen. Wer es gewöhnt ist, in Tönen zu sagen, was er liebt und leidet, der vermag es nicht, in bewegten Stunden diese Wohlthat zu entbehren,