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Zehnstundentag könne jetzt schon ohne Schädigung der Industrie gesetzlich einge­führt werden. Aber der unmittelbare Uebergang zu dem Achtstundentag würde es unmöglich machen, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Freiherr Heyl v. Herrns­heim (nat.-lib.) bemerkt: die Einführung des Zehnstundentages würde die kleineren Betriebe schädigen und nur den großen Betrieben nützen. Angesichts der Zoll­politik anderer Länder dürfe unsere In­dustrie nicht durch die Vermehrung der Produktionskosten geschwächt werden. Schädlich für die Arbeiter seien eigent­lich nur die Ueberstunden. Frhr. v. Stumm (Rp.): Der Antrag Auer sei für die Industrie ein Schlag ins Gesicht. Ein längerer Aufenthalt der Arbeiter in den Fabriken sei jedenfalls nicht so schädlich, wie das Vereinswesen mit dem Wirtshaus­besuch. Das englische Beispiel passe nicht.' Der englische Arbeiter nähre sich besser, sei auch nicht so vergnügungssüchtig. i Die Arbeitslosenstatistik zeige, daß eine' Reservearmee von Arbeitern gar nicht be-! stehe, um das Plus von 20 Prozent an > Arbeitskräften zu decken, das durch Ein-! führung des Achtstundentages erfordert, würde. Wir müßten diese Arbeitskräfte! der Landwirtschaft entziehen oder Kulis ' importieren. Ich wünsche auch, daß der! Bundesrat die Arbeitszeit in den gesund- ^ heitsschädlichen Betrieben regelt. Dem Bundesrat hätte aber nicht mit der-! ckerei anfangen sollen, dem gesündesten Gewerbe, das wir haben. (Lachen bei den Sozialdemokraten.) Schneider (freis. ! Vp.) führt aus, mit einer Verkürzung! des Arbeitstages könne man wohl ein-' verstanden sein. Die Materie dürfe aber nicht gesetzlich und schablonenhaft geregelt werden. Biudewald (d. Reformp.) ist für den Antrag Hitze. Hierauf Vertagung.

6. Febr. (Reichstag.) Fortsetzung der gestrigen Beratung. Rick ert (freis. Vgg.) führt aus: Daß der Antrag der freisinnigen Parteien bestellte Arbeit des Staatssekretärs v. Marschall nicht ge­wesen sei, haben die gestrigen Verhand­lungen erwiesen. Es ist ihm begreiflich, daß die Ausführungen des letzteren die Rechte nicht befriedigt hätten. Die von ihm dargelegten Grundsätze sind derselben nicht sympathisch. Die Regierung habe die konservative Partei zu sehr verwöhnt. Liebermann v. Sonnenberg (Antis.) hält die politische Polizei für notwendig, gibt aber Ausschreitungen zu. Er hält das Vorgehen des Freiherrn v. Marschall für richtig, meint aber mit den Konser­vativen, daß es besser gewesen wäre, vor­her Schritte zu thun, um den Prozeß unnötig zu machen. Typisch war in dem Prozeß gewesen, Leckert und seine jüdische Mutter, Lützow mit seiner jüdischen Frau, Gingolf Sterk mit dem auserwählten Volke. Redner hat seit Jahren einen Kamps gegen Norm ann Schumann geführt. Leider ohne Erfolg. Dieser Herr sei von hohen Konservativen, ebenso von Rabbinern empfangen worden. Er habe Beziehungen zu Blättern aller Art unterhalten. Redner beleuchtet die Thätig- keit Normann Schumanns zur Ueber- wachung der antisemitischen Partei, seine Beziehungen zu dem unglücklichen Punsche und zu dem unzurechnungsfähigen Ahl- wardt. Der Abgeordnete Richter habe Recht, wenn er Schutz verlangt für po­litisch unliebsame Personen gegen die po­litische Polizei. Der Prozeß Leckert-Lü­

tzow habe zu früh geendet. Hoffentlich bringe der Prozeß Tausch Aufklärung. Der Reichskanzler und Graf Caprivi habe zu ihm (dem Redner), als er eine Au­dienz bei ihm hatte, um zu verhindern, daß wir zu den Judenflinten noch Juden­granaten bekommen gesagt: Das aus- j wärtige Amt führt einen wahren Krieg ! gegen Normann-Schumann. Redner fragt,

! warum dieser Mann nicht gefaßt worden sei; er sei doch in Berlin gewesen und anderseits habe man doch den unglück­lichen Frhrn. v. Hammerstein sogar in Griechenland gefaßt. Friedberg (natl.) erklärt, daß er mit den Ausführungen Marschalls über die Notwendigkeit des Prozesses einverstanden sei. Redner wendet sich sodann gegen die Angriffe Bebels ' auf Bismarck und wirft Bebel unehrliche > Methode vor. Kardorff (Reichsp.) muß ! zugeben, daß es durch die gestrigen Aus- führungen des Staatssekretärs v. Mar­schall zweifelhaft geworden sei, ob eine Disziplinaruntersuchung ebensolche Resul­tate zu Tage gefördert haben würde. Dankenswert sei die Aufklärung, daß Hinterniänner nicht vorhanden seien. Man hatte noch immer gehofft, daß doch Fäden nach Friedrichsruhe führten. Aber er be- daure, daß der Prozeß überhaupt habe geführt werden müssen. (Heiterkeit!) Ja, meine Herren, unter dem Fürsten Bis­marck märe dies überhaupt nicht möglich gewesen. Er hätte die Tausche mit eisernem Besen ausgekehrt. Ganz einverstanden sei er mit der Behandlung der Presse durch das auswärtige Amt.

Berlin, 5. Febr. Die Ausschüsse des Bundesrats berieten heute über die Reform der Militärstrafprozeßordnung. Der württ. Finanzminister Or. v. Riecke hatte im Reichstag eine längere Unterredung mit dem Abg. Gröber.

Fürst Bismarck erklärte kürzlich einem Besucher:Ich fühle mich matt, aber nicht krank. Meine Krankheit ist Mangel an Lebenslust. Meine Existenz' hat keinen Zweck mehr. Dienstliche Pflich­ten liegen mir nicht mehr ob; was ich als Zuschauer sehe, daran habe ich keine Freude. Wenn ich noch länger lebe, wird dies immer weniger der Fall sein. Ich fühle mich einsam; meine Frau habe ich verloren und meine Söhne gehen ihren eigenen Geschäften nach. Auch die Land- und Forstwirtschaft hat mit dem zuneh­menden Alter das Interesse für mich ver­loren. Feld und Waid besuche ich nur selten, mir fehlt die Lust dazu, seitdem ich nicht mehr reite, jage und nach Be-! lieben durch die Büsche kriechen kann. Allmählich fängt auch die Politik an, mich! zu langweilen. Wie gesagt, Mangel an! Lebenslust, das ist meine Krankheit, wenn' ich eine habe."

Nach dem Ergebnisse der Sammel­forschung des kaiserl. Gesundheitsamtes' an welchem sich 258 Aerzte beteiligten, ^ wurden in der Zeit vom April 1895! bis März 1896 9581 Diphtherie-Kranke mit Heilserum behandelt und starben hie­von nur 15 °^g. Der große Nutzen der frühzeitigen Behandlung zeigte sich sehr deutlich; so betrug z. B. das Sterblich­keitsverhältnis bei den am 1. Tage Jn- jizirten 6,6 pCt. bei den am 5. Tage Jnjizirten 23,2 pCt. Nach obigen Er­gebnissen ist daher die Behandlung der Diphtherie mit Heilserum als ein Fort­schritt auf dem Gebiet der Therapie zu bezeichnen.

Hamburg, 6. Febr. Der Hafen- arbeiterstrike ist beendet. Die Ab­stimmung der Streikenden ergab 65 Proz. der Stimmen für Wiederaufnahme und 35 Prozent gegen die Wiederaufnahme der Arbeit.

Mülhausen i. E., 5. Februar. Seit heute früh 6 Uhr steht die große Baumwollspinnerei von Dollfus und Mantz in der Franklinstraße in Flammen. Das Hauptgebäude sowie auch die Neben­gebäude der Fabrik sind vollständig nie­dergebrannt. Der Schaden wird auf 800 000 Mk. geschätzt. 200 Arbeiter sind brotlos geworden. Die Entstehungsursache ist unbekannt. Die angrenzende Gasan­stalt, sowie eine Anzahl kleinerer Grund­stücke waren längere Zeit in großer Ge­fahr, jedoch ist das Feuer nunmehr auf seinen Herd beschränkt.

Brüssel, 3. Febr. Nachdem schon seit geraumer Zeit Gerüchte über einen neuen Skandal, diesmal in den belgischen Hofkreisen, verbreitet waren, haben die- selben in den letzten Tagen eine derartige greifbare Gestalt angenommen, daß die hiesige Jnvep. Belge trotz ihrer Be­ziehungen zum belgischen Hofe nicht an- stand, derselben Erwähnung zu thun. Es handelt sich um die älteste Tochter des belgischen Königspaars, die Prin­zessin Luise, Gemahlin des Prinzen Phi­lipp von Koburg-Cohary (ältesten Bru­ders des Fürsten Ferdinand von Bul­garien). Es heißt, die Prinzessin sei in Begleitung eines Husarenoffiziers ihrem Gemahl durchgebrannt. Nach den Er­kundigungen, die ich in den hiesigen Hof­kreisen eingezogen habe, hat die Sache allerdings einen Hintergrund, scheint aber von der Presse übertrieben worden zu sein. Als feststehend kann angesehen werden, daß die Ehe der Prinzessin Luise von Belgien mit dem Prinzen Philipp von Koburg-Kohary keine glück­liche ist. Mehr als einmal war die Prinzessin entschlossen, die Trennung ih­rer Ehe zu fordern, stieß aber damit auf den Widerstand ihrer königl. Eltern, die, abgesehen von dem zu erwartenden Skandal, auch aus religiösen Bedenken diesem Schritte widerstrebten. In Folge eines heftigen Auftritts mit ihrem Ge­mahl verließ die Prinzessin vor etwa zwei Wochen das Haus des Prinzen Phi­lipp, und dies gab zu den abenteuerlich­sten Gerüchten Anlaß. Ob dieser Schritt als ein endgiltiger zu betrachten ist, bleibt noch abzuwarten. Gegenwärtig machen Kaiser Franz Josef, an dessen Hof das Prinzenpaar von Koburg lebt, und Kö­nig Leopold alle Anstrengungen, um eine gütliche Beilegung des Zwistes herbeizu­führen.

Chambery, 5. Febr. Eine Abtei­lung Alpenjäger wurde beim Uebergang über den Traversette-Paß durch eine La­wine in den Abgrund gerissen. Drei Alpenjäger wurden getötet, mehrere ver­letzt.

Athen, 6. Febr. Nach einer De­pesche aus Kanea von gestern Abend sind s/4 des christlichen Stadtteils in Brand gesteckt worden. Mehrere christliche Fa­milien, die sich auf die Kriegsschiffe flüch­te,: wollten, wurden von Türken ange­griffen, wobei mehrere Personen getötet wurden. Die Zahl der Opfer wird auf 300 geschätzt. Gerüchtweise verlautet, die mühamedanische Bevölkerung habe die zum Schutz der kathol. Kirchen und Schn-