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nugthuung über die Annahme der Militär- Vorlage angeführt werden. Man solle doch nicht vergessen, daß in der Person des Monarchen nur das allen Parteien gemeinsame Vaterland verehrt wird. (Lebhafter Beifall.) Der Redner bespricht dann d e Vorgänge in Hannover, er protestiert gegen die gestrigen Ausführungen des Kriegslist» sters, die zu sagen schienen: was geht die Armee den Reichstag an? Die öffentliche Meinung habe das Recht gewissen Erscheinungen in der Armee näher zu treten. Redner wendet sich den neuen Steuerplänen zu. Er bemängelt, daß man dauernde Steuern verlangt, während doch die Heeresorganisation und die Finanzreform nur für 5 Jahre berechnet feien, und polemisiert dann gegen die gestrigen Ausführungen Po- sadowskhs über die finanziellen Berechnungen der Militär-Kommission. Wir haben keine Veranlassung neue Steuern zu bewilligen, bevor die bestehenden Privilegien, die Liebesgabe und die Zuckeraussuhrprämien nicht beseitigt sind. (Bravo links.) Die fortgesetzte Steigerung der Militärausgaben ist schuld an der schlechten Finanzlage, aber welcher einzelstaatliche Finanzminister erhebt heutzutage im Bundesrat dagegen Widerspruch ? Die schbmm- sten Kriegszeiten würden solche Steuergesetze nicht rechtfertigen, wie sie Miguel ersonnen. Dieser verweise auf England, aber hat England Salz-, Zucker- und Getreidezölle? Schaffen sie diese erst ab, dann kommen Sie mit der Tabaksteuer! (Lebhafter Beifall.) Redner unterzieht unter lebhaftem Beifall der Linken die neuen Steuergesetze einer vernichtenden Kritik und legt dar, daß der gesamte Finanzplan der Verfassung widersprach. (Lebhafter Beifall.) Staatssekrekär Pojadowsky weist in seiner Polemik gegen Richter alsdann nach, daß die Regierung nur so viel, wie erfodcr- lich, verlangt. In der Militärkommission habe Richter sich über die Finanzlage anders als heute geäußert. Von der Abschaffung der Liebesgabe könne keiner reden, der die Not der Landwirtschaft aus eigener Anschauung kenne. Die Kontrolbestimmungen, über die man sich anläßlich der neuen Tabaksteuer entsetze, seien fast wörtlich dem Branntwein- und Zuckersteuergesetze entnommen. Finanzminister M i- quel wendet sich ebenfalls gegen einzelne Behauptungen Richters, namentlich betonend, daß die geplante Finanzreform keine Machtfrage dorstelle, sondern Grundsätze des Rechts und der Billigkeit im Verhältnis des Reichs zu den Einzelstaaten zur Geltung bringe und eine sichere Gewähr gegen die fortgesetzte Steigerung der Ausgaben biete. Frege (konserv ) giebt zunächst seiner Befriedigung darüber Ausdruck, daß das geplante Attentat auf den Reichskanzler abgewendet worden. Nach der Auseinandersetzung der letzten Tage zwischen seiner Partei und dem Reichskanzler, gereiche es gerade ihm zurGenugthung, das auszusprechen. Redner unterzieht darauf die einzelnen Etat« forderungen einer wohlwollenden Kritik. Statt der Beseitigung der Liebesgabe sollte man ein Rohspritmonopel, eine Jnseratensteuer und eine hohe Emissionssteuer verlangen.
Berlin, 29. Nov. Die Freikonservativen (Reichsp.) beantragen im Reichstage, den Reichskanzler um beschleunigte Vorlage eines Gesetzentwurfs über die organisierte Vertretung des gesamten Handwerks in Handwerker-Kammern, 'welchen das Lehrlings- und Herbergewesen, sowie der Befähigungsnachweis anzuvertrauen sei, zu bitten; ferner um Einschränkung der das Handwerk schädigenden Gefangenenarbeit.
Berlin, 29. Nov. (Reichstag.) Präs, v. Levetzow sagt unter tiefer Bewegung
des Hauses: Der Reichstag war gestern schmerzlich berührt unv tief entrüstet über die Nachricht von einem Atlentalsversuch aus den Reichskanzler. Heute kam die Kunde hinzu, daß ein ähnliches verbrecherisches Attentat auf den Kaiser unternommen worden ist. Ich glaube, in Ihrer Aller Namen zu sprechen, wenn ich erkläre, daß das Haus den Versuch nicht nur schmerzlich bedauert, sondern auch in höchstein Maße darüber entrüstet ist und Gott dankt, daß dieser Versuch weitere üble Folgen für Kaiser und Reich nicht gehabt hat. (Allse,- tiger lebhafter Beifall.) Das Haus beschließt die Aufhebung des Strafverfahrens gegen Bueb. Hierauf wird die 1. Lesung des Etats fortgesetzt Möller (nat.-lib.) anerkennt, daß der Etat im allgemeinen sparsam angelegt sei. Seine Partei stimme den Forderungen für die Kolonialzwecke zu. Im Militäretat ließen sich manche Abstriche machen. Redner tritt für die Reform des Militärstrafprozesses ein. Anerkennenswert sei die Sparsamkeit im Marine- Etat. Ein Teil seiner Partei wünsche, daß man mit der großen Finanzreform noch nicht vorgehe, sondern zunächst nur die Mittel für die Durchführung der Militärvorlage beschaffe. Ein großer Teil der Nat.-Liberalen halte Tabak und Wein für steuerfähige Objekte, aber die betr. Gesetzentwürfe für verbesserungsbedürftig; ein anderer Teil der Partei befürworte eine Erbschaftssteuer und eine Wehrsteuer. Haußmann (südd. Volksp.) bedauert, daß der deutsche Geldmarkt Italien in dessen wirtschaftlichen Verlegenheiten nicht beistehen konnte, da Deutschland durch die Kosten der Militärvorlage und die Erhöhung der Reichsschuld in Anspruch genommen sei. In der Kolonialpolit k fehle der Regierung ein festes Programm. Redner wünscht Maßregeln behufs Assimilierung Elsaß-Lothringens mit Deutschland, sowie eine Reform des Militär- strasprozefses und eine Aenderung des Mb- tärpensionswesens. Weiter tadelt Haußmann das neuliche Auftreten des Kriegsministers. Er spricht gegen die Weinsteuer, die Tabaksteuer und die Quittungssteuer und warnt davor, daß durch eine falsche Neichsfinanzpolitik das Band gelockert werde, welches die E nzelstaa- ten zusammenhält. Generallieutenant v. Spitz weist Namens des erkrankten Kriegsministers die Kritik des Abg. Haußmann an der vorgestrigen Rede des Kriegsministers zurück. Preußischer Finanzminister Dr. Miguel erklärt die Bereitwilligkeit der Regierung zu einer Umgestaltung der Steuergesetzentwürfe, besonders bezüglich der Kontrolvorschriften, und weist die Reichseinkommenstener, die Bermö- gensteuer und die Erbschaftssteuer zurück. Nur die Regierungsvorlagen stünden auf praktischem Boden. v. Kardorff (Reichsp.) mißt der Handelsvertragspolitik die Schuld an den finanziellen Verlegenheiten bei und weist die offiziösen Angriffe gegen den Bund der Landwirte zurück. Er verteidigt die Liebesgabe und die Finanzreform.
Berlin, 30. Nov. (Reichstag.) Forts, der ersten Etatsberatung. Zimmermann (Antis.) meint, die Regierung vernachlässige die Interessen des Mittelstandes und bekämpft die vorgelcgten Steuerentwürfe. Er befürwortet die stärkere Heranziehung der Börse, eine progressive Erbschafts- und eine Ein, kommensteuer. — Liebknecht (Soz.) wendet sich gegen die Antisemiten. Nicht die Juden, sondern das Kapital sei der Feind der Bauern und Handwerker. Redner wich mr Ordnung gerufen, als er die Aeußerungen des Kriegsministers anläßlich des Spieler- Prozesses in Hannover verhöhnt. Er fährt fort: Mit den Attentaten gegen den Reichs
kanzler und den Kaiser habe die Sozialdemokratie nichts zu thun, denn sie betracht- j des Attentat als Wahnsinn oder gemeines Verbrechen. Der Anarchismus komme nur in solchen Ländern vor, wo eine gesunde sozialistische Bewegung nicht ex-sstere.
Mailand, 29. Nov. (Eisenbahn-Un- glück.) Der gestern abend abgelassene Schnellzug nach Venedig-Wien stieß auf der Station Lunota, 15 Kilometer von Mailand, auf einen Güterzug. Die Maschine wurde zertrümmert, sechs Wagen, worunter der Schlafwagen, gerieten m Brand. 40 Personen wurden verbrannt und getötet und viele verwundet; die Getöteten sind meistenteils Reilende der 3. Klaffe. —
6 Personenwagen, sowie Lokomotive und Tender des Eilzugs und ferner die Lokomotive des Güterzugs liegen durcheinander. Es ist unmöglich, die Zahl der Opfer genau festzustellen. Ein Wagen enthielt aus Amerika zurückkehrende Auswanderer; sie sind alle verbrannt, zum Teil lebendig. Die Ursache des schrecklichen Unglücks war der Nebel, welcher den Zugführer verhinderte, das Signal zu sehen, daß die Linie nicht frei sei, die Ursache des Feuers war die Gasbeleuchtung in den Wagen.
Aus Stadt und Umgebung.
Wildbad, 29. Nov Der frühere Buchhalter O. der hiesigen Papierfabrik, soll aus der Fabrikkasse und der Krankenkasse der Fabrik-Arbeiter größere Summen veruntreut haben. Untersuchung ist gegen ihn im Gange.
Calmbach, 28. Nov. Gestern abend ereignete sich hier ein bedauerlicher Unglücksfall. Ein Fuhrknecht, Jakob Volz von Aichelberg (O.A. Calw) war m:t Abladrn von Langholzstämmen vor einer hiesigen Sägmühle beschäftigt; ein St»mm fiel zu Kalo herab und zerschmetterte dem Unglücklichen den Kopf, so daß er nach wenigen Minuten starb. Der Verunglückte hatte das Lob eines braven, soliden fleißigen Knechtes.
Die Kleintierzucht
und
ihr Einfluß ans -et^Bolksrvohlstand.
Die Ernährungschenm setzt 20 Hühnereier an Nährungswert gleich 1 Kilogramm besten, mittelfesten OchserMisches. In unseren Großstädten kostet das Kilogramm dieses Fleisches durchschnittlich 1 Mk. 40 Pfg. bis 1 Mk. 50 Pfg., während man, den Durchschnitt der vier Jahreszeiten gerechnet, dort 20 Eier für 1 Mk. erhält. Dieser Preis, das werben alle Hausfrauen zugestehen, ist nicht zu hoch angesetzt, bedenken wir aber, daß das Ei in rascher Zunahme ein Bedürfnis der Volksnahrung wird, daß Kindern, Schwachen und Kranken die Eier als ein unübertreffliches Nahrungsmittel gereicht werden, der Verbrauch der Eier in Krankenhäusern einen kolossalen Umfang annimmt, so muffen wir zugestehen, daß der Preis von 1 Mk. für 20 Eier ein hoher ist, daß die jeden Winter eintretende Preissteigerung auf 7, 8, ja sogar bis 10 Pfg für das Ei eine ungeheuer schädliche und traurige ist. Rechnen wir zu diesem Verbrauch der Industrie, welche Unmasse,> von Giern zur Herstellung von Konserven, zur fabrikativen Gewinnung ves Albumins (z. B. für die Zeugdruckerei) verwendet, die Zahl kann ziffermaßig noch gar nicht festgestellt werden, lo beweist unS ichon das Ei als der erste Anfang des Werdens, wie sehr die Kleintierzucht in Deutschland »och die gewinnbringendste Ausbreitung vor sich hat, es beweist uns aber