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großen Nachbarn überlegen sein, alsdann wird der Revanchegedanke den Boden verlieren. Die Regierungen erklären, ein weiteres Nachgeben nicht verantwörten zu können. Jetzt sind wir also vor die Lage gestellt, entweder wir wollen die zweijährige Dienstzeit und die Verjüngung der Armee, oder wir verzichten darauf. Da meine ich doch, wenn an dem Widerspruch des Reichstags diese alten Wünsche des Volkes scheitern würden, dann würden die, die daran schuld sind, die Nackenschläze der Nation schwer fühlen. Die Deckungsfrage anlangend, so muß man das Notwendige unter allen Um­ständen bewilligen. Die dauernde Abwälzung der Kosten auf die Matrikularumlagen halte ich nichr für möglich. Sehr wünschenswert wäre ein Einverständnis mit den Regierungen schon im Interesse der Beruhigung der Indu­strie und der Erhaltung des politischen und diplomatischen Ansehens. Reichskanzler Graf Caprivi: Die Ausführungen Gröbers zeigten, daß die demokratische Richtung im Ccntrum immer weitere Fortschritte gemacht hat, daß das Centrum aus einer konfessionellen Partei in eine politisch demokratische übergeht. Gröber hat die Regierung angegrifsin, als ob sie unehrlich gehandelt hätte. Bezüglich der Deckungsfrage begreife er (der Kanzler) nicht, wie man sein Verhalten unehrlich nennen könne. Dieses Verhalten besteht darin, daß ich Dinge nicht sage, die ich zum Teil gar nicht weiß, zum Teil nicht sagen will, weil ich befürchte, daß dadurch eine Beunruhigung des Erwerbs­lebens entstünde. Vielleicht ist auch dieser Ausdruck Gröbers (unehrliches Verhalten des Kanzlers) eine Folge der zunehmenden demo- tratischen Richtung des Zentrums. Die Vor­lage hat die Absicht zu beruhigen, nicht zu beunruhigen. Gröber hat dann eine Behaup­tung aufgestellt, die mich an eine frühere Aeußerung Liebers erinnert. Derselbe sagte einmal, daß, wenn man nicht so viele Sol­daten habe, auch nicht so viele getötet würden. Das ist beinahe so, als wenn man beklagte, daß die Bevölkerungsziffer zunimmt, da dann auch mehr Leute sterben. (Heiterkeit.) Nach diesem Grundsätze wäre es allerdings am Besten, wenn man gar keine Soldaten hielte. Die strategische Seite der Vorlage spitzt sich zu der Frage zu, ob man Anhänger der Quantität und Qualität ist. Jedermann muß aber zugeben, daß die Quantität oder Ouali- lät eine Grenze haben. Daß wenn die Quan­tität ihre Grenze hat, dann keine Erfolge zu erzielen sind, das lehrt jede Seite der Ge­schichte. Je schlechter eine Truppe, desto blu­tiger und länger der Krieg. Dieses Rezept giebt uns auch Gröber. Wollten wir nach einem Stege in Frankreich stehen bleiben, was übrigens nicht von uns, sondern von Frank­reich abhängt, so hieße das den Krieg ins Unendliche verlängern. Preiß (Elf.) erklärt sich gegen die Vorlage. Böckel (d. Re- formp-, Antis.) macht die Zustimmung zur Vorlage von der Erklärung der Regierung ab­hängig, daß die notwendigen Verbrauchsgcgen- stände nicht höherbesteuert werden. Richter (freis. Volksp.) hält an der ablehnenden Haltung gegenüber der Vorlage fest. Jazdzewsky (Pole) erklärt, seine Fraktion werde für die Vorlage stimmen. Rickert (freisinnige Vereinigung) stimmt im Grundsatz der Vorlage zu. Er würde lieber aus dem Liberalismus austreten, als sich zwingen lassen, das Nötige zur Sicher­ung des Vaterlandes nicht zu bewilligen. (Leb­hafter Beifall.) Die 2. Lesung findet am Donnerstag statt.

Berlin, 10. Juli. Vielfach erwartet man den Schluß des Reichstags nächsten Mon­tag, günstigen Falls schon am Samstag. Außer

den Interpellationen und den Notstandsantär- gen ist auch noch der NachtragS-Etat zu erledi­gen, so daß von geschäftskundiger Seite ein so zeitiger Schluß auch wieder bezweifelt wird.

Berlin, 10. Juli. Der seit einigen Tagen verschwundene Bankier Hugo Oppen­heim, der Inhaber des Bankgeschäfts Moritz Eduard Meyer in der Behrcnstraße, wurde als Leiche aus dem Wasser gezogen.

Berlin, 11. Juli. Zu Vorsitzenden der Fachkommissionen wurden gewählt: Fürs Budget Kardorff, für die Geschäftsordnung Singer, für die Wahlprüfung Marquardsen. Zu den Sekretären der deutschen Handels­kammern sagte nach den Hamb. Nachr. Fürst Bismarck: Handels- und Gcwerbekammern gehören notwendig zusammen. Unrer Gewerbe begreife er auch unbedingt die Landwirtschaft mit; beide müffen zusammen gedeihen, oder gehen zusammen unter. Ein durch unge­schickte Gesetzgebung oder Handelsverträge ver­armendes Land könne den Kaufmannsstand nicht ernähren. Wo die Gewerbe arm, da sind auch die Kaufleute arm; wo die Indu­strie prosperiere, habe auch die Landwirtschaft zu leben. Wo das nicht ist, sollte eine In­dustrie geschaffen und von Landwirten gepflegt werden. Es wäre besser, wenn wir noch zehn­mal mehr Millionäre hätten, wie dies in England und Amerika der Fall ist, von deren, Luxus Millionen von Existenzen leben. Halte» wir alle zusammen, Produzenten jeder Art Industrielle, Handwerker, Landwirte und Kauf­leute.

DasBert. Tagebl." schreibt, daß Ahlwardt in einer Volksversammlung die Einführung einer Wappen« und Titelsteuer vorgeschlagen: für einen gewöhnlichen Edel­mann 2000 Mk., und jo steigend bis zu den Fürsten und densonstigen Herren" ohne Amt. Für den neuen Adel wäre der zwanzigfache Satz gegenüber dem alten Adel angemessen. Diese Vorschläge, sagt er, werde er in den nächsten Wochen im Reichstage machen. In den Zeitungen werde man dann freilich lesen, der früher schon zu sieben Achteln verrückt gewesene Ahlwardt sei jetzt ganz verrückt geworden, indessen kümmere er sich um solches Geschwätz nicht.

Aus Friedrichsruh, 8. Juli. Fürst Bismarck, der von seiner Unpäßlichkeit voll­ständig wieder hergestellt ist, empfing heute einen Huldigungsbesuch von 400 Lippe-Det- moldern, deren Sprecher, Gutsbesitzer Busse- Wittinghausen eine begeisterte Anrede hielt. Der Fürst antwortete in langer Rede, wobei er verjchiedentliche politische Verhältnisse be­rührte. Der Fürstin wurde ein prächtiges Fotografiealbum Detmoldijcher Ansichten über­reicht. Eine Abordnung der Besucher wurde von Bismarck zur Tafel gezogen.

Paris, 10. Juli. Jetzt, nachdem der Sturm vorüber ist) sieht man erst die Ver­wüstungen, welche er angerichtet. Während sich noch heute 5060 Personen in den Spi­tälern befinden, um von den bei den Straßen­unruhen erhaltenen Wunden geheilt zu werden, ist noch gestern einer der Verwundeten gestor­ben, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Ganz Paris wimmelt von Truppen, welche die Gelegenheit der gegenwärtigen Ruhe benützend, sich Paris ansehen, bevor sie wieder in ihre Provinz-Garnisonen zurückkehren. So kann man gegenwärtig kaum auf öffentlicher Straße gehen, ohne singenden Abteilungen von Soldaten zu begegnen.

Bezüglich der jüngsten Pariser Straßenunruhen teilt ein Augenzeuge der Vorgänge, der sich während jener bewegten Tage in Paris aufhielt, mit, daß die Ruhe­

störungen einen sehr ernsten Karakter trugen , und dem geschäftlichen, namentlich aber dem Fremdenverkehr von Paris schwere Wunden geschlagen haben. Insbesondere fanden sich die zu dieser Zeit in sehr großer Zahl in Paris anwesenden amerikanischen Besucher bewogen, fast vollzählig Paris zu verlassen und teils nach England, teils nach Deutsch­land abzureisen.

Der Verwaltungsrath der Suezkanal- Gescllschaft wählte Ferdinand Lesseps wieder zum Präsidenten.

Pisa, 10. Juli. Gestern Vormittag platzte unter den Arkaden des erzbischöflichen Palastes eine Bombe. Eine Schule wurde zerschmettert; verletzt wurde niemand.

AuS der Schweiz, 6. Juli. Das diesjährige eidgenössische Sängerfest, das vom 10. bis 12. Juli in Basel gefeiert wird, nimmt eine nicht dagewesene Ausdehnung an. Nahezu 5000 Sänger werden sich be­teiligen. 64 Vereine treten im Volk-sgesang aus, 19 im Kunstgesang. Am Samstag Abend 5 Uhr findet ein Begrüßungskonzert statt, und Sonntag Morgen beginnen in verschie­denen Kirchen und Konzerthallen die Wett« gesänge.

London, 10. Juli. Nach einem Tele­gramm aus Rio Grande do Sul ist ein teil­weiser Aufstand in dieser Provinz wieder aus­gebrochen. Die Stadt Rio Grande soll von den Aufständigen, deren Anführer, General Saraiva, sich in Pelotas aufhalten soll, be­lagert sein; in Bage ist der Eisenbahnverkehr abgeschnitten. Die Ausständigen nahmen ihren Feldzug wieder auf und hundert Bewaffnete, die sich als Fahrgäste auf dem DampferJu­piter" eingeschmuggelt hatten, nahmen unter Führung Wandenkotts, des ehemaligen Admi­rals und Ministers, der sich kürzlich von dem Präsidenten Floriano Peixoto losgesagt hat, von dem Dampfer, nachdem er Buenos-Ayres verlassen hatte, Besitz und brachten ihn gestern nach Rio Grande zurück.

London, 11. Juli. Der Professor der lateinischen Sprache an der Universität zu Ox­ford, Henry Nettleship, ist am Typhus gestor­ben.

London, 11. Juli. Kaum hat sich der Schrecken über den Untergang derVikioria" gelegt und schon wieder erregt eine Hiobspost die Gemüter. In Jorkshire sind, so schreibt dieKöln. Ztg.", durch eine Grubenexptosion 145 Menschen um's Leben gekommen. Gestern um Mittag wurde, wie schon telegr. gemeldet, in dem Dorfe Thornhill bei Dewsbury ein lauter Knall vernommen. Schlagende Wetter hatten in der nahe gelegenen Comb-Grube ihr Opfer gefordert. Bestürzt eilten die Mütter, deren Söhne, die Frauen, deren Männer, die Mädchen, deren Geliebten in der Grube schaff­ten, nach dem Bergwerke. Schon von fern sahen sie schwarze Rauchwolken aus dem Schachte aufsteigen, die ihnen alle Hoffnung benahmen. Der Verwalter der Grube erschien bald am Platz, seiner Aufforderung folgend, stiegen Frei­willige unterZeiner Leitung in die Grube hi­nab. Leider konnten sie aber nicht weiter Vor­dringen, denn der Rauch und die Nachwetter überwältigten fast die Rettungsmannschaften. Trotzdem gelang es ihnen, 4 stark verbrannte Leichen zu Tage zu fördern; dann mußten sie das Rettungswerk einstellen. Zur Stunde brenn die Grube; man hat die Hoffnung aufgegeben, die in dem Schachte weilenden 141 Berg­leute retten zu können.

Em schwerer Sturm richtete großen Schaden auf den britischen» Inseln an. Bei Skegneß zündete der Blitz ein Vergnügungs»