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stiegen. Die Leute müssen ihr hungerndes Vieh zu wahren Schandpreisen verkaufen, und bereits erhebt der Wucher sein drohendes Haupt gegen die Unglücklichen. Die deutschen Regierungen thun ihr Möglichstes, um die entsetzliche Not zu lindern; sie gewähren den Bauern gegen sehr niedrigen Zins von 2—3 Proz. Geldvorschüsse, haben dem hungernden Vieh die Staatswaldungen geöffnet, die Eisen- bahntarise für Torfstreu und Futtermittel beträchtlich herabgesetzt und wollen nun auch große Sendungen von Viehfutter aller Art aus dem Auslande beziehen, um dasselbe unter den Bauern zu verteilen. Letztere helfen sich inzwischen durch vorzeitige Einbringung der geradezu kläglich ausfallenden Heuernte.
Berlin, 25. Juni. Dem hiesigen amerikanischen Generalkonsulat ist heute von der Unionsregierung in Washington folgende Depesche zugegangen: Die Emwanderungsakte vom 3. März 1893 findet nur auf ausländische Einwanderer Anwendung. Personen, welche die Vereinigten Staaten besuchen, werden weder der durch diese Akte vorgeschriebenen Registrierung noch einer Befragung unterzogen.
Paris, 23. Juni. Der Chef des großen Generalstabs, General Miribel, ist gestern mit einer großen Anzahl Generalstabsoffizieren nach der Alpcngrenze abgcreist, wo er zu Pferde eine lange Studienreise machen wird.
Antwerpen, 22. Juni. Der Sanitätsrat des Hafens hat heute beschlossen, die mit russischen Auswanderern besetzten Schiffe 24 Stunden in Beobachtung zu halten, wenn sich ein Arzt anBord befindet und 48 Stunden wenn dies nicht der Fall ist. Diese Maßregel ist bereits heute an dem Dampfer „Enck", der 200 Russen an Bord hatte, in Anwendung gekommen.
Mailand, 24. Juni. Gestern zogen wiederum 2000 Mann vor das deutsche Konsulat, indem sie sozialistische Lieder sangen und Verwünschungen gegen Deutschland ausstießen.
London, 22. Juni. Aus Shanghai wird gemeldet, daß das chinesische Reich eine gründliche Reform seines Postwesens vornehmen und demnächst dem Weltpostverein beitreten werde.
London, 23. Juni. Das zum Mittelmeergeschwader gehörige englische Panzerschiff „Victoria" ist infolge eines Zusammenstoßes mit dem Panzerschiffe „Camperdown" bei Tripolis untergegangen. Der kommandierende Admiral Tryon und vierhundert Menschen sind ertrunken.
London, 24. Juni. Nach einer Depesche von der Admiralität von heute fand der Zusammenstoß der „Viktoria" mit dem „Camperdown" nachmittags während des Manövrierens statt. Die Viktoria sank nach 15 Minuten bei 150 Meter Wassertiefe mit dem Kiel nach oben. Außer dem Admiral Tryon ertranken Kapitän Clerk-Allen, Lieutenant Munro, Marinepfarrer Morris 5 Ingenieure, 8 Seekadetten. Die „Viktoria" wurde von dem „Camperdown" an der rechten Seite angerannt. Der „Kamperdown" schwer beschädigt, muß zur Reparatur in das Dock gehen. Von den 650 an Bord der „Viktoria" befindlichen Leuten wurden 255 gerettet. Es ertranken somit 325 Mann. Die gerettete Besatzung wurde nach Malta gesandt.
Petersburg, 22. Juni, Aus Romanow (Borrisoglebsk) wird gemeldet: In der Auferstehungskathedrale entstand bei der Prozession, an der eine zahlreiche Menge teilnahm, durch plötzliche Feuerrufe ein großer Schrecken.
Eine AuSgangsthür war verschlossen. Hier entstand ein furchtbares Gedränge, bei dem viele erstickten; andere sprangen aus den Fenstern und fanden dabei den Tod. Insgesamt zählt man 136 Tote und zahlreiche Verwundete. Es ist bisher unaufgeklärt, wer das Unglück verschuldet hat. Der Feuerruf war unbegründet.
Lokales.
WiIdbad, 25. Juni. Wegen der gegenwärtigen anhaltenden großen Futternot waren auf heute mittag die hiesigen Vceh- besitzer zu einer Beratung betr. Maßregeln zur Abwehr derselben vom Stadtvorstand eingeladen; es folgten der Einladung ca. 100 Viehbesitzer von hier und den Parzellen. Nach einem eingehenden Bericht des Stadtvorstands über die hiesigen Verhältnisse kam die Versammlung zu dem Beschluß, von einer Inanspruchnahme der Gemeinde durch Abgabe von unverzinslichen Vorschüssen vorerst abzusehen, dagegen an die zuständigen Regierungsbehörden die dringende Bitte zu richten, wenigstens über die Zeit der allergrößten Futternot die Waldungen des Staats und der Stadt zum Waideaustrieb des Viehes wieder zu eröffnen.
Ergebnitz -er Reichstags-Stichwahlen.
I. Wahlkreis. Stuttgart (Stadt u. Amt) Sigle (naüonal-lib.) 16 064 St., Kloß (Soz.) 15 825 St. Siegle gewählt.
Resultat der ersten Wahl: Siegle 11,111, Kloß 13.340 St.
II. Wahlkreis. Cannstatt, Ludwigsburg, Marbach, Waiblingen. Kallenberg (deutsche Partei) 8000 St., Schnaidt (Dem.) 12545 Stimmen.
III. Wahlkreis. Besigheim, Brackenhcim, Heilbronn, Neckarsulm. Maier (deutsche Partei) 9469 St., Haag (Dem.) 13280 St.
IV. Wahlkreis. Böblingen, Leonberg, Maulbronn, Vaihingen. Schrempf (cons.) 6896 St., Kercher (Dem.) 9988 St.
V. Wahlkreis. Eßlingen, Kirchheim, Nürtingen, Urach. Weiß (national-lib.) 7984 St., Ehni (Dem.) 12 975 St.
X. Wahlkreis. Gmünd, Göppingen,Schorndorf, Welzheim. Schmid (deutsche Partei) 8586 St-, Speiser (Dem.) 11462 St.
Pforzheim: (Seither demokr.) Frank (nat.-lib.) 12 555, Rüdt (Soz.-Dem.) 9711. Somit Frank gewählt.
Karlsruhe i. B. v. Rheinau (natl.) 8146 Stimmen, Pflüger (freist) 9117 St.
Mannheim Baffermann (natl.) 15014 St., Dreesbach (Soz.) 12 672 St.
Heidelberg. Konsul Weber (natl.) mit 4000 Stimmen Mehrheit gegen Or. Gehrke (freist) gewählt.
Konstanz. Heilig (nat.-lib.) 8487, Hug (Zentr.) 11 434. Somit Hug gewählt.
Freiburg: Marbe (Zentr.) mit geringer Mehrheit gewählt.
Halle a. S., 24. Juni. Halle-Saal- kreis. Alex. Meyer (freist Ver.) ist mit 3000 St. Majorität gegen den bish. Abg. Kunert (Soz.-Dem.) gewählt.
Berlin. Berlin I Langerhans (freist Volkspartei) gewählt. Berlin II Fischer (Soz.) gewählt. Berlin III Vogtherr (Soz.) gewählt. Berlin V Schmidt (Soz.) gewählt. Es ist also nur Berlin I der freisinnigen Volkspartei verblieben, während II (Virchow), III (Munckel) und V (vr. Baumbach) für den Freisinn verloren gingen.
Kassel, 25. Juni. Endresultat: Hü- peden (kons.) 11812 St., Pfannkuch (Soz.) 10994 St.
Hannover, 24. Juni. Meister (Soz.) 22008, Lichtenberg (nat.-lib.) 16065
Straß bürg i. E., 24. Juni. Der Sozialist Bebel ist mit 8193 Stimmen gegen den bish. Abgeordneten Petri (nat.lib.), der 7693 erhielt, gewählt. Die elsäß. Protestler stimmten für Bebel.
Kaiserslautern, 24. Juni. In Ludwigshafen ist Clemm (nat.-lib., bisher Abg.) mit etwa 6000 Stimmen Mehrheit gegen Ehrhardt (Soz.) gewählt.
Hagen i. W., 25. Juni. Eugen Richter (freist Volksp.) mit 13000 St. gewählt. Breil (Soz.) 9000.
Uiifkl-HMkndks.
Aur ein Modell.
Nach dem Englischen
(Nachdruck verboten.)
(Schluß.)
Die Gefährtin Mariens war nicht zu Hause, das eiste, was Marie beim Eintritt in die Augen fiel, war ein großer Brief, der auf dem Tische lag. Er trug ihre Adresse und mutzte in ihrer Abwesenheit aiigekommen sein. Als sie ihn mit neugierigem Erstaunen geöffnet hatte, las sie im Verein mit Richard folgendes; Herr Mark Fclliott teilt der Adressatin mit, daß er beim Anblick des Gemäldes in der Gallerie, das er im Kataloge als Portrait bezeichnet gefunden, erstaunt gewesen sei über die Aehnlichkeit mit einer gewissen Miß Norrit, welche ihn vor zwanzig Jahre» oft in Gesellschaft ihres Onkels, Sir James Norrit eines alten Clienten des Anwalts, in seinem Bureau besucht habe;
— daß besagter Sir James Norrit vor etwa einem Jahre ohne Testament gestorben sei und, wie sich herausgesteüt, keine Verwandten htnterlassen habe, ausgenommen jene Nichte, die sich mit einem Herrn Blackwood verheiratet habe und mit Hinterlassung einer Tochter gestorben sei; — daß er, der Schreiber des Briefes, bisher außer stände gewesen sei, die Spur dieses Sprößlings aufzufinden bis das Gemälde ihn daraus geführt, — daß er die feste Ueberzeugung habe, Adrefsatin sei die Tochter der Frau Blackwood, geborenen Norrit, und daß, falls Marie diese Jndentität beweisen kann, sie die Erbin von 600000 Mark und einem herrlichen Landsitze sei.
Eine ganze Weile blieben die beiden, nachdem sie den wunderbaren Brief gelesen, vor Staunen und Bewegung sprachlos, dann begann Marie: „Ja, rch erinnere mich wohl, daß meine Mutter oft von ihrem Onkel Sir James sprach und mir erzist'te, wie reich er sei, und daß die Heirat mit meinem Vater sie diesem Beschützer Ihrer Jugend entfremdet. Der gute Barer war damals schon gestorben und hatte uns in bitterer Armut zurückgelaffen." — „Marie," sagte Richard mit bebender Stimme, „nimm meinen Glückwunsch. Aber selbstverständlich kann nun nicht mehr davon die Rede sein, daß wir uns heiraten; ein Mädchen mit solchem Vermögen und einem Familienlandsitz darf sich nimmermehr an einen blutarmen, nicht einmal arbeitsfähigen Künstler wegwerfen."
— „So, meinst du?" war die Antwort, und gleich darauf verhinderte ein Kuß, den sie auf seine Lippen drückte, jeden weiteren Einwand. „Versuchs doch einmall"
Richard Lacy ergab sich auch diesmal in das so süße Unabänderliche. Er machte