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tischen Rußland das goldreichste Land der Erde. Es sind auch 130 Goldbergwerke im Gang, der Ertrag steht aber noch nicht im Verhältnis zur Reichhatigkeit des Gesteins, weil die Werke mit zu geringen Mitteln betrieben werden.
Wern, 3. Nov. Die Verwaltung der Jura-Bern-Luzern- Bahn mußte, wie die „Revue" schreibt, seine Barrierenwärterin aus St. Immer entlassen. Es wurde fcstgestellt, daß diese Frau vom 30. Januar bis zum 17. August 1885 oder in 210 Tagen 345 Ltr. Schnaps zu 55 Rp. per Ltr. verbraucht hatte. Oft kaufte sie 15 Ltr. auf einmal.
St. Avold, 4. Nov. Trotz der schlechten Witterung wird in den hiesigen Forsten tüchtig gejagt und wir sehen sehr häufig unsere Forstbeamten mit reicher Beute heimkehren. Namentlich wird den Wildsaueen erfolgreich zu Leibe gegangen. Im Walde bei Machern ist am 3. von dem Fürsten Ruland ein Wolf erlegt worben. Man hat öfter in letzter Zeit Wölfe bei Hellem Tage in unmittelbarer Nähe der Ortschaften gesehen.
— Ein kurioser Auftrag wurde in diesem Frühjahr einer Schuhfabrik in Foukouse von der französischen Kriegsverwaltung erteilt; nämlich 100 000 Paar Schuhe kleiner zu machen. Dieselben waren über alles Maß groß und trotzdem sonderbarer Weise angenommen worden. Bei der Untersuchung der Waare zeigte es sich, daß die Brandsohlen Füllung und Futter aus Pappdeckel und Papier bestanden. Man forschte nach und fand, daß auch die anderen Schuhe in den Magazinen so gemacht waren. Die Sache wird nun vor die Gerichte kommen, ist aber absolut nicht neu, denn schon im Krieg 1870/71 war die französische Armee, besonders aber die Loirearme, mit derartigem miserablen Schuhwerk ausgerüstet.
Sofia, S. Nov. Die Agence Havas meldet: Fünfzig serbische Soldaten überschritten gestern die bulgarische Grenze bei Rakita im Bezirk Trun und griffen den bulgarischen Posten an; der Posten erwiderte das Feuer und tötete einen serbischen Soldaten. Ein weiteres feindseliges Auftreten der Serben wird aus dem Distrikt Küstendje gemeldet. Es steht fest, daß seit 2 Tagen auf verschiedenen Punkten die serbischen Posten auf bulgarischem Gebiete stehen.
Tnikrhslikridts. -Ms
Aerr Schein trügt.
Novelle von Alfred Friedinairn.
(Fortsetzung.)
Weil ein schönes Mädchen schon früher schön gefunden worden, ehe wir es enrdeckten, die Pistole auf die Brust setzen?
Narren, Schwächlinge, Novellensiguren lyrischer Dichter thun das.
Die Welt ist weit, der Menschen sind viele, sie war die Rechte nicht. Und Albrecht hob das Haupt zur Sonne.
Rings um die Stadt ziehen sich schattige „Anlagen", zum Teil von uralten Kastanien-, Linden- und Ahornbäumen gebildet. Diese schritt er nun hin. Eine schwüle Luft lag in den vom Winde selten durchfegten Alleen und die blätterreichen Baumäste traten fast bis zur Menschenhöhe herunter — Albrecht wußte nun, woher das Gefühl der Gedrücktheit rührte, das er stets hier wieder empfand! —
Nun trabten zwei Reiter den weichen Reitweg an den Alleen dahin. Eine Heerde ungezogener nie gekämmter Straßenjungen, im Sande spielend, brach laut aufschreiend gegen das Eisengeländer los, das Anlage und Chausee trennte. Die Pferde scheuten und sprangen wild in den Fahrweg. „Wie boshaft und ungeschlacht ist die Jugend in meiner Vaterstadt." Er erinnert sich, daß er einmal bei einer ähnlichen Attaque mit dem Pferde gestürzt und daß er ein andermal beim Aufstiegen einer Schaar Spatzen aus einer einsamen Eiche im flachen Felde mit ihm durchgegangen.
Er bog wieder in die Stadt ein und gelangte alsbald auf den großen freien Platz. Auch hier hatten sich neue Colossal- bauten erhoben; Theater, Börse, Museen, neue Restaurants, alles stand dichtbeieinander, einen weiten Raum umzirkelnd.
Schon wollte er in ein Cafe, im Wiener Stile, eintreten, als ihn die Seltsamkeit der Straße reizte, an deren Ecke er eben stand.
Das Cafehaus sprang mit seinen zwei Fayaden weit hervor auf Platz und Nebenstraße. Die Häuser nach ihm in dieser waren dagegen wohl zehn Fuß zurückgebaut, wahrscheinlich weil eine Erweiterung geplant war, die aber nur bis zum Besitz des Cafe- Haus-Eigentümers durchführbar gewesen.
So bildete nun die aus unübertünchten Backsteinen aufge
führte Brandmauer des Cafes eine breite und hohe Barrierre zu den folgenden neuen Palästen an der Seitenstraße. Zwischen der Brandmauer, an der sich in den schwarzen Humus gepflanzter Epheu üppig bis zum Schornstein hinaufschlang, und dem nächsten neuen Gebäude aber war ein ganz schmales uraltes Häuslein stehen geblieben, wahrscheinlich weil es der Besitzer nicht veräußern wollte. Diese ganze Gegend stach durch ihr barockes, halb- und unfertiges Aussehen von der jungen Pracht des Hauptplatzes gar seltsam ab.
Das kleine Häuschen hatte drei Stockwerke und neun Fenster, es schien ein Puppenstübchen, ein Nürnberger Spielzeug zwischen seinen hohen Nachbarn. Die Schilderten an dem Kästchen besagten, daß hier ein Dachdecker, darüber ein Schwertfeger wohne. Ganz unten war nichts zu lesen. An einem der offenen Fenster saß ein alter Mann. Ein rundbogiges Thor führte in einen geräumigen Hof.
Albrecht betrachtete jetzt den Alten nochmals und sein Blick, der ihn fast zuerst nur flüchtig gestreift, war wie gebannt.
Italienische Künstlerwerke der Harfner Göthe's sehen so aus.
Schneeweißes Haar wurde von Stirn und Schläfen leicht über das Haupt in den Nacken gestrichen auf die breiten Schultern, ein mächtiger Vollbart, gleichfalls von hellstem Weiß, umrahmte das Gesicht, das rosig erschien, wo er es nicht bedeckte, und fiel auf das blendende Hemd, die Brust des Alten hinab, kaum eine flatternde Halsbinde sichtbar werden lassend.
Unter buschigen, noch dunklen Braunen blitzte ein feuriges und doch mildes Augenpaar hervor, das auf ein ruhiges, geschontes Leben des alten Mannes schließen ließ. Die edle Form der graden Nase, die roten Lippen, die noch gesunden, glänzenden Zähne dahinter vollendeten das Bild eines der sympathischsten Männerköpfe, die Albrecht noch gesehen.
Er blieb stehen und betrachtete eine Zeit lang den in dem Rahmen seines Fensters fast Reglosen. Der schöne Alte schien das Treiben um ihn her, das Herannahen der eleganten Coupe's und Cabriolets vor dem Theater, die herbeiströmenden Münner- und Frauenschaaren mit gleichgültigem Anteil zu beobachten. Er vertiefte sich in eine Zeitung und zündete sich schließlich eine Studentenpfeise an, deren Porzellankopf er aus dem Fenster auf die Straße hinaushielt, ja, stellte, so lange war das Rohr und so niedrig die ebenerdige Wohnung.
Albrecht wußte nicht, was ihn an dem Greise fesselte. Zunächst wenn er sich selbst auf seine Frage Rechenschaft geben sollte, die Aehnlichkeit mit einem Portrait, nein mit vielen Bildern, die er auf seinen Reisen in Gallerien oder anderweitig gesehen. Sodann die Schönheit, die Ruhe, die Milde des Antlitzes, ja, die Ausprägung aller dieser Eigenschaften, dieser Vorzüge in der ganzen Haltung, in jeder Bewegung des Mannes; er gedachte der Worte Winkelmanns, Lessing's, Goethes über Schönheit, Ruhe, Bewegung. Und so mußten Sophocles oder Aeschylos im Alter ausgesehen haben! Ja, es war etwas Antikes in dem beschaulich dasitzenden Manne.
Er interessirte Albrecht auf's Lebhafteste.
Der Künstler regte sich wieder. Gerne hätte er sogleich seine Bekanntschaft gemacht und ihn um seinen Lebenslauf befragt, der es dem Alten ermöglichte, dem Wogenschlag der Jahre einen so felsenartigen Widerstand entgegenzusetzen. Kein Unglück konnte diesen Mann betroffen, kein Kampf sein Leben verbittert haben, nur das Schöne mußte mit ihm auf seinen Pfaden geschritten sein, nur Schönes konnte er vollbracht, oder wenigstens gewollt haben.
Da tönte Helles Kindergelächter an sein Ohr; ein paar Bürgersjungen tummelten sich lachend, Reife und Kreisel vor sich hertreibend, über den wieder still und in der Dämmerung liegenden Platz. Der Alte verzog keine Miene und schien derartig in eine Erinnerung vertieft zu sein, daß ihn weltliche Dinge nicht stören konnten.
Das sollte aber doch geschehen. Denn die Knaben nahten sich zufällig oder absichtlich dem kleinen Hause, das so, wie der Alte vom Tode vergessen zu sein schien, und wie ein Fossil aus vergangenen Tagen zwischen modernen Schnitzereien stand.
Einer der Knaben streifte mit dem Fuße den Porzellankopf, der sich vom Rohre loslöste und auf das Pflaster fiel.
Ehe sich der Alte von dem Unfall überzeugen konnte, sauste die Schul-Jugend wiehernd und tobend, eine wilde Jagd, von dannen. Ebenso schnell hatte aber Wiegand, der in größerer Spannung auf und abgegangen, als die des im Theater nebenan sitzenden Publikums sein konnte, den Porzellankopf erfaßt und den unbeschädigten, glühenden, dem Alten in's Fenster hineingereicht.
Dieser, als ob nichts vorgefallen wäre, sagte: „Danke: Bitte