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Araber sich kaum 70 Km. vom Kadkul-Brunnen befanden, ohne daß das Generalstabsbureau davon die geringste Ahnung hatte. Als Stewarts Abteilung von Gadkul nach Abuklea marschirte, erschienen überall Spuren feindlicher Biwaks, aber kein arabischer Spion verriet die Nähe des Feindes, den die Engländer vollständig unterschätzten. Am 16. Januar lagerten die Engländer in einer Ebene, die von fernen Hügeln eingeschlossen war und Bergrücken im Vordergründe hatte. Nachdem Husaren eine feindliche Besatzung des Brunnens ausgekundschaftet hatten, formirte Stewart ein Viereck; auf tausend Schritte gegen den Bergrücken vorrückend, recognoszirte er selbst mit dem Generalsstabe und bemerkte jenseits des Bergrückens, verborgen im Gestrüpp, feindliche Massen, etwa 20 Fähnlein. In Anbetracht der unsicher» Schätzung der feindlichen Stärke beschloß er, in Zariba anzuhalten und zu biwuakiren. Die Nacht war sehr unruhig durch beständige Flintenschüsse, dreimal wurde alarmirt. Morgens rückte der Feind über die Hügel rechts und den Weg von Abuklea links vor und unterhielt zwei Stunden hindurch Flintenfeuer, wobei er die Engländer zu umgehen suchte. Darauf bildeten die Engländer ein hohles Viereck, Gardisten vorn, berittene Infanteristen links, Infanteristen rechts, schwere Kavallerie und Marine-Brigade mit Mitrailleusen hinten, Kamele, Munition Ambulanzen im Centrum. Der Vormarsch war sehr langsam, weil weder ein Toter noch ein Verwundeter zurückgelassen wurde. Erst nach einstündigem Marsche gewannen die Engländer eine klare Erkenntnis der vollen Stärke des Feindes. Dann erfolgte ein feindlicher Angriff mit solcher Wucht und solcher tollkühnen Todesverachtung, daß die englische Kolonne eine zeitlang verloren schien. Rechts befehligte auf feindlicher Seite der Emir von Metamneh, links der Emir von Berber, ersterer drang mit hundert Desperados durch das Henry- und Martini-Feuer in das Viereck ein, wo er fiel, während gleichzeitig von hinten her ein Durchbruch erfolgte. Zeitweilig herrschte allgemeine Verwirrung, bis das Viereck neugebildet und die Araber durch die überlegenen Henry und Martini niedergeschossen waren. Die Mitrailleusen blieben nutzlos; die Marinebrigade erlitt schwere Verluste. Allgemeine Trauer herrscht über den Tod des durch seinen abenteuerlichen Ritt nach Chiwa berühmt gewordenen Obersten Fred Burnaby, der jüngst konservativer Mitbewerber Churchills in Birmingham, übrigens persönlich gleich beliebt war bei Liberalen und Konservativen. Die Lage der Engländer ist bedenklich, da Metamneh, Berber und Omderman sich noch in der Gewalt des Mahdi befinden.
London, 23. Jan. (Cholera.) Nach einem Telegramm des „Standard" aus Newyork sind in St. Louis zwei Todesfälle an Cholera vorgekommen.
Ayncrnrrt-WerbrecHen irr London.
Am letzten Sonntag haben in London fast gleichzeitig gegm 2 Uhr Nachmittags drei zerstörende Dynamit-Explosionen stattgefunden; zwei trafen das Parlamentsgebäude, eine den Tower. Die letzte ereignete sich im „Weißen Thurm", und zwar in dem Teile desselben, wo Gewehr-Vorräte aufbewahrt werden. Es waren gerade viele Besucher anwesend. Alle Fenster wurden gebrochen; es brach Feuer aus, dasselbe wurde aber bald gelöscht. Das Gebäude ist in seinem Aeußern nur am Dach bedeutend beschädigt. Wie die Untersuchung herausgestellt hat, muß ein Packet Dynamit in der zweiten Etage des Weißen Thurmes des Tower, im sogenannten Banketsaal, hinter eines der vielen Gewehrgestelle gelegt worden sein. Es sind mehrere Hundert Gewehre beschädigt und ist sonst vielfacher Schaden durch die Explosion angerichtet worden. Sonnabends ist der Eintritt in den Tower frei und derselbe in Folge dessen viel mehr besucht, als an anderen Tagen. Zur Zeit der Explosion befanden sich etwa 70 Menschen im Weißen Thurm, von welchen mehrere verletzt sein sollen, unter ihnen zwei Frauen schwer. Von den Explosionen im Parlamentsgebäude erfolgte die erste in der unterirdischen Kapelle von West- minsterhall, die andere in einer zu den Zuhörer-Tribünen führenden Vorhalle. An der Front von Westminsterhall sind alle Fensterscheiben zertrümmert, zwei Polizeibeamte trugen schwere Verletzungen davon. Wie erzählt wird, haben diese Beamten ein auf der Kellertreppe liegendes Packet aufgehoben, welches dann sofort explodirte. Das Publikum, welches sich im Parlamentsgebäude befand, stürzte in Folge der Detonation nach der Westminsterhall und entging dadurch der Gefahr, welche die alsbald folgende neue Explosion im Hause der Gemeinen mit sich führte. Hier scheint das Dynamit unter der Galerie der Peers niedergelegt zu sein. Es hat im Saale so große Zerstörungen angerichtet, daß man zweifelt, ob derselbe bis zum nächsten Monat brauchbar herzustellen ist. Non den Thätern hat man bisher keine Spur, ein paar Personen, die verhaftet waren, sind wieder entlassen. Ob Fenier oder
internationale Anarchisten die Schuldigen, diese Frage kann nicht mehr aufgeworfen werden, da die Mordgesellschaften in Newyork sich verbrüdert haben und gemeinschaftliche Sache machen.
Tnierhalirn-rs.
Wm öas Leben.
Russische Erzählung von Viktor Wenzel.
(Fortsetzung.)
Es entstand eine Pause. „Singt die Gnädige auch ein Liedchen?" bat dann Waruschkev höflich.
Nikolaja griff langsam auf den Saiten einige gedehnte Arpeggien. Helena äußerte leise: „Ganz ähnlich klang das Vorspiel zu eiuenr Gesang, den ich in Polen hörte: —"
„Es ist derselbe," flüsterte Romald. „Sie haben ihn nur übersetzt."
„Er ist für einen Mann," sagte die Wirthin: „Aber es paßt doch."
Sie hatte eine tiefe, melancholische Altstimme. Draußen pfiff der Wind ums Haus und Flocken wirbelten hörbar gegen die Läden, während sie sang:
Kalte Winterstürme sausen.
Nieder fällt der Schnee,
Feuer praselt im Kamine,
Dran gelehnt ich steh'.
Blaue Wölkchen blas ich aufwärts Aus dem Pfeifenrohr,
Geister flüstern langvergeff'ne Märchen mir ins Ohr.
Wie die Jahre fliehn! Wo bist du,
Goldne Jugendzeit!
Schöner Kindertraum, wie liegst du Ach! so weit, so weit!
Welken muß die heit're Blume, st der Lenz entflohn; nd die Blume meiner Hoffnung Welkte lange schon!
Als sie geendet, stieß Nikolaja so heftig gegen die Balalajka» daß es einen grellen Mißton gab.
„Sie werden müde sein, Romaldowna," sprach sie gleich- giltig, „und ich halte Sie hier beide mit albernem Geschwätz von der Ruhe ab."
„Oh, gnädige Frau! Bei Gott!" beteuerte Romald. „Er war ein Genuß!"
Unter Nikolajas Wimpern loderte es beinahe wie Haß. „Gute Nacht!" brach sie kurz ab und klingelte der Dienerschaft.
*
* *
Des Morgens nach dem Thee wollten die Gäste sich empfehlen. Frau Zucharskoi wies durch das Fenster. „Die Wege sind verschneit. Ihre Litthauer kommen nicht durch. Haben Sie es den» so eilig, mich allein zu lasten?" fragte sie mit einem Anfluge vo» Schwermut. Ihre traurigen Augen hingen bittend und vorwurfsvoll an Romalds Antlitz; unter diesem Blicke wechselte er leicht die Farbe.
Man blieb also. Der Hausherrin Laune war wetterwendisch. Bald lächelte sie heiter und plauderte so vertraut, als wäre sie noch die kleine Freundin Romalds, bald sank sie in die alte» krankhafte Finsterkeit zurück und sprach verächtlich vom Leben und von den Menschen.
Helena betrachtete sie mißtrauisch. Mit dem Instinkte der Frau merkte sie an ihrem Wesen eine Eifersucht, die sie mit Unruhe erfüllte. Darum drängte sie zur Abfahrt.
„Aber meine Süße," schwur ihr Gatte, „wir werden in, Schnee stecken bleiben und halb erstarren. Die gnädige Frau ist erfreut; wenn wir ihr noch Gesellschaft leisten, und kannst D» eine angenehmere Gastlichkeit finden?"
„Mein Freund," erwiederte Helena, als sie allein waren, indem sie sich zärtlich an ihn schmiegte und mit der Grazie eines Kätzchens zu ihm aufblickte, „die Wladimirowna ist mir beängstigend. Sie sieht so sonderbar auf Dich, und wenn sie von euren Jugend» spielen spricht, so ist mir, als sollte ich Dir deshalb zürnen."
„Du bist eifersüchtig," lächelte Romald, doch setzten ihn seiner Gemahlin Worte in Verlegenheit: „Du hast nicht Grund, Helja; ihre düstere Kälte würde mich nie fesseln. Wir dürfen sie auch nicht verletzen, da sie die Wirthin ist, und sie thut jr nichts, was Dich kränken könnte."
Ach!" machte Helena. „Aber ich glaube — sie haßt —" „Mich?"
,,Nein! Mich — Deine Gattin."