scharfem Tempo dahergefahren kam. Statt nun .seinen Karren auf die Seite zu nehmen, ließ der Knabe das Fuhrwerk mitten sauf der schmalen Straße stehen und sprang selber abseits in einen Acker hinein. Da ein Ausweichen nicht möglich war, mußte der Automobillenker halten, und da der Knabe auch der Aufforderun den Karren aus dem Wege zu räumen, nicht .nachkam, mußte der Kraftwagenführer schließlich selber aussteigen, uni die Bahn frei zu machen. Das geschah nicht gerade in sanftester Art, und dasiMistsuhrwerk landete schließlich im Straßengraben und kippte um. Aber nun wurde der üuernbub wütend. Und während der Autler chnnpfend seinen Benzinwagen wieder in Gang brachte, schrie.der Knabe in Hellem Zorn in die Kalesche hinein: „Stinke chönt er, ihr Chaibe, aber Roßböbbele 'machendes chönt er nöt! . ." Nun war doch er der Sieger.
— Das erste Schiff, das Briefe zum Zehnpfennigporto nach Amerika befördert, geht am 6. Januar von Bremerhafen nach Newyork in die See. Solche Briefe können schon vom Neujahrstag an aufgeliefert werden, haben aber bis zum 3. Januar Zeit. Der Leitvermerk „auf dem direkten Wege" muß auf dem Brief- kouvert sehr deutlich angebracht werden, sonst geht der Brief über England oder Frankreich und kostet Strafporto. Auf diesem Wege kosten die ersten 20 Gramm 20 Pfg., jede weitereu 20 Gramm 10 Pfg. Der neue Satz von 10 Pfennig für 20 Gramm auf dem direkten Wege gilt erst vom 1. Januar an.
Jena, 30. Dez. Eine „Bekanntmachung" ganz eigener Art findet sich in der „Jenaischen Zeitung" vom 16. d. M. Dort steht also zu lesen: Bekanntmachung. Um der Stätte meiner rastlosen Arbeit näher zu sein, habe ich meine Wohnung von Paulinenstraße 11 nach dem Unteren Löbdergraben 17 verlegt, was ich meinen lieben Freunden, werten Hoflieferanten und Gläubigern, vor allem aber den so überaus geschätzten Herren Geldbriefträgern hierdurch geziemend zur Kenntnis bringe. Ich gebe mich der angenehmen Hoffnung hin, in meinem neuen trauten Heim von den letzterwähnten Herren recht oft, von meinen werten Gläubigern aber möglichst selten ausgesucht zu werden, und möchte diese Herren auch bitten, Ware stets nach meiner neuen, Rechnungen dagegen und besonders Tret- und Mahnbriefe ruhig weiter nach meiner alten, zurzeit leerstehenden Wohnung senden zu wollen. Egbert Caesar, stuck, mock.
Newyork, 21. Dez. Die Ueberführung von fünfzehn Millionen Pfund Sterling in Münze und hundert Millionen Pfund Sterling in Banknoten und Bonds nach dem neuen Gebäude der „National City Bank" in Newyork lockte am Samstag gewaltige Menschenmengen nach der Wallstreet. Hunderte von armen, zerlumpten Leuten schienen einen Genuß darin zu finden, die lange Reihe von Kisten zu betrachten, die über die Straße getragen wurden. Die Leute sahen nichts als die Kisten und eine Armee von Polizisten, die, bis an die Zähne bewaffnet, neben und hinter den Kisten marschierten. In dem neuen Gebäude der genannten Bank hat man eine ganz neue Einrichtung zur Vermeidung von räuberischen Angriffen auf die Geldschränke getroffen. Diese Sicherheitsschränke können nämlich jeden Augenblick in eine Dampftvolke gehüllt werden, die jeden Einbrecher, der ihnen zu nahe zu kommen versucht, töten würde.
New-Jork, 24. Dez. Ueber einen Theaterbrand bei dem die ! schlimmen Panikerscheinung-'::, Vie eine solche Katastrophe zu begleiten pfleg:», glücklich abgewendet wurden, berichtet das Reuter'sche Bureau: Während das Dach in Flammen stand, verließen 1400 Besucher des „Herald Square Theaters" in Newyork unter den lustigen Klängen der Theaterkapelle in aller Ruhe das brennende Gebäude. Newyork ist voll des Lobes für die Theaterleitung, die durch ihre Kaltblütigkeit ein furchtbares Unglück ab- wendete Erst am Ende der Aufführung entdeckte man Feuer in dem vorderen Teil des Gebäudes. Auf der Bühne wurde gerade das letzte Lied gesungen und der Regisseur ließ, als er von dem Feuer Kunde erhielt, den eisernen Vorhang fallen, und befahl .der Musik, so zu spielen, als wenn das Stück zu Ende sei. Dies rettete die Zuschauer, die kaum das Gebäude
verlassen hatten, als das Dach einstürzte. Hinter dem eisernen Vorhang herrschte dagegen Panik. Etwa ein Dutzend Choristinnen fielen auf der Bühne in Ohnmacht u. mußten hinaus- zetragen werden. Die Schauspieler, die in ihren Kostümen in den Schneesturm hinauseilten, verloren ihre ganze Habseligkeiten und zum Teil sogar das Wochengeld, das ihnen vorher ausgezahlt worden war. Der angerichtete Schaden wird auf 9000 Pfd. St. berechnet.
Neuenbürg. (Aus der Bezirksratssitzung vom 29. Dezember 1908.) Dem Gesuch des Konditors Ernst Rometsch in Wildbad um Ausdehnung seiner beschränkten Berechtigung zum Weinausschank auf das ganze Jahr wird entsprochen.
EMM i« SMalie».
Palermo, 29. Dez. Die Eisenbahnverbindungen zwischen Catania und Messina sind wiederhergestellt. Ein Eisenbahnzug mit Flüchtlingen und Verwundeten aus Messina ist in Catania eingetroffen. Erstere berichten, daß dort daS Hotel Tricharia zerstört und das Personal und 90 Gäste umgekommen seien.
Catania, 30, Dez. Ein Ueberlebender aus Messina, der hier eingetroffeu ist, berichtet: Es ist unmöglich, den schrecklichen Anblick zu beschreiben. Die Stadt ist in einen ungeheuren Schutthaufen verwandelt. Fast alle Einwohner sind getötet, nur wenige tausend sind dem Tod entronnen. Es mangelt an Aerzten, Zelten, Kleidern und Lebensmitteln, um die Ueberlebenden, die, des allernötiasten entblößt, dem Winterwetter schutzlos preisgegeben sind, zu versorgen. Es mangelt an Feuerspritzen, um die Flammen zu löschen, die in den Ruinen wüten. Messina erscheint wie vom Erdbeben sortgefegt. Auch der Bahnhof ist eingestürzt, alle Eisenbahnwagen sind zertrümmert, fast das ganze Bahnpersonal ist getötet. Die schuttgefüllten Straßen sind nicht wiederzuerkennen; sie erscheinen nur als ungeheure Spalten auf einem weiten Trümmerfeld. Die Universität, das Post- und Telegraphengebäude und alle übrigen öffentlichen Gebäulichkeiten sind verschwunden. Die Gasleitungen sind völlig zerstört. Die Stadt blieb nach der Katastrophe stundenlang ohne jede Hilfe, da die Trümmer die Behörden, die Garnison, die Aerzte und Apotheker, kurz alle Klassen der Bevölkerung unter sich begraben.
— Der Eingang in die Meerenge von Messina ist nach Privatmeldungen fast ganz verstopft durch Leichen von Tieren, Menschen und durch Wrackteile. Das Aussehen der Meerenge ist völlig verändert. Beide Küsten sind umgewandelt: die calabrische Küste ist ebener geworden, die sizilische hat andere Buchten und Tiefen erhalten. Vor Messina liegen 12 Panzerschiffe und ein großer Schiffspark der Navigazione Generale, der insgesamt 20 000 Personen transportieren kann. Doch war gestern wegen des hohen Wellenganges eine Landung ganz unmöglich.
— Eine Augenzeugin, Signora Antoinetta Lipari, die abends in Catania eintraf, erzählte über die Erdbebenkatastrophe: „Es war eine Höllennacht. Wir schliefen noch. Plötzlich wurden wir von klirrenden Scheiben geweckt. Die Mauern wankten, der Fußboden öffnete sich, und wir stürzten einen Stock tief mit unseren Betten hinunter. Wie wir das Freie gewannen wissen wir nicht mehr. Draußen war es stockdunkel. Ein unheimlicher Sturm peitschte uns entgegen. Es goß in Strömen. Wir hörten erst markerschütternde Schreie, dann Wehklagen und Wimmern. Die Nacht war voll davon. Wir schrieen wie aus einem Halse: „Das ist das Erdbeben." Dann packte ich meine Töchter, Lina zur Rechten, Amelia zur Linken; so raste ich durch die Straßen. Nur fort aus diesen Steinmassen, die uns zu verschlingen drohten, fort aus diesem Häusermeer, das uns unter sich begraben wollte. Unterwegs kamen andere Flüchtlinge mit uns. Oft waren die Straßen durch zwei Meter hohe Geröllmassen versperrt. Balkons, Fenster, Eisenkonstruktionen, bildeten entsetzliche Barrikaden. Wie wir diese neue Fußangeln de- Todes überwunden haben, weiß ich nicht. Wir sahen nichts und fühlten nichts uud waren uns doch bewußt, daß wir
der Rettung entgegenliefen. Am Hafen wateten wir zunächst knietief, dann bis an den Bauch im Schlamm. Plötzlich ergriffen uns starke Arme — wir waren in einer schaukelnden Barke und dann auf dem Schiffe. Das Gespenst des Todes hatte von uns abgelassen, um anderen nachzujagen.
— Der Präsident des Reichstags, Graf zu Stolberg-Wernigerode/ hat aus Anlaß der Katastrophe in),Messina und"Calabrien"an den Präsidenten der italienischen Deputiertenkammer folgendes Telegramm gesandt: „Im Namen des Deutschen Reichstags bitte ichWie, Herr Präsident, den Ausdruck der tiefsten und innigsten Teilnahme anH dem namenlosen Unglück entgegenzunehmen, von welchem blühende Teile des uns durch Freundschaftsbande^ so nahestehenden herrlichen Landes Italien heimgesucht und unzählige Familien in Elend und Trauer gestürzt wurden. Das deutsche Volk ist angesichts dieses furchtbaren Vernichtungswerkes der Natur, dem Menschengeist und Menschenhände machtlos gegenüberstehen, aufs tiefste bewegt. Dr.Udo Graf zu Stolberg-Wernigerode, Präsident des Deutschen Reichstags."
Rom, 31. Dez. Nach den letzten Meldungen kann die Zahl der Toten mit Sicherheit auf 100 000 angenommen werden. — Soeben trifft aus Messina die Nachricht ein, daß dort mindestens 600 Deutsche umgekommeu sind.
— Die ausführlichen Nachrichten aus Messina entrollen ein immer schrecklicheres Bild der Katastrophe, Ueber dem Trümmerfelde liegt nachts tiefe Dunkelheit, die nur von den Scheinwerfern der aus der Reede liegenden Schiffe durchbrochen wird.. Es fehlt an Wasser. Die Mannschaften der italienischen, englischen und russischen Schiffe sind unermüdlich an dem Rettungswerke tätig. Ueberall liegen Tote, Verwundete und menschliche Gliedmaßen umher. Ein unerträglicher Verwesungsgeruch sängt an, sich bemerkbar zu machen. In Catania sind weitere Flüchtlinge eingetroffen, die von den Bürgern Wohnung, Kleidung und Lebensmittel erhalten. 18 Gemeinden der Provinz und mehrere Dörfer sind völlig zerstört. Allenthalben sieht man Hinkende und Leute, die den Arm in der Binde tragen, und solche mit verbundenem Kopf umherirren. Die Hilfskomitees sind eifrig an der Arbeit und haben zunächst Volksküchen eingerichtet.
— Längs der ganzen Küste von Reggio bis nach Lazzaro herrscht eine grauenhafte Verwüstung. Von vielen kleinen Bauernhäusern ist nicht eine Spur übrig geblieben, weil das Meer die Trümmer mit fortgerissen hat. Ausgedehnte Orangenhaine sind vernichtet. Die Meereswogen überfluteten die Felder Hunderte von Metern landeinwärts. Bei Pellaro wurde eine Brücke sortgerissen und vom Meere eine weite Strecke längs der Bahn mitgeführt. Jenseits der Meeresstraße sieht man über Messina 5 ungeheure Rauchsäulen aufsteigen, die die Luft verfinstern. Längs der Eisenbahn arbeitet man an der Wiederherstellung der Telegraphenverbindung. Ein Gang am Meer entlang führt den Wanderer an Hunderten von unbegrabenen Leichen vorbei, die in entsetzlichen Stellungen daliegen. Ihre zerschmetterten Körper und ihre entstellten Gesichter bieten ein grauenhaftes Aussehen. Die Hilfstruppen arbeiten mit unglaublicher Aufopferung. Es fehlt am nötigsten. Hilferufe ertönen aus den Kellern, und die vorhandene ärztliche Hilfe ist bei weitem nicht ausreichend. Der Vorübergehende wird von den Ueberlebenden mit den Rufen umringt: Wir haben Hunger! Helfen Sie uns! Allenthalben auf den Feldern herrscht gräßlicher Verwesungsgeruch. Wenn man nach Reggio geht, so sieht man, daß längs des Meeres nicht ein Haus stehen geblieben ist. Aus Catanzaro ist ein Hilfskorps von 150 Freiwilligen eingetroffen; die Retter müssen sich vor der Wut der hungrigen Hunde hüten. Zwei neue Erdstöße, die vorgestern erfolgten, riesen unter den Ueberlebenden eine große Panik hervor. Pellaro und San Giorgio sind ganz zerstört. In San Giorgio sind die Toten, etwa 100, schon fast alle begraben. In Sbarre Superiors, nahe bei Reggio, sind die Gebäude entweder eingestürzt oder drohen einzustürzen. Auch die Dörfer Misitano und Bocale sind ganz zerstört.