MITTWOCH, 2 0. DEZEMBER 1950

NUMMER 198

Wirtschaftsblockade gegen die UdSSR?

Rußlandlieferungen im Zwielicht der politischen Lage

Von S. E. Nelson, London

Viele Leute regten sich darüber auf, daß Großbritannien mit Sowjetrußland einen Ver­trag über Futtermittellieferungen in Höhe von 800 000 Tonnen abschloß, wofür es Sowjet­rußland die Tür öffnete, potentielles Kriegs­material wie Kautschuk, Wolle, Zinn und an­dere Rohstoffe auf englischen Märkten zu kaufen. Auf den ersten Blick scheint es wider­sinnig, angesichts der ungewissen Lage, in der Sowjetrußland als möglicher Kriegsgegner gelten muß, diese vertraglichen Bindungen einzugehen. Das ist allerdings eine sehr ober­flächliche Beurteilung der Lage. Das Gegen­teil, nämlich Sowjetrußland wirtschaftlich zu blockieren, kann den Krieg näher bringen. Je tiefer man das Problem studiert, um so deut­licher treten die Momente hervor, die auf der einen Seite die Notwendigkeit zeigen, daß eine Nation für ihre Ernährung zu sorgen hat und daß eine einzige Nation nicht in der Lage ist, ihren Handel nach Gesichtspunkten auszurich­ten, die darauf hinauslaufen, einem möglichen Kriegsgegner die Einfuhr von Kriegsmaterial zu sperren.

Zunächst muß in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß nicht nur Ruß­land, sondern jedes andere Land nicht in der Lage ist, Sterlingkäufe von Rüstungsmaterial oder Maschinenteile ohne die Genehmigung der englischen Regierung zu tätigen. Aber wenn trotzdem Rußland von England ausge­sprochene Kriegsmaterialien haben will, dann kann es das auf indirektem Wege durch an­dere Länder beziehen, an die Großbritannien auf Grund besonderer Lizenzgenehmigungen liefert. Wie könnte man bei Sperrung der Sterlingkäufe Rußland daran hindern, britische Waren mit anderen Währungen zu kaufen?

Das einzig effekive Ergebnis eines solchen Verhaltens Großbritanniens gegenüber Ruß­land wäre, daß Großbritannien seine Einfuhr an Futtermitteln und Bauholz verlieren würde und daß es sich schwer neue Lieferquellen er­schließen könnte. Es bleibt das Problem an sich, für das es im Grunde keine andere Lö­sung gäbe, als eine strikte Vereinbarung zwi­schen allen nichtkommunistischen Ländern, ihren Rohstoff- und Außenhandel einer stren­gen Kontrolle zu unterziehen. Dies würde die Bildung einer antikommunistischen Wirt­schaftsblockade bedeuten. Wenn sie überhaupt möglich wäre, würde sie zwangsläufig einer Kriegserklärung an Sowjetrußland gleich­kommen.

Kein Land der Welt, auch nicht das stärkste, würde die hundertprozentige Verschließung al­ler Rohstoffquellen als eine friedliche Aktion

General nimmt Abschied von seinen Soldaten

Der Kommandeur der 1. amerikanischen Marine­division auf dem Soldatenfriedhof im Brücken­kopf Hungnam

anerkennen. Im Kriege selbst ist die Wirt­schaftsblockade eine legale Handlung, in Friedenszeiten, selbst wenn es sich nur um einentechnischen Frieden handelt, kann die Wirtschaftblockade als Vorstufe zum tota­len Krieg ausgelegt werden. Man kann anderer­seits auch keine Wirtschaftsblockade vorneh­men, wenn sie nicht vollständig ist.

Im gegenwärtigen Zeitpunkt müßte sich eine solche Blockade nicht nur auf Sowjetrußland ausdehnen. Sie würde Länder wie China, Po­len, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und sogar Ostdeutschland einschlie­ßen. Man braucht nur daran zu erinnern, daß es auch Deutschland während des letzten Krieges möglich war, trotz aller Ueberwa- chungsmaßnahmen seitens der Alliierten lau­fend über neutrale Länder Rohstoffe einzu­führen. Wie also könnte überhaupt in Frie­denszeiten eine Wirtschaftsblockade erfolgreich durchgeführt werden? Wenn zum Beispiel Por­tugal Waren nach China verkauft, so wie

es gegenwärtig über den portugiesischen Ha­fen von Macao auf dem chinesischen Fest­land geschieht, wie könnte man das anders als durch eine Aktion von Seestreitkräften verhindern?

Möglicherweise könnte eine umfassende, von allen nichtkommunistischen Ländern durchge­führte totale Wirtschaftsblockade Rußland und die von ihm beherrschten Länder auf die Knie zwingen, aber damit würde man Länder, die insgesamt eine Bevölkerung von rund 800 Mil­lionen Menschen haben, nur den Vorwand ge­ben, für ihre wirtschaftliche Freiheit mit den Waffen zu kämpfen.

Dieses Problem kann also nicht von einem einzigen Land aus gelöst werden. Es gibt prak­tisch keine friedliche Lösung, oder sie liegt noch in der Zukunft. Sollte wirklich ein Krieg kommen, so wird es viele Menschen geben, die darüber zetern, daß man in Friedenszei­ten an Sowjetrußland Rohstoffe lieferte, die für einen Krieg unentbehrlich sind. Wird ein Krieg verhindert, dann wird man diejenigen für weise halten, die in kluger Voraussicht alles taten, um eine Wirtschaftsblockade zu verhindern. Im Augenblick eines zweifelhaf­ten Friedens kann man nur stufenweise sol­che Maßnahmen ergreifen.

Aufmarsch in Indochina

Greift Rotchina aktiv ein?

CL. Entgegen allen militärischen Gepflogen­heiten kündigte die Propaganda der Viet- Minh-Aufständischen in Indochina den Beginn einer großen Offensive an. Ihr Ziel sei die Einnahme Hanois und des Mündungsgebietes des Roten Flusses sowie die völlige Vertrei­bung der französischen und vietnamesischen Truppen aus dem Norden Indochinas. Frank­reich hat im Hinblick auf die latente Gefahr die Evakuierung französischer Zivilversonen aus dem bedrohten Gebiet eingeleitet.

Hinter der Siegessicherheit der Vietminh- Führung scheint nicht zuletzt die Hoffnung (oder vielleicht die Zusage) zu stehen, daß ihr in einer neuen Offensive die aktive Unter­stützung durch rotchinesische Truppen zuteil wird. Fast eine halbe Million von ihnen sind in Südchina zusammengezogen; wenn sie sich in Marsch über die Grenze Indochinas setzen, bleibt wohl auch den Franzosen keine andere Wahl als den UN-Truppen in Nordkorea.

Unsere Zeichnung zeigt die gegenwärtige Kampflage und die zahlenmäßigen Kräfte­verhältnisse. Das von den unter französischem Kommando stehenden Truppen beherrschte Gebiet zwischen Hanoi und dem Meer ist weitgehend von Vietminh-Guerillas verseucht. Der größte Teil der Straßen muß durch Wacht­posten gesichert werden. Dennoch brauchte die Gefahr für dieses Gebiet nicht unabwendbar zu sein, wenn nicht die rotchinesische Unter­stützung für die Vietminh-Verbände den

Kampf Frankreichs und Vietnams praktisch zu einer Verteidigung gegen die Uebermacht im Norden machte. Mao Tse-tung andererseits

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hat sich seine Berechtigung zur Unterstüt­zung der Vietminh-Truppen schon vor Mo­naten gegeben, indem Peking die Vietminh- Regierung offiziell anerkannte.

Hasenfüße und ka?te Füße

Neue Stilblüten aus dem Bundestag

W. H. Abg. Höhne (SPD):Das Volk hat den Eindruck, daß hier die Bedürfnisse auf Eis gelegt werden.

Abg. Dr. Leuchtgen9 (DP):Ich glaube, wenn ich es persönlich meine, wenn ich frei einer Sache zustimme, das doch immerhin wertvoll ist. Mögen Sie das nun als Ueberheblichkeit nehmen oder nicht (Zuruf in der Mitte: Kei­neswegs! Große Heiterkeit). Ich betrachte es als einen Ausfluß meiner Persönlichkeit. (Schallende Heiterkeit.)

Abg. Höfler (CDU):Es ist unmöglich, daß jetzt, fünf Jahre nach dem Kriege, noch ein­mal einer zu Tode gebracht wird.

Abg. Volkholz (BP):Als der Bundesver­kehrsminister Dr. Seebohm im vorigen Jahre durch den Bayerischen Wald ging, ging die Hoffnung durch den Bayrischen Wald.

Abg. Behrisch (SPD):Es gibt in Ober­franken Notstände im Frankenwald, es gibt

auch Notstände in Teilen des Fichtelgebir­ges. Aber man kann doch nicht, wenn die Decke überall zu kurz ist, sagen: nun wollen wir etwas haben. Die Füße schauen überall unter der Decke hervor, und mir ist das völ­lig klar, daß wir überall kalte Füße haben. Wir unterhalten uns über die Frage des Au­ßenministeriums. Wir haben aber schon einen Außenminister gestellt, und zwar 1946. Das war das erstklassige Porzellan, das aus unse­rem Gebiete kommt. (Heiterkeit.)

Abg. Müller (KPD):Ich weiß nicht, ob sich die Herren von der CDU/CSU darüber im klaren sind, welch schallende Ohrfeige sie sich mit dieser Interpellation selbst versetzt haben.

Bundesverkehrsminister Dr. Seebphm:Man möchte die Bundesbahn als eine Kuh betrach­ten, die man beliebig melken kann, selbst wenn das Euter nichts mehr enthält.

Abg. Willenberg (Z):In diesem Sinne

Unser Kommentar

Umsiedlung und Wohnungsbau

AH. Als Stalin unter Beihilfe von Roosevelt die Deutschen aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern vertrieb, verfolgte er außer der Ent­schädigung Polens, das seine Ostgebiete selbst an die Sowjetunion abgeben mußte, sicher auch noch ein anderes Ziel. Er hoffte, West­deutschland durch die Ueberschwemmung mit Millionen besitzloser Flüchtlinge gesellschaft­lich so zermürben zu können, daß es ganz von selbst den Weg zum Kollektivismus finden würde. In der deutschen Mentalität hat er sich dabei allerdings verschätzt, wie es ja für die Russen überhaupt typisch ist, daß sie sich in Art und Charakter anderer Völker nicht hin­eindenken können. Wenn Westdeutschland da­her trotz des riesigen Bevölkerungsüberdrucks und der Umschichtungen in seinen Besitzver­hältnissen noch lange keinen Kollektivismus östlicher Prägung kennt, so sind in den Flücht­lingslagern doch zahlreiche Zwangsgemein­schaften entstanden, die nur Produkte der äu­ßersten Not und unserem Wesen absolut zu­wider sind. Lager und Baracken riechen eben wie Kasernen immer und überall nach Druck und Dreck. Hunderttausende Deutsche sind so heute noch in größeren und kleineren Pfer­chen konzentriert.

Aus den Ländern des größten Flüchtlings­elends, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern wird daher seit über einem Jahr in die anderen westdeutschen Länder umgesie­delt. Das hat natürlich nur einen Sinn, wenn die Umsiedler im neuen Land bessere Ver­hältnisse antreffen als in der Zwischenheimat, und wenn die neue Heimat sich nicht auch wieder als Zwischenheimat erweist, sondern von vornherein Arbeit und Wohnraum bieten kann. Mit einem Transport von Lager zu La­ger ist niemanden gedient, am wenigsten den Heimatvertriebenen selbst.

Noch haben wir in Südwürttemberg unser Soll von 49 000 Umsiedlern, das für 1950 vor­geschrieben war, nicht ganz erfüllt, da treten schon wieder neue Forderungen auf den Plan. Wie bereits berichtet, soll Württemberg-Ho- henzollern im nächsten Jahr weitere 14 000 Flüchtlinge aus den bisherigen Abgabeländern übernehmen. Die Tübinger Regierung hat be­reits früher erklärt, daß sie neue Umsiedler übernehmen wird, soweit sie bei uns wohn- und arbeitsmäßig untergebracht werden kön­nen. Das große Problem ist der Wohnungsbau im kommenden Jahr. Wenn die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus wieder so spät an­läuft wie dieses und letztes Jahr, ist nicht zu erwarten, daß die geplanten Häuser alle ter­mingemäß fertig werden. Im Januar, späte­stens Februar müßte der einzelne Bauwillige wissen, ob und mit wieviel öffentlichem Geld er rechnen kann. Dann kann er disponieren und rechtzeitig Auftrag an seinen Bauunter­nehmer geben, der seinerseits auf eine früh­zeitige Kalkulation angewiesen ist, besonders heute, wo Materialpreise und Löhne in Bewe­gung sind. Wieviel Wohnungen mehr wären dieses Jahr bezugsfertig geworden, wenn man im Frühjahr mit der Aushebung der Baugru­ben hätte beginnen können statt im Herbst! Und die von uns aus den überbelegten Län­dern herübergeholten Heimatvertriebenen hät­ten heute auch schon eine neue Heimat, statt Weihnachten noch einmal in einem Lager ver­bringen zu müssen.

stimmt meine Fraktion für den Antrag der SPD (Zurufe von der CDU: Es ist ja kein Zentrumsabgeordneter da! Heiterkeit). Prä­sident Dr. Ehlers:Meine Damen und Her­ren! Es gehört nicht zu den Voraussetzungen der Rede eines Abgeordneten, daß seine Frak­tion zuhört. Das ist ein Irrtum. (Heiterkeit und Beifall.)

Abg. Dr. Leuchtgens (DP):Aber wir müs­sen auf der anderen Seite auch wissen, meine Damen und Herren, daß diese Belastung nicht ins Aschgraue gehen kann, und schließlich das Aschgraue auf die breite Verbrauchermasse abgewälzt wird. (Große Heiterkeit.) W. H.

Herzog Ulrich ein geisteskranker Despot!

Zu einem Vortrag von' Dr. Decker-Hauff

Es war gewiß verdienstlich, daß der Württ. Ge- schichts- und Altertumsverein zur Wiederkehr des 400. Todestages eines der populärsten Fürsten vom Hause Württemberg seinen Mitgliedern einen Vortrag auf das Programm setzte, der Herzog Ulrich im Lichte der neueren Forschung zeigen sollte. Der jüngste Archivrat im Staatsarchiv zu Stuttgart, Dr. Decker-Hauff früher in Wien tätig, hat sich dieser Aufgabe mit Geschick-un­terzogen, unterließ es aber nicht das ist das Vorrecht der Jugend, daß sie gegen bestehende Ansichten und Forschungen rebelliert und für ihre Thesen selbstredend auch die entsprechenden dokumentarischen Zeugnisse beibringen kann, die zwielichtige Gestalt des Herzogs mit den Kate­gorien der Wiener Psychologie und einer ausge­sprochenen Vorliebe für das Habsburg des 16. Jahrhunderts nun völlig negativ zu sehen und durch und durch schwarz zu malen.

Offene Türen wurden eingeschlagen, wenn in einem breiten Prologus der unglückliche Nebel­höhlebewohner und der Freund des Bauernzorns der württembergischen Erzählerliteratur (von Hauff bis Schmückle) als völlig unhistorisch be­lächelt wurde. Nicht überzeugen jedoch konnte mich der Redner bei der Klassifizierung der vom protestantischen Theologengeist geschriebenen großen Darstellungen Sattlers wichtiger noch wäre Eisenbach gewesen und des Riesenwerks von Heydt, das Decker in mir nicht verständlicher Weise mit der Hegelschen Geschichtszyklik in Ver­bindung brachte: Unglückliche Jugend, ,iaher Sturz in die Verbannung und geläutertes frommes Alter. So einfach liegen nun gerade bei Heydt die Dinge nicht. Geschichtliche Dokumente hm oder her, Geschichte ist von jeher von den Ge­schichtsschreibern gedeutet und überliefert wor- den; wir protestieren um der Wahrhaftigkeit wii- len. wenn die Jungen den neuerdings viel ver­pönten Theologengeist einfach über Bord werfen, so als ob wir den die handelnden^ Personen unc! Ereignisse deutenden Geschichtssinn eines bis zum Sturz der Monarchie nun einmal exempla­risch protestantischen Staates "a priori verwerfen wollten.

Herzog Ulrich als Person und Charakter das ist freilich eine Fundgrube für einen, der eine

Pathographie schreiben und die Geschichte patho- graphisch beleuchten will. Das hat der Redner ausgiebigst und mit einer gewissen Lust getan. Sehr folgerichtig erklärte er Ulrichs Taten als den Ausfluß eines gestörten und von verschiede­nen Traumata verursachten Seelenlebens, dessen Ursprünge in die erblich schwer belastete Ahnen­schaft, besonders zweier weiblicher Regenten, der Antionia Visconti und der Henriette von Möm- pelgard zurückreichen, also einer Italienerin und einer französischen Burgunderin. Als Gegenbe­weis für seine erbbiologische These der Verdor­benheit und Anfälligkeit der württembergischen Herrscher des 15. Jahrhunderts wies Dr. Decker auf die hochintelligente und gesunde Bastard­nachkommenschaft derselben Herrscher hin. Von hier aus ist es allerdings leicht, Ulrich, den Sohn eines geisteskranken Vaters, nun mit allen Uebeln belastet zu entdecken, für die die mo­derne Tiefenpsychologie so schöne Begriffe ge­funden hat.

Bei der Firmelung wurde der Siebenjährige, der nach seinem verrückten Vater Heinrich ge­tauft worden ist, von Graf Eberhard, an dessen Hofe in Stuttgart er erzogen wurde, in Ulrich umbenannt.Und dennoch will ich Heinz heißen, soll nach einem Bericht der Knabe mit den Füßen auf den Boden stampfend geschrien haben. Das Jugendtrauma des Despoten ist lehrbuchmäßig für den Historiker fertig. Das Trauma heißt Haß gegen jede über ihn verhängte Autorität. Und nun läuft alles nach der schwarzen Logik bei ihm ab wie ein Musterbeispiel von freudischen Zwangshandlungen. Ulrich kommt auf den Thron, weil der rechtmäßige Nachfolger Eberhards von der ständischen Ehrbarkeit wegen völliger Un­fähigkeit abgesetzt werden mußte. Der in Armut aufgewachsene Jüngling mit unzweifelhaften, aber sehr schillernden Fähigkeiten nimmt das kräftig­ste Mißtrauen gegen die ständische Nebenregie­rung mit in sein Amt. Ein verachteter, schwer labiler Prinz einer Nebenlinie wird plötzlich re­gierender Herzog. Das Unglück ist geschehen. Unter der noch vom Oheim her bestehenden fast unwahrscheinlichen Gunst Kaiser Maximilians für Württemberg holt sich der junge Herr kühn stür­mend seine Anteile aus der von Habsburg be­kriegten Pfalz (Maulbronn, Möekmühl, Heiden- heim usw.), wird mit der Kaisernichte, einer bayerischen Prinzessin, verheiratet, lebt in Saus und Braus mit vollen Händen das Geld seiner Untertanen vergeudend und gerät im Remstäler

Aufstand des armen Kunzen zum erstenmal mit derAutorität von unten, der Masse in Konflikt, die er nach kurzem Besinnen wahllos niederhaut.

Ueberraschend wurde uns von Dr. Decker mit­geteilt, daß Ulrich den Hans von Hutten ganz vorsätzlich beileibe nicht im Affekt, wie es bei Geisteskranken sonst der Fall ist im Schön­buch gemordet hat, ein Schwerbewaffneter hat einen Wehrlosen erdolcht und soll mit dem blutigen Dolch nachher sogar seine Frau Sabine im Schlaf­zimmer erschreckt haben. Eifersucht scheint nicht im Spiele gewesen zu sein, bleibt als Motiv also nichts als ganz gemeine Mordlust.

Gibts einen lückenloseren Beweis für die rach­volle Gefährlichkeit Ulrichs als die Tat im Schön­buch? Vernünftige Motive findet der Redner nicht, also, so lautet die mehr als dünne Konklusion, ist bewiesen, was vorausgesetzt ist: Ulrichs völlige Unberechenbarkeit, Tücke, Hinterlist, Rachsucht. Außerordentlich gut in das Bild des vom Verfol- gungs- und Autoritätswahn besessenen Ulrich paßte der Redner dann den Justizmord an Breu- ning und Genossen ein, den Ueberfall auf die freie, friedliche Stadt Reutlingen der württ. Burgvogt, der hätte gerächt werden sollen, existierte gar nicht die Haßausbrüche gegen Dietrich v. Speth apropos: auch ein Nichtverrückter hätte das Recht gehabt, den Entführer der Gattin und dessen Hintermänner zu hassen und schil­derte den aus trotziger Selbstabwehr handelnden Regenten als einen Mann, dem auch das wohl­wollendste kaiserliche Kuratel in krankhafter Ueberspanntheit zum Verhängnis werden muß­te. Ulrichs tadellos funktionierender Spitzel- und Agentendienst erinnerte den Hörer Dr. Dek- ker wußte es geschickt zu akzentuieren an die neueste Gestapo zeitgenössischer Autokraten.

Daß Ulrich nicht mehr vor der Reichsacht ge­schützt werden konnte, daß er sein Land an Habsburg verlieren mußte, ist für den Redner nur die gerechte Wirkung seiner sinnlosen Taten. Und Habsburg hat großartig in Württemberg re­giert. Die viel bessere Verwaltung der Oester­reicher, d. h. wohl der Feudalherren und Vögte, die für Oesterreich das Land ausraubten, gab dem Land bald den früheren Wohlstand zurück. Mit der Verherrlichung der österreichischen Verwal­tung schuf sich der Redner ganz offensichtlich ein Prachtstück seiner Beweisführung für die Ver­dorbenheit des verbannten Ulrich.

Eine reine Utopie, ein recht netter Einfall, aber sicher nicht mehr, scheint uns Dr. Deckers Be­

hauptung zu sein, der Verbannte auf dem Hohen­twiel sei der Anstifter der im Umkreis um den Berg zuerst tätig gewordenen Aufstände der Bauern. Ulrich habe kundig des Agententums mit Hilfe der Gelder des französischen Königs das gemeine Volk aufwiegeln wollen, um mit dessen Zorn sein Land wiederzugewinnen, wäh­rend Frankreich an eine Schwächung des rechts­rheinischen Deutschland dachte. Nun so kompli­ziert geht es nur in Kriminalromanen, aber kaum in der Geschichte zu. Das Rechnungsheftchen des Herrn Bleichrödter mit den hohen Posten, das Dr. Decker zum Zeugen seiner Behauptung diente, ist doch ein gar zu dunkles Argument. Im übrigen wissen wir genau um die Motive der verschiede­nen Bauernaufstände Bescheid. Das von Dr. Dek- ker Entdeckte scheint uns wahrhaftig das gering­fügigste und unwirksamste gewesen zu sein.

Wie hielt ers mit dem neuen Glauben, den er nach 1534 in Württemberg einführte? Von G. Bos- sert bis J. Rauscher feierte man bei uns in bier­ehrlicher Gesinnung Ulrich als den Herzog der Reformation. Doch das muß nun aufhören. Dr. Decker hat uns mitgeteilt, von einer ernsten An­teilnahme an dem neuen Glauben könne bei Ul­rich nicht entfernt die Rede sein. Noch viel we­niger von einer Bekehrung oder gar Besserung seines Charakters. Im Gegenteil der alte Ulrich war schlimmer, rachsüchtiger, toller, einsamer, als der junge oder der Verbannte. Wir Würitem- berger dürfen im besten Fall bedauern, daß die Errungenschaften der Oesterreicher während der 12jährigen Besatzungszeit binnen kurzem von einem völlig Verrückten wieder vernichtet wor­den waren und das Jahr 1550, das Todesjahr Ul­richs, hätte das Land in eine sichere Katastrophe geführt dadurch,^daß alle wertvollenMitläufer verjagt oder getötet wurden. Aber Gott sei Dank ist es vorher vop seinem Peiniger erlöst worden.

Dr. Deckers Ulrichsbild nahm am Schluß nun vollends die Zeichnung und die Farbe eines Auto­kratenbildnisses an, wie wir es von Hitler und Genossen kennen. Den Vorwurf, den der Redner dem württ. Geschichtsschreiber Sattler machte, dieser habe nach dem Vorbild seines herzoglichen Herrn Carl Eugen den Ahnen Ulrich im Alter fromm werden lassen, müssen wir in aller Schärfe Dr. Decker machen und sagen, er habe aus Ulrich einen Vorläufer von Hitler gemacht mit Ge­schichte hat das wirklich nicht mehr viel zu tun. Die moderne Psychologie triumphierte über den geschichtlichen Sinn. Dr. E. Müller