S. Jahrgang

FREITAG, 27. OKTOBER 1950

Nummer 167

Stalins Bekenntnis zum völkischen Marxismus Unser Kommentar

Der Diktator widerlegt dieVulgarisateure seiner Lehre

K.H. Es ist bekannt, daß in Sowjetrußland Politik, Wissenschaft und Kunst einheitlich auf die Lehren von Marx-Engels-Lenin aus­gerichtet sind. Eine Diskussion ist dort nur unter der Voraussetzung möglich, daß um die richtige Auslegung der Lehren gerungen wird. In Zweifelsfällen entscheidet das autoritäre Wort des allmächtigen Stalin selbst. Vor kur­zem nahm der Diktator die Gelegenheit wahr, um in einen Streit der sowjetischen Sprach­forscher klärend einzugreifen. Seine Abhand­lung ist in Hunderttausenden von Exempla­ren und in der ,,Prawda über die ganze Union verbreitet worden.

Welche wissenschaftliche Lehre wurde in der Broschüre verdammt? Kurz gesagt: die Auffassung des größten Teiles der sowjeti­schen Sprachforscher, die sich um ihr Haupt N. J. M a r r scharten. Marr und seine Schü­ler hielten sich mit vollem Recht für gute Marxisten, wenn sie ihre Untersuchungen über die Sprache aufs engste den Lehren von Marx-Engels anpaßten und diese auch, wie es bei Sowjetgelehrten üblich ist, für die Thesen ihrer Forschung wörtlich zitierten. Sie haben folgerichtig dargelegt, daß alle Sprachen von primitiven Anfängen sich zu Verständigungs­mitteln innerhalb von gesellschaftlichen Grup­pen entwickelt haben. Sie betonten jedoch im Unterschied zu nichtmarxistischen Gelehrten den Klassencharakter der Sprache und legten das Hauptgewicht ihrer Forschung darauf, nachzuweisen, daß es keine allgemein verbind­liche Volkssprache gebe, sondern immer nur die Sprache einer bestimmten Gruppe, etwa die des Adels, die der Priester, die der Bür­ger oder die des Proletariats. Sie machten wiederum ganz folgerichtig der Sprachfor­schung in den kapitalistischen Ländern den Vorwurf, sie sei bloßformalistisch, sie untersuche nur die Lautgesetze, die Lautver­schiebungen, das äußere Gewand der Sprache, löse aber die Sprache vom inhaltlichen Den­ken und vom Urgrund ihrer materiellen Be­dingungen. Sie krönten ihre Forschungen da­mit, daß sie auch das Sprechen als einen Ueberbau im Sinne von Marx, als eine dialektische Widerspiegelung bestimmter Produktionsverhältnisse betrachteten, die im Mittelalter ganz andere waren als etwa in der Neuzeit, weshalb auch die mittelalterliche Sprache von der modernen nicht bloß in der Verwendung von anderen Wörtern, sondern ihrer ganzen Struktur nach verschieden sei.

Weiter: Da das dialektische Hauptgesetz 9ieh an der nachweislichen Kreuzung aller Sprachen und ihrer steten Entwicklung zu einem übervölkischen Sprechen hin deutlich machen lasse, werde am Ende der sozialisti­schen Revolution auch das Esperanto einer kommunistischen Weltsprache stehen.

Einem kleinen Teil der Sowjetgelehrten be- hagte zwar die .,Ueberbau-Lehre, aber nicht die Zukunftsmusik einer Weltsprache. Sie wandte sich an Stalin und dieser entschied sich gegen Marr und seine Schule. Stalin ver­dammte in Grund und Boden diemateria­listische Linguistik. Wie weit seine Argu­mente stichhaltig sind, sei hier nicht unter­sucht. Auf jeden Fall verneinte der Diktator die Hauptlehre seiner älteren Genossen, die Sprache ist für ihn nicht von einer materiellen Basis abhängig, sie seidas Ausdrucksmittel aller Klassen und unterscheide sich damit prinzipiell von jedemUeberbau. Stalin

Der neue britische Schatzkanzler Gaitskell

schrieb, die russische Sprache z. B. sei schon vor der.sozialistischen Basis dagewesen und werde länger dauern als der Sozialismus. Er nahm den Standpunkt des gesunden Men­schenverstandes ein, wie er es auch vor zwei Jahren getan hatte, als er die moderne russi­sche Musik als nichtmarxistisch verurteilte, da sie vom Volke nicht verstanden werde und international sei, anstattrussisch zu sein. Es gibt keine bürgerliche, keine revolutionäre, keine aristokratische Sprache das seien nur unwesentliche Dialekte so wenig wie es eine proletarische Eisenbahn gibt, alle Spra­chen seien Nationalsprachen und würden es bleiben. Ein kommunistisches Esperanto sei barer Unsinn.

Als Cholopow den Diktator darauf hinwies, daß er auf dem XVI. Parteitag eineallge­meine, internationale Sprache, die natürlich keine deutsche, keine russische, keine eng­lische, sondern eine neue Sprache wäre auf Grund des Sieges des Sozialismus für möglich gehalten habe, erwiderte er, seine Ansicht sei damals richtig gewesen, aber heute sei auch das Gegenteil richtig. Er gab auch den Grund an. warum das Gegenteil heute richtig ist.

Stalin behauptete nichts Geringeres, als daß die Lehren von Marx-Engels und selbst die eines Lenin heute für Rußland zum Teil über­holt seien, weil sie bereits der Geschichte an­gehören und damals ihre Berechtigung ge­

habt haben, nämlich im Zeitalter des vor­monopolistischen Kapitalismus. Marx-Engels Seien davon ausgegangen, daß alle kapitalisti­schen Staaten in sich selbst zerfallen und ab­sterben und an ihre Stelle die Weltrevolution und die freie kommunistische Gesellschaft trete. Für Marx-Engels sei der Sozialismus in allen Ländern zum Grund ihrer Lehre ge­worden. Auch Lenin sei noch wesentlich Inter­nationalist gewesen.

Inzwischen aber habe die Epoche des Mono­polkapitalismus und seines russischen Gegen­spielers, des Monopolsozialismus klar und deutlich bewiesen, daßder Sozialismus in einem Lande sich sehr wohl behaupten könne. Damit meinte Stalin seine eigene Epo­che. Theoretisch ausgedrückt: der Stalinis­mus liquidiert den Marx-Engels-Leninismus, indem er genau das tut, was die Vorgänger vermeiden wollten: er baut einen starken autoritären Staat auf, den Marx als überflüs­siges kapitalistisches Machtinstrument hatte vernichten wollen. Stalin bekennt sich zu einem eingeschränkten völkischen Marxismus, er bekennt sich zu einem revidierten Marxismus, der sich von den revolutionären Elementen des alten befreit hat und der nun von den Sowjetgelehrten als letzte und höchste Auto­rität anerkannt werden muß, andernfalls sie im Prozeß einer neuen Reinigung verschwin­den.

Die Hinrichtung des Admirals Canaris

Ein historischer Sensationsprozeß um den20. Juli

MÜNCHEN. (Eig. Bericht.) Der Münchener Oberstaatsanwalt hat, nach einem lömonatigen Ermittlungsverfahren, jetzt gegen einen der höchsten Beamten der seinerzeitigen Gestapo, den ehemaligen SS-Standartenführer Regie­rungsdirektor a. D. Walter Huppenkothen, der sich seit Anfang 1949 in München in Unter­suchungshaft befindet, die Anklage wegen sechsfacher Beihilfe zum Mord, Verbrechen der Aussage-Erpressung und der Körperverlet­zung im Amt erhoben. Hauptpunkt der An­klage ist die Beteiligung Huppenkothens an der Ermordung des früheren Chefs des deut­schen militärischen Geheimdienstes Admiral Wilhelm Canaris, seines Stellvertreters Gene­ralmajor Hans Oster, des Chefrichters des Heeres, Dr. Sack, de9 Pastors Dietrich Bonn- höfer und zweier Offiziere aus der deutschen Abwehrorganisation, Hauptmann Ludwig Geh­re und Hauptmann Theodor Strünck.

Huppenkothen trat gegen die sechs, die im Konzentrationslager Flossenbürg Anfang April 1945 nach einem Scheinverfahren eines SS- Standgerichts abgeurteilt und im Morgen­grauen des 9. April 1945 gehenkt wurden, als Ankläger auf und erwirkte ihr Todesurteil. Huppenkothen war auch nach dem 20. Juli mit der Untersuchung gegen die sogenannte Grafen-Gruppe beauftragt. Zu ihr gehörten

Bertold Stauffenberg, von der Schulenburg und Schwerin-Schwanenfels. Ferner wirkte er auch bei dem Untersuchungsverfahren gegen die leitenden Offiziere der militärischen Ab­wehr.

Wie die Anklageschrift feststellt, wurden die der Verschwörung beschuldigten Unter­suchungsgefangenendurch Mißhandlungen, gesteigert bis zu systematischen Folterungen, durch Drohungen, scharfe und dauernde Fes­selung an Händen und Füßen, grelle Zellen­beleuchtung, mangelhafte Ernährung und Dauerverhöre körperlich, durch Anordnung der Sippenhaft, der Drohung mit der Verhaf­tung und Folterung von Angehörigen seelisch zermürbt, um von ihnen Aussagen zu erpres­sen. Huppenkothen ließ nicht nur das Mar­tyrium der Häftlinge- zu, sondern beteiligte sich sogar an diesen Peinigungen seiner Opfer, heißt es in der Anklageschrift,

. Der Sensationprozeß gegen Huppenkothen, zu dem eine große Zahl prominenter Wider­standskämpfer als Zeugen geladen wird, wird Ende November vor dem Münchener Schwur­gericht stattfinden. Es wird erwartet,' daß dieser Prozeß die dramatischsten Vorgänge der deutschen Widerstandsbewegung beleuch­ten und klären wird.

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Es rollt der Ball, so lang er will, und keiner weiß, wo hält er still!

Sweigert in The San Francisco Chronicla

Wir hoffen mit Bayern

H. B. Der bayerische Landtag hat eine Ent­scheidung gefällt, die jeder Arbeitnehmer, der nicht bei staatlichen Behörden seinen Dienst versieht, mit Genugtuung registriert haben dürfte: Die bayerische Landesregierung soll beim Bund rechtzeitig dafür eintreten, daß die Weihnachtsgratifikationen bis zu 400 DM steuerfrei bleiben.

Hoffentlich denkt man am Rhein wenig­stens dieses eine Mal ebenso wie an der Isar. Nach den bisherigen Erfahrungen ist man allerdings eher zu leichter Skepsis ge­neigt. So stritten sich im letzten Jahre die zu­ständigen Geister über die Frage, wie weit man die Weihnachtsgratifikationen zur Auf­füllung des Staatssäckels belasten solle, recht heftig und lange fast bis zum Fest! Mit dem Ergebnis, daß nichts dabei herauskam und die Arbeitnehmer, die sich schon Hoff­nungen auf eine ungeschmälerte Weihnachts­gratifikation gemacht hatten, enttäuscht und verärgert worden sind.

Nun, in diesem Herbst schaut der Fiskus mehr denn je begehrlich nach Steuerquellen. Um so anerkennenswerter wäre deshalb die soziale Geste, wenn er sich den bayerischen Vorschlag zu eigen machen würde: Nicht zu­letzt geht es hierbei ja um eine von den Arbeitern und Angestellten redlich verdiente Weihnachtsfreude, die auch der Staat als solche werten sollte. Ja, eine Bescheidenheit in diesem Falle würde sozusagen selbst einem akzeptablen Festgeschenk des Staates für seine Finanziers gleichkommen.

Und noch eins: Die Gratifikation gewinnt an Wert, je früher sie ausgezahlt wird. Darf man sich der Hoffnung hingeben, daß in die­sem Jahre eine Art vorweihnachtlichen Ge­fühles die Entschlußbereitschaft Bonns in die­ser Frage beschwingen und beschleunigen wird?

Die Grenze

cz. Der Koreakrieg ist nunmehr in seine Endphase eingetreten, nachdem südkoreanische Einheiten die mandschurische Grenze prak­tisch erreicht haben und auch die UN-Trup- pen sich nicht mehr allzu weit davon ent­fernt befinden. Unklarheit herrscht jedoch noch darüber, ob die UN-Truppen bis zur Grenze vorrücken oder eine gewissermaßen neutrale Zone aussparen sollen, um Zusam­menstöße mit dem kommunistischen China zu vermeiden. Wie kritisch die Situation werden kann, geht schon daraus hervor, daß diese Woche bereits ein amerikanischer Aufklärer, der in Grenznähe operierte, von chinesischer Flak über die Grenze hinweg abgeschossen wurde. Andererseits läßt die Haltung der So­wjets, insbesondere in Lake Success, darauf schließen, daß der Osten es auf eine Auswei­tung des Koreakonflikts anscheinend nicht an­kommen lassen will.

Außer Frage steht, daß Korea bis zur Grenze besetzt werden muß, sollen Ruhe und Ordnung wieder einkehren. Wird diese Not­wendigkeit zugestanden, dann dürfte gerade der Einsatz von UN-Truppen längs der Grenze sinnvoller sein, da ihnen immerhin mehr Disziplin zugeschrieben werden kann als den südkoreanischen Einheiten.

So politisch bedeutungsvoll der Beschluß, die UN-Truppen von der Grenze femzuhalten, erschienen sein mag, effektive Bedeutung kommt ihm auf keinen Fall zu, da Grenzzwi­schenfälle, die die Ausweitung eines Konflik­tes zur Folge haben können, so gut wie immer auf Bestellung erfolgen. In allen anderen Fäl­len hat man sich gewöhnlich mit formalen Protesten begnügt. Es sei nur an die ameri­kanische Maschine erinnert, die vermutlich über der Ostsee abgeschossen wurde. Die Ent­wertung des Menschenlebens kommt hier überdeutlich zum Ausdruck.

Der UN-Vormarsch bis zur Grenze kann aber auch als Beweis angesehen werden, daß die Vereinten Nationen sich ihrer Stärke eben auf Grund des Koreakrieges bewußt gewor­den sind. Sie würden damit zum Ausdruck bringen, daß sie jedem künftigen Versuch einer Aggression konzessionslos entgegenzutreten beabsichtigen. _

Wieder deutsche Reisebüros

BONN. Die alliierte Hohe Kommission hat sich mit der Errichtung von deutschen Reise­büros in London, Paris, Zürich, Rom, Kopen­hagen und Stockholm einverstanden erklärt. In New York ist bereits ein deutsches Reise­büro tätig.

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