Jahrgang;
MITTWOCH, 4. OKTOBER 1950
Nummer 154
Dr. Müller für sofortige Verhandlungen
Schärfere Verkehrsüberwachung / Aufhebung der Immunität des Abg. Kalbfell
Fortsetzung von Seite 1
entzogen würde. Man könne dabei aber nicht schematisch Vorgehen, sondern müsse jeden Fall einzeln prüfen. Ein solcher Fall sei bei dem Arzt in Reutlingen gegeben, bei dem man zu dem Ergebnis gekommen sei, daß aus persönlichen und zeitbedingten Gründen eine milde Beurteilung sich rechtfertige. Es handle sich in diesem Fall um einen Mann, der den Bitten in materieller oder seelischer Not sich befindender Frauen nicht zu widersprechen vermochte. Er habe nicht aus gewinnsüchtigen Gründen gehandelt.
Eine große Anfrage, den Kraftverkehr betreffend, begründete Abgeordneter B ä ß 1 e r (CDU). Er wies auf die wachsende Unsicherheit im Straßenverkehr, auf die Notwendigkeit der Lärmbekämpfung und der übermäßigen Rauchentwicklung bei Kraftfahrzeugen hin. All das habe zu einer unerträglichen Belastung für die Bevölkerung geführt. Die Rücksichtslosigkeit vieler und vor allem Lastkraftwagen- und Motorradfahrer wirke sich besonders nachteilig in den Gebieten mit Fremdenverkehr aus. Die Verkehrsunfälle hätten in Westdeutschland seit 1947 sich verdreifacht. Sie seien zu 60 Prozent auf disziplinlose Auto- und Motorradfahrer zurückzuführen. Allerdings seien auch die Radfahrer, die Fußgänger und Fuhrwerkzeuge nicht frei von Schuld. Das Verkehrsproblem könne vom Staat und den Gemeinden allein nicht gelöst werden. Zusammenfassend forderte der Abgeordnete die laufende Ueberwachung des Straßenverkehrs durch eine ausreichende motorisierte Polizei.
Innenminister Renner, der die Anfrage beantwortete, berichtete über die einzelnen vorbereiteten Maßnahmen zur Bekämpfung der aufgeführten Mißstände. Die derzeitigen Verkehrsvorschriften genügten nicht mehr. Beim Bund werde zurzeit eine neue Verkehrsordnung ausgearbeitet. Erhöhte Bedeutung komme der Erziehung der Kraftfahrer zu. Im ersten Halbjahr 1950 habe Württemberg-Ho- henzollern rund 4600 Verkehrsunfälle, darunter 102 mit tödlichem Ausgang aufzuweisen.
Eine weitere große Anfrage, vorgetragen von dem Abgeordneten Schieferer (FDP) befaßte sich mit der Frage der Auszahlung der Entschädigung für die E- und F-Hiebe. Staatspräsident Dr. Müller teilte als Finanzminister mit, daß die Staatsregierung nicht in der
Ehemalige Pgs nicht nadi USA
FRANKFURT. Durch eine Neufassung der Einwanderungsbestimmungen in den USA ist es den amerikanischen Generalkonsulaten in Deutschland nicht mehr möglich, ehemaligen Mitgliedern nationalsozialistischer und faschistischer Parteien ein Visum nach den USA auszustellen. Auch Mitgliedern irgendeiner Neben- oder Zweigorganisation, Abteilung oder Unterabteilung der NSDAP kann ein Visum nicht mehr ausgestellt werden. Hierunter fallen auch Mitglieder der HJ, des BDM, der Jungmädel und anderer Organisationen. Präsident Truman hatte gegen die Aenderung vergeblich ein Veto eingelegt. Man rechnet aber mit einer Rückgängigmachung dieser Bestimmungen nach dem Wiederzusammentritt des Parlaments im November.
Tagesbefehl Arnolds
DÜSSELDORF. In einem „Tagesbefehl“ sprach der nordfhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold den örtlichen Polizeichefs und den 15 000 Polizeibeamten des Landes für ihre vorzügliche Haltung am Wochenende seine Anerkennung aus. Durch ihren schlagkräftigen Einsatz hätten nennenswerte Störungen der Kommunisten verhindert werden können.
Der kommunistische Fraktionsführer der Hamburger Bürgerschaft, Dettmann, ist wegen Vorbereitung und Teilnahme an den Unruhen am Sonntag verhaftet worden.
Lage sei, mitzuteilen, wann die Auszahlungen erfolgen würden. Die Bank deutscher Länder habe auf Anfrage mitgeteilt, sie sehe keine Möglichkeit, Kredite auf die noch ausstehenden Auszahlungen zu geben. Bei den E- und F-Hieben handelt es sich bekanntlich um den Einschlag von 4 250 000 Festmeter Holz in Württemberg-Hohenzollern durch die Besatzungsmacht. Die dauernden Bemühungen um die Entschädigung hätten bisher zu keinem Ergebnis geführt. In den nächsten 14 Tagen würden jedoch neuerliche Besprechungen stattfinden. Die Forderungen betrügen für den Staatswald 51.5 Mill. DM, für den Körperschaftswald 33.8 Mill. DM. Es sei nur ein Akt der Gerechtigkeit, wenn die berechtigten Ansprüche des Landes auf diesem Gebiet voll befriedigt würden.
Der Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Kalbfell, der im Zusammenhang mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen in bezug auf die Reutlinger Geiselerschießungen ein Disziplinarverfahren beantragt hat, stimmte das Haus auf Grund eines Antrags des Ver- waltungs- und Rechtsausschusses mit Mehrheit
zu. Staatspräsident Dr. Müller erklärte hierzu, er könne der Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Kalbfell aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zusammen. Er halte die Verschiebung der Beweislast zuungunsten des Beleidigten nicht für angebracht. Für die KPD schloß sich Abgeordneter Acker den Argumenten des Staatspräsidenten an, wobei er noch hinzufügte, die Immunität der Abgeordneten stehe in Westdeutschland nicht mehr sehr hoch im Kurs.
Eine längere Aussprache entspann sich über die Frage der Gewerbefreiheit. Während der Abgeordnete Schwarz (CDU) sich dafür aussprach, die Zulassungsbestimmungen für selbständige Handwerker zu lockern, traten Abgeordneter Kalbfell (SPD) und Staatspräsident Dr. Müller dafür ein, daß man an dem Grundsatz einer ordentlichen Lehre und der Meisterprüfung festhalte, wobei zugleich darauf hingewiesen wurde, daß man in dieser Hinsicht, den Zeitumständen Rechnung tragend, immer sehr großzügig verfahren sei.
Schließlich fand auch ein Antrag der CDU, die Staatsregierung solle zwecks Ermäßigung der Branntweinsteuer mit der Bundesregierung beschleunigt Verhandlungen aufnehmen, da sonst große Abfallobstvorräte dem Verderb anheimfallen werden, die Zustimmung des Hauses.
Heftige Angriffe auf Regierung Attlee
Die Jahreskonferenz der britischen Labour Party
LONDON. Im Seebad Margate tagt seit Montag die Jahreskonferenz der britischen Labour Party. Sie wurde von dem Vorsitzenden W a t s o n in Anwesenheit von 1500 Delegierten eröffnet. Watson erklärte, die industrielle Produktion habe einen Höchststand erreicht. Heute sei das britische Volk besser angezogen, besser ernährt und besser untergebracht als je zuvor. Der Arbeiter habe nach und nach einen größeren Anteil am Reichtum des Landes erworben und sei deshalb auch zur Verteidigung dessen verpflichtet, was er erhalten habe.
Der Vorsitzende wandte sich mit scharfen Worten gegen den Stockholmer Friedensappell, der nur eine Kundgebung gegen die westlichen Demokratien sei. Er forderte die Aufstellung starker Sicherheitsstreitkräfte für die Erhaltung des Friedens. Die Geschichte habe gelehrt, daß der Starke stets den Schwachen angreife.
Die Ausführungen Watsons bildeten den Auftakt für einen von der Partei vorbereiteten Feldzug, durch den die pazifistischen Labour-Anhänger von der Notwendigkeit der
Wiederaufrüstung Großbritanniens überzeugt werden sollen.
Die Gewerkschaftsführer griffen die Regierung Attlee heftig an und stellten die Frage ob nicht der Regierung die Leitung der verstaatlichten Eisen- und Stahlindustrie entzogen werden sollte. In der anschließenden Abstimmung wurde der Regierung mit knapper Mehrheit das Vertrauen der Gewerkschaften ausgesprochen. In der Diskussion ergab sich, daß weite Kreise der Labour Party enttäuscht sind, weil die Sozialisierung ihnen nicht die Erfüllung ihrer Wünsche gebracht hat. Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, daß in den verstaatlichten Wirtschaftszweigen stellenweise schlechtere Arbeitsbedingungen als in der Privatwirtschaft herrschten.
Die britische Regierung hat als ersten Schritt zur Verstaatlichung der Stahlindustrie einen siebenköpftgen Eisen- und Stahlausschuß ernannt.
Premierminister Attlee erklärte, seine Regierung werde kompromißlos an ihrer sozialistischen Politik festhalten.
Nachrichten aus aller Welt
BAD REICHENHALL. Rund 2000 Mitglieder und Anhänger der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Oesterreich trafen sich am Sonntag in einer großen Flugzeughalle an der deutschösterreichischen Grenze bei Freilassing.
NÜRNBERG. Zwei Angehörige der Besatzungsmacht haben eine 35jährige Sekretärin überfallen und ihr Schmucksachen im Werte von 500 DM geraubt. Ein anderer amerikanischer Soldat hätte einen Raubüberfall auf eine Tankstelle versucht, war jedoch geflüchtet, als der Tankwart das Ueberfallkommando alarmierte.
AUGSBURG. Das Augsburger Schwurgericht hat am Montag den ehemaligen Kapo aus dem KZ Mauthhausen, Kämmerer, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, da ihm 96 Morde an russischen und jüdischen Insassen des KZ Mauthhausen nachgewiesen werden konnten.
MANNHEIM. Aus 13 Fernleitungen zwischen Mannheim und Frankfurt ist Kupferdraht im Wert von etwa 400 DM herausgeschnitten worden. Die Fernsprechverbindung nach Frankfurt war dadurch für einige Zeit unterbrochen. Die Täter konnten bisher noch nicht ermittelt werden.
DARMSTADT. Der Bruderrat der Evangelischen Bekennenden Kirche in Deutschland sprach sich auf einer Tagung gegen eine Remilitarisierung Deutschlands aus. Er lehnte die Aufstellung deutscher Verbände in einer westeuropäischen Armee ebenso ab, wie den Aufbau einer neuen
deutschen Wehrmacht. Durch die Erfüllung sozialer Aufgaben lasse sich ein Krieg eher vermeiden, als durch Rüstung.
BAD HOMBURG. Mehrere hundert Hugenotten aus allen Teilen des Bundesgebietes versammelten sich in dem kleinen Taunusstädtchen Friedrichsdorf zur Wiedergründung des „Deutschen Hr^enotten-Vereins".
HANNOVER. Unter den 20 besten Schutz- und Gebrauchshunden des Bundesgebietes wurde in Hannover der Airdal-Terrier-Rüde „Baron von Spichernsee“ als Bundessieger ermittelt.
VATIKANSTADT. Die tschechoslowakische Regierung hat, wie der Vatikansender bekanntgab, eine Reihe katholischer Nonnenklöster, Krankenhäuser und anderer kirchlicher Einrichtungen in Südböhmen beschlagnahmt.
PRAG. Drei Piloten der staatlichen tschechoslowakischen Luftverkehrsgesellschaft, die zusammen mit ihren Angehörigen mit einem Flugzeug nach Westdeutschland fliehen wollten, sind verhaftet worden.
NEW YORK. In New York wurde am Sonntag die Rekordtemperatur von 31 Grad gemessen. In einigen Gebieten der Rocky Mountains liegt dagegen bereits bis zu 40 cm Schnee.
SAO PAULO. Hier wurde dieser Tage die erste Fernsehstation Südamerikas in Betrieb genommen. In Kürze soll auch in Rio de Janeiro eine solche Station eröffnet werden.
Schwerer Schlag für Vietminh
Französische Streitkräfte besetzen Thai Nguyen
SAIGON. Die französischen Streitkräfte in Indochina haben bei ihrer Offensive gegen die Vietminh deren Hauptstützpunkt, die befestigte Stadt Thai Nguyen erobert. An der Operation, die von Luftstreitkräften und Flußkanonenbooten unterstützt wurde, nahmen Einheiten der Fremdenlegion, der vietnamesischen Armee, der französischen Kolonialarmee und der französischen Heimatarmee teil.
Thai Nguyen ist ein wichtiger Knotenpunkt für den Grenzverkehr mit China. Der einzige größere Stützpunkt der Vietminhs in diesem Gebiet ist jetzt noch Backan, 65 km nördlich von Thai Nguyen.
Der Vorstoß der französischen Angriffsverbände auf die „militärische Hauptstadt“ der Aufständischen scheint für diese völlig überraschend erfolgt zu sein.
Tibet muß nach Peking
NEU DELHI. Die tibetanische Delegation, die sich zurzeit zum Abschluß eines chinesischtibetanischen Schlichtungsvertrages in der indischen Hauptstadt aufhält, gab am Montag bekannt, die chinesische Regierung lehne es ab, einen Pakt mit Tibet durch ihren Botschafter in Neu Delhi unterzeichnen zu lassen.
Der tibetanische Finanzminister Shakabpa erklärte, er sei davon in Kenntnis gesetzt worden, daß die Vorbesprechungen zwar in Neu Delhi abgeschlossen werden könnten, ein endgültiger Vertragsabschluß jedoch erst dann zustande kommen soll, wenn sich die tibetanische Delegation nach Peking begebe.
Sicherheilsvorkehrung in Wien
WIEN. Um Demonstrationen während der heutigen Kabinettssitzung zu verhindern, sind in Wien geheime Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Ein kommunistischer Aktionsausschuß hatte Bundeskanzler Dr. Figl am Montag ein Ultimatum zugestellt, in dem für heute ein Generalstreik angekündigt wird, wenn die österreichische Regierung den von den kommunistischen Betriebsräten erhobenen Lohn- und Preisforderungen nicht Rechnung trägt.
Die österreichische Regierung hat die Bevölkerung aufgerufen, dem Streikappell der kommunistischen Partei nicht Folge zu leisten. Das Kabinett fordert alle Bürger „zur Verteidigung der Freiheit, der Demokratie und zur Abwehr des verbrecherischen kommunistischen Angriffes“ auf. Voraussichtlich werden rund 50 000 Arbeiter der sowjetisch verwalteten Fabriken in und um Wien dem Streikaufruf Folge leisten.
Das neue Bundesgericht
BONN. Bundespräsident Theodor H e u ß ernannte auf Vorschlag des Bundesjustizmini- sters Dr. Dehler nach der Wahl durch den Richterausschuß des Bundestages die Senatspräsidenten und Bundesrichter des Bundesgerichtshofes. Zum Präsidenten dieses Gerichtshofes war bereits vor zwei Tagen der Oberlandesgerichtspräsident in Bamberg, Hermann Weinkauff, vom Bundespräsidenten ernannt worden. Senatspräsidenten wurden: Dr. Pritsch, Senatspräsident beim Obersten Gerichtshof Köln, und Hans Richter, Ministerialrat im hessischen Justizministerium. Zu Bundesrichtem wurden ernannt: Elisabeth Krumme, Obergerichtsrätin, die Richter beim Obersten Gerichtshof Köln, Wilde, Wolfhart und Dr. Geier, außerdem Senatspräsident Dr. Heidenhain und Landgerichtspräsident Dr. Heck, Tübingen, die Oberlandesgerichtsräte Professor Busch und Ascher sowie Dr. Selows- k y, Ministerialrat in Südbaden, Dr. Hülle, Senatspräsident in Oldenburg und Dr. von N o r m a n n, Landgerichtsdirektor in He- chingen.
dt. Hfaimt £efgUö SfüeS
Roman «in« Dämon« von Norbort Jacques
22] Copyright by Hoffmann und Camp* * Varlag, Hamburg
Er verließ den Omnibus und die Menschen, rannte durch den Tiergarten, sprach laut mit sich selber, fluchte und flehte. Konnte er seinen Sturz noch abfangen? War so etwas noch möglich? Sich selber am Kragen fassen und vom Abgrund wegreißen und sich zwischen die Menschen stellen, um zu versuchen, ob es für ihn eine Möglichkeit gäbe, sich diesem Mäd- chen zu nähern? Er stöhnte und ächzte. Er biß sich in die Fäuste und hieb sich an die Schenkel. Aber stärker noch schmerzte ihn das, was tief in seinem Innern tobte.
So ging er zu dem Wohlfahrtsamt, wo er dem geliebten Mädchen schon einmal begegnet war.
*
Eine halbe Stunde vor ihm waren Helll Born und die Lara dort angekommen. Sie hat- mit der Regierungsrätin alles Nähere besprochen, waren auf den Vorschlag der Lara hin übereingekommen, die Wohlfahrtsvorstellung zu geben und sie erst nach Schluß aller Theater und Lichtspielhäuser beginnen zu lassen.
Es herrschte eitel Freude in dem Zimmer, als die Regierungsrätin in ihren Amtsraum nebenan gebeten wurde, wo jemand sie sprechen wollte. Der Besucher hatte seinen Namen auf den dazu bestimmten Block geschrieben.
„Ich werde gleich zurück sein“, sagte die Regierungsrätin in der Tür und ließ sie ein wenig offen.
Aber gleich lenkte das Gespräch, das im Nebonraum zu hören war, Helli Born und die Lara von ihrer Unterhaltung ab, und schwei
gend horchten sie zu, indem sie sich dabei wiederholt anblickten.
Den Beginn hatten sie versäumt. Sie hörten, wie eine Männerstimme hart und scharf das Wort „Arbeit“ ausrief. Worauf die Regierungsrätin fragte: „Wie lange sind Sie denn arbeitslos, und wo haben Sie die Arbeitslosenunterstützung bezogen?“
Der Mann: „Ich habe keine bezogen.“
Die Beamtin: „Aber Sie hatten ein Recht darauf.“
Der Mann: „Ich verzichte auf alle Rechte außer auf das zur Arbeit.“
Der Tür gegenüber hing ein Spiegel. Als Helli zufällig zu ihm aufblickte, sah sie. daß er einen Winkel des Nebenraumes durch die halboffene Tür wiedergab. Und mitten in diesem Bild gewahrte sie etwas Unerwartetes. Sie erschrack so stark, daß sie blaß wurde.
..Kind was haben Sie denn?“ fragte die Tänzerin besorgt.
Im ersten Augenblick vermochte Helli nicht zu antworten. Dann sagte sie verschüchtert: „Ich bin so erschrocken.“
..Wovor denn?“ E s ist doch nichts geschehen.“
Mit einem scheuen Nicken des Kopfes deutete sie in den Spiegel.
Nun schaute auch die Lara hin und sah im Glas einen Ausschnitt des Nebenzimmers und mitten drin einen noch jungen Mann in einem blauen Mantel.
Der Mann stand mit zurückgezogenen Armen, wie in einer Angriffsstellung, vor der Regierungsrätin, die dem Spiegel den Rücken kehrte. Die Züge seines hageren Gesichts waren drohend gespannt.
„Ich will arbeiten!“ rief er.
„Weshalb erschrecken Sie davor?“ fragte die Lara.
Aber Helli Born zuckte nur die Achseln, und auch nachher, als der 1 Fremde gegangen und die Regierungsrätin zurückgekommen war und von dem Besuch erzählt hatte, schwieg Helli über ihr Erlebnis mit dem Fremden und die Begebenheit mit dem Hundertmarkschein,
Sie machte sich Vorwürfe, daß sie die Begegnung verschwieg, aber sie vermochte nicht, darüber zu sprechen, und wagte nicht, sich die Ursache ihrer Hemmung einzugestehen.
„Was ist nun solch ein Mensch?“ fragte die Lara die Regierungsrätin. „Wir sahen ihn im Spiegel. Er war doch gut und sorgfältig ge- kle ; det.“
„Er sagte, daß er seit zwei Jahren beschäftigungslos sei. So lange halten Anzüge nicht die Form. Wissen Sie, die Kleider sind stets* das erste, was wir hier im Amt anschauen.■ Sie verraten oft etwas Entscheidendes, was die Besucher ungern pi'eisgeben. Haben Sie den Ton gehört, in dem er nach einer Beschäftigung verlangte? Wenn er anders gesprochen hätte, müßte ich ihn für einen Hochstapler halten.“
„Und so?“
„Ich kann nur annehmen, daß er ein bestimmtes Erlebnis nicht aus seinem Unterbewußtsein verdrängen kann. Er leidet unter diesem Erlebnis.“
„Sie haben einen interessanten Beruf, gnädige Frau“, sagte die Lara, „aber Sie scheinen auch alles zu können, was er verlangt.“
„Man tut sein Möglichstes, Es ist nicht immer sehr viel“, antwortet die Beamtin bescheiden.
..Was werden Sie tun — mit ihm?“ fragte Hefli. sich mühsam meisternd.
..Sie wissen, was wir als erstes in solchen Fällen tun. tun müssen: bei der Polizei an- fragen. ob der Betreffende dort bekannt ist.
Helli erschrak.
„Ich werde das gleich selber erledigen“, sagte die Regierungsrätin.
Und mit einemmal spürte Helli Born den unheimlichen Drang, davonzulaufen, weit weg von d'esem Amt. das jetzt den ganzen Apparat spielen ließ, um Namen und Adresse dieses verzweifelten blonden Menschen festzustel- len und mit kalten Verfügungen in sein Leben einzugreifen.
Es war sogar möglich, nein, wahrscheinlich, daß ihr, Helli, die dienstliche Aufgabe zufiel, sich mit der Existenz dieses Mannes zu befassen, ihm zu helfen, ihn zu beraten, ihn auszuforschen.
Unvorstellbar. Lieber gab sie hier ihre Stellung als Sozialhelferin auf... Und jeden Augenblick konnte die Regierungsrätin Fragen an sie richten, sie um Auskünfte ersuchen; gewiß sah man ihr an, wie verwirrt und erschrocken sie jetzt war...
Zum Glück hatte sie mit der Tänzerin vorher ausgemacht, daß man zusammen zum Vater gehen wollte, um ihn um Hilfe und Unterstützung für die Wohlfahrts-Nachtvorstellung zu bitten. Er war in der Universität, wo er heute nachmittag sein Publicum las, jenes Kolleg, worin immer wieder der „Patient M“ vorkam, ein aufsehenerregender Sonderfall für alle Psychiatrie-Beflissenen. Wie gut es sich jetzt traf, daß es schon so spät war!
Die Lara ließ sich überzeugen, daß es die höchste Zeit war, wenn sie Professor Born noch in der Universität erreichen wollten, und schnell verabschiedeten sie sich von der Regierungsrätin.
*
Prof. Born sprach in der Universität über den „Fall Mabuse“.
Zum erstenmal, nachdem er sich Jahre hindurch in schweigsamer Arbeit dem Fall Mabuse gewidmet hatte, spürte Born, wie seine Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken, in seinem Mund zu Leben geworden, eine neue Gegenständlichkeit annahmen.
Er erlebte hier den Fall Mabuse von einer anderen Seite. Daß er ihn aus sich selbst freigab, dem Bewußtsein von fünf- bis sechshundert Zuhörern, die den Saal füllten, übermittelte, ihn in diesem Bewußtsein fremder Menschen als etwas aufbaute, was einen körperlichen Eindruck des Verbrechers vermittelte, der gespenstisch über allem zu schweben schien, erwirkte in Bom tief aufreißende Gefühle. . (Fortsetzung folgt)