6. Jahrgang

SAMSTAG, 30. SEPTEMBER 1950

Nummer 152

Fahrt in dieVindimias

Wenn Portugals Bauern die Trauben ernten Von unserem Lissaboner Vf. Sch.-Korrespondenten

LISSABON, im September

Wir wollen Sonntag in die ,Vindimias fah­ren!" hatte mir mein Freund Jos6 gesagt, der von einer Quinta stammt, einem Bauernhof in den Bergen über dem Atlantik.Vindimias ist die Erntezeit der Trauben, die selige Zeit des jungen Weines.

In den Vorstädten Lissabons krähen die Hähne. Auf dem Dach des Autobusses holpern Kisten und Körbe, Oelkannen und Limona­denflaschenkästen. Grau und nebelverhangen verliert sich der Tejo zwischen der Weite sei­ner Ufer. Aber dann ist die Sonne schließlich doch stärker. Mit ansteigendem Weg bricht der Nebel auseinander. Der Autobus erklettert kurzatmig die nächste Kurvensteigung. Da breiten sich auf den Hügeln rundum die Weingärten, endlos, unübersehbar. Zwischen den Weinstöcken leuchtet die Farbigkeit bun­ter Kopftücher. Als ob lustige Fähnchen in das sich färbende Laub gesteckt worden seien. Ein alter Bauer mit knaligrüner, tief über die Ohren hängender Wollmütze steht vor dem Tonnenkarren, in den die Mädchen' die Früchte Schütten aus schweren dunklen Körben voller blauer Trauben, die auf ihren Köpfen schwan­ken, wenn sie damit zum Karren schreiten, hochaufgerichtet und in den Hüften wiegend, als ob sie zu einem Fest gingen.

Und weiter geht die Fahrt durch das Land derVindimias". Süßherber Duft schlägt aus den Türen der Bauernhäuser in den kleinen Dörfern. Braune Rinder trotten schweifpeit­schend vor ungefügen Tonnenkarren, in denen die Früchte schüttern. Einmal halten wir vor niedriger Adega, der bäuerlichen Kelter. In großen Bottichen treten Männer die Trauben. Stampfend in schwerem Takt, der wie das Lied, das sie dazu singen, aus einer schon ver­gessenen Zeit zu kommen scheint, heben und senken sich ihre Füße in blutenden Trauben. Bis über die bloßen braunen Schenkel hinauf spritzt der rote Saft und sprüht ihnen in die Gesichter, auf denen der Schweiß perlt.Agua de Fußwasser nennt man den jun­gen Wein in Portugal. Und der Name hat seine gewisse Berechtigung.

Die Sonne steht hoch, als Josd schließlich zum Aussteigen auffordert. In seinem Dorf feiern sie das Fest der Vindimias, den großen herbstlichen Jahrmarkt. Von weither aus Dör­fern und Höfen sind die Bauern gekommen, die unter graugrünen Oelbäumen und knor­rigen Korkeichen ihre Esel und Kühe, ihre quiekenden Schweine und stämmigen Maul-

Labour-Sieg bei Ersatzwahl

LONDON. Bei der am Donnerstag in Lei- cester durchgeführten Ersatzwahl für das Un­terhaus wurde der Labourkandidat mit 18 777 Stimmen gegen 13 642 für den konservativen Kandidaten gewählt. Da am selben Tage ein konservativer Abgeordneter gestorben ist, hat sich nunmehr die Labourmehrheit im Unter­haus auf 9 erhöht.

Aus dem am Donnerstagabend veröffent­lichten Programm für die Jahresversammlung der britischen konservativen Partei, die vom 12. bis 14. Oktober in Blackpool stattfinden wird, geht hervor, daß die Konservativen für den Fall, daß sie wieder an die Regierung kommen, ein Verbot der kommunistischen Partei nicht beabsichtigen. Ein Entschließungs­entwurf, der vorgelegt werden soll, fordert die Heranziehung deutscher Kontingente zu einer westeuropäischen Streitmacht, eine an­dere die Ernennung eines europäischen Ober­befehlshabers, der dem Europarat verantwort­lich sein soll.

Die Jahreskonferenz der Labour-Party, die vom 2. bis 6. Oktober in Margate stattfindet, wird 1519 Delegierte, die eine Stimmenzahl von 6,31 Millionen repräsentieren, vereinen. Die Konferenz hat sich mit rund 360 Resolutio­nen und 80 Zusatzanträgen zu befassen.

tiere verhandeln. Auf ihren schwarzen Anzü­gen und grünen Wollmützen, deren dicke Troddel bis auf die Schultern schlenkern, liegt weißlichgrauer Staub.

Wenige hundert Meter weiter, unter alten Kastanien sind rohgezimmerte Verkaufstische aufgeschlagen, mit Anzügen und Pferdege­schirr, mit Sattelzeug und Ackergerät, Glocken und Glöckchen für Rind und Schaf, bunte, handgewebte Decken für die kalten Winter der Bergdörfer und große, breite Schirme, die man über sich und das Eselchen spannt, wenn man durch die heiße, brennende Sommer­sonne trottet. Alles das ist in buntem Durch­einander angebäuft. Dazwischen liegen Oel- lampen für die dunklen Tage des Winters, schmal und gebaucht wie jene, die die Römer in das Land brachten und die der Bauer oft noch findet, wenn er mit Pflug oder Hacke die Erde umbricht.

Vor einer Kirmesküche machten wir halt Aus Lehm ist der primitive Herd zusammen­geklebt, gerade ausreichend, daß eine Brat­pfanne darüber und eine Handvoll Strauch und Holzkohle darunter Platz hat. Und nun brodelt ein Gemisch aus Reis und Oel, Boh­nen und Hammelfleisch in der Pfanne. Eine alte Bäuerin fächelt Wind in die Holzkohlen.

Wir tunken das Bauernbrot in die Pfanne und fischen die Fleischstücke aus der noch bro­delnden Brühe. Der Geruch des Oels mischt sich mit der strengen Ausdünstung der Maul­tiere und Schafe, die ein Windzug herüber­weht. Das ist ein guter Geruch, wenn man dazu ein Glas Landwein trinkt, ganz herben Bauernlandwein,Fußwasser, von Bauern­füßen zerstampft und so dunkel und stark, daß es nicht ratsam ist, sich allzuviel davon einschenken zu lassen.

Auf freiem Rund vor uns lassen Zigeuner eine Geiß auf rollender Tonne tanzen und verkaufen Kräuter und Heilmittel für Mensch und Tier. Eine Alte, ausgedörrt von der Sonne der Landstraße, dicke schwere Goldringe in den Ohren, schlägt dazu monotonen Takt auf ihrem Tamborin.

In der Quinta, dem Heimathof Joses, be­schließen wir das Mahl mit trockenem Brot und herbem, auf der Zunge brennendem Schafs­käse und ruhen dann im Schatten weitasten­der Feigenbäume, während vom Feld der Ge­sang der Mädchen und Frauen kommt, die den Wein ernten.

Am Abendgrauen rattern wir wieder zwischen Weinbergen entlang und durch die engen Stra­ßen kleiner Dörfer. Wie eine große tiefe Wolke liegt der Geruch des Weines über den niedri­gen Häusern und im trüben Licht der vielen Adegas, an denen wir vorüberkommen, tan­zen immer noch, gespensterhaft fast und bac- chanalisch, die Schatten der stampfenden Männer.

Unsere Außenpo itik

WASHINGTON. Die Sowjetunion werde von einermachthungrigen-:Regierung be­herrscht, erklärte das amerikanische Staats­departement in einer am Freitag veröffent­lichten Broschüre mit dem TitelUnsere Au­ßenpolitik.

Seit 1945 habe die Sowjetunion über 500 Millionen Menschen unter ihre Gewalt ge­bracht. Der Kreml habe Estland, Lettland und Litauenausgelöscht und Polen, Ungarn, Ru­mänien, Albanien, Bulgarien und die Tsche­choslowakei in einen Zustand der Knecht­schaft herabgewürdigt. Dem kommunistischen

China sei vom Kreml dasselbe Schicksal be­stimmt.

Die These von einer sowjetischen und einer amerikanischen Einflußsphäre als Weg zu ei­nem dauerhaften Frieden wies das Staats­departement alsundurchführbar, unreali­stisch und moralisch nicht zu rechtfertigen zurück.Mit dem Gedanken, daß sich zwei Großmächte im Jahre 1950 zusammensetzen, um die Welt zwischen sich aufzuteilen und beiläufig über das Schicksal von freien Völ­kern zu entscheiden, können sich allenfalls Karikaturenzeichner beschäftigen. Demokra­tische Regierungen und Völker können ihn nicht ernsthaft in Erwägung ziehen.

Nadirichten aus aller Welt

GARMISCH. Das Zugspitzobservatorium feiert heute sein 50jähriges Bestehen. An den Feier­lichkeiten nehmen etwa 400 in- und ausländische Persönlichkeiten der Wissenschaft und des öffent­lichen Lebens teil.

WIESBADEN. In der Zeit vom 1. Januar 1947 bis 30. Juni 1950 wurden im Gebiet der Bundes­republik nach Angaben des statistischen Bundes­amtes 395 685 uneheliche Kinder geboren. Das Spitzenjahr war 1946 mit 116 310 unehelichen Ge­burten.

BONN. Die internationale Flüchtlingsorganisa­tion (1RO) hofft, in der letzten Phase ihrer Tä­tigkeit noch weitere 175180 000 Verschleppte von Deutschland nach anderen Ländern bringen zu können, teilte der Generaldirektor der IRO, King3ley, am Donnerstag nach einer Unter­redung mit den Hohen Kommissaren mit.

KÖLN. Die Bundesbahndirektion Köln führte am Donnerstag zum erstenmal dengläsernen Zug" vor, der nun in Westdeutschland eingesetzt und überwiegend zu Ausflugsfahrten und Er­holungsreisen Verwendung finden soll.

BIELEFELD. Bei den alliierten Herbstmanö­vern, die diese Woche zwischen Bielefeld und Paderborn stattfanden, erklärte der britische Kriegsminister Strachey auf dem Manöverge­lände vor Pressevertretern, die britischen Streit­kräfte in der Bundesrepublik würden durch die 11. Panzerdivision verstärkt. Die Verlegung an­derer Einheiten in die Bundesrepublik sei nicht vorgesehen.

HAMBURG. Im vergangenen Jahr kamen im Bundesgebiet bei Verkehrsunfällen rund 5000 Menschen ums Leben. Rund 90 000 wurden ver­letzt. Jeder Verkehrsunfall kostet im Durch­schnitt 2000 DM.

LÜBECK. In der Nacht zum Donnerstag dran­gen Einbrecher ln ein Lübecker Feinkostgeschäft ein, stahlen Eßwaren im Werte von 100 DM und hinterließen eina Postkarte mit der Nachricht, daß sie selbst bedauerten, stehlen zu müssen, aber wir haben nichts mehr.

HELMSTEDT. Auf der Autobahn bei Helm­stedt wurde am Freitagmorgen mit 180 Lastzü­gen, die auf Einlaß in die Ostzone warteten, ein neuer Rekord erreicht. Es wird angenommen, daß diese neuen Schikanen eine Vergeltung für die Maßnahmen gegen die KPD und FDJ in der Bundesrepublik sind.

WIEN. Auch am Donnerstag versuchten die österreichischen Kommunisten, den Eisenbahn- und Straßenverkehr durch Sitzstreik zu ver­hindern. Die Arbeiter des Linzer Transportge­werbes und der Stahlindustrie, die am Donners­tag noch demonstrierten, nahmen am Freitag wieder ihre Arbeit auf.

ROM. Wie aus Vatikankreisen verlautet, be­reitet die tschechoslowakische Regierung ein neues Gesetz vor, das die Beschlagnahme von Wertgegenständen aus Kirchenbesitz vorsieht.

PERUGIA. Am Donnerstagabend stürzte ein Autobus mit 53 Rompilgern ln der Nähe von Perugia über eine Straßenböschung. Drei Pilger wurden getötet, vier weitere schwer verletzt.

ISTANBUL. Die bulgarischen Behörden ver­suchten in der letzten Zeit wiederholt, größere Gruppen von Zigeunern ohne Reisepässe nach der Türkei abzuschieben. Da sich die türkischen Grenzbehörden weigerten, solche alsTürken getarnten Einwanderer aufzunehmen und sie nach Bulgarien zurückschickten, kam es an der bul­garisch-türkischen Grenze wiederholt zu Unter­brechungen des Zugverkehrs.

WINDHUK. Das südwestafrikanische Parlament beschloß am Freitag, den Administrator der süd- . afrikanischen Regierung aufzufordern, Deutsch wieder alseinzige Unterrichtssprache" ln süd- westafrikanlschen Schulen einzuführen, wo dies durch die Umstände gerechtfertigt ist.

WASHINGTON. Die amerikanische Armee for­derte am Donnerstag, daß in den nächsten sechs Monaten rund 300 000 neue Einberufungen vor­genommen werden.

Wieder in Seoul

LH. Zum zweitenmal innerhalb weniger Wochen geht die Walze des Materialkrieges über Südkorea. Die Zurückgewinnung der Hauptstadt Seoul durch die UN-Streitkräfte hat zweifellos bei denen, die um ein zweites Dünkirchen für die Amerikaner bangten, Be­ruhigung ausgelöst und sie in der Hoffnung bestärkt, daß der Sache der Freiheit in Korea der Sieg beschert sein möge.

Seoul ist aber auch ein schreckliches Bei­spiel dafür, welche furchtbaren Folgen die Uneinigkeit der Weltmächte hat. Nach Au­genzeugenberichten ist die Stadt erst gefallen, nachdem die amerikanische Luftwaffe 5-Zent- ner-Bomben in rauhen Mengen auf sie abge­worfen hat. Die Stadt, in der vor Beginn der Kampfhandlungen 1,3 Millionen Einwohner lebten, gleicht einem Trümmerhaufen. Frauen, Kinder und Greise haben der humanen Kriegsführung gleichermaßen ihren Tribut zollen müssen wie die kämpfenden Soldaten. Die Erfolge der UN-Truppen werden nicht ge­schmälert, wenn man immer wieder auf diese Tatsachen hinweist, und auf das Leid, das der Krieg über Korea gebracht hat und auf die Tränen, die nicht nur dort, sondern auch in Amerika um die Opfer an Menschen,geweint werden. Wir Deutsche, die wir Jahre hindurch den gleichen Drangsalen ausgesetzt waren, die wir heute noch an den Folgen des Krieges zu tragen haben, und die wir noch um unsere zurückgehaltenen Gefangenen des seit 5 V 2 Jahren beendeten Krieges trauern, können über die strategischen Erfolgsberichte hinaus ermessen, was es heißt, den Krieg im Lande zu haben. Deshalb fühlen wir mit den Men­schen in Korea, deshalb klagen wir die an, die es unterlassen haben, nach dem zweiten Weltkrieg der Welt den Frieden zu geben.

Bis zum bitteren Ende . .

Der französische Außenminister Schumsn hatte, wie am Quai dOrsay verlautet, von seiner Regierung die Anweisung erhalten, gegen eine Wiederaufrüstung Deutschlands notfalls bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Dieser Kampf Schumans ist im wahrsten Sinne des Wortes einhinhaltender Wider­stand. Die Regierung Pleven hält das franzö­sische Volk so lange hin, bis es reif ist, zu vernehmen, daß das bittere Ende da ist. und die Außenminister der USA und Englands, die um die Manöver Schumans Bescheid wissen, leisten ihm Hilfestellung und tun so, als wüß­ten sie nicht, daß Schuman und sein Regie­rungschef lieber heute als morgen auf die USA-Linie efnschwenken würden, wenn sie könnten. Hat die Regierung Pleven erst die Gesetze geschaffen, die sie in der Kammer durchbringen will, und ist die Stimmung des französischen Volkes genügend vorbereitet, dann wird man plötzlich feststellen, daß das ersehnte bittere Ende gekommen ist. Inzwi­schen aber verhandeln Außenminister, beraten Verteidigungsminister, bemühen sich Sachver­ständige und lächeln die Auguren.

Entfernung von Radikalen

TÜBINGEN. Die Staatsregierung von Würt- temberg-Hohenzollern hat beschlossen, Maß­nahmen vörzubereiten, um Mitglieder oder Anhänger links- oder rechtsradikaler Organi­sationen aus dem öffentlichen Dienst zu entfer­nen.

Mit Württemberg-Hohenzollern haben sich jetzt alle Länder der Bundesrepublik offiziell den Maßnahmen der Bundesregierung zum Ausschluß von Staatsfeinden aus dem öffent­lichen Dienst angeschlossen.

Das Innenministerium von Württemberg- Hohenzollern hat das für Samstag und Sonn­tag vom LandeskomiteeJunge Friedens­kämpfer nach Schwenningen einberufene Treffen verboten, teilte Oberbürgermeister Dr. Köhler am Donnerstag in einer Ge­meinderatssitzung mit.

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Roman «Inas Dämons von Norbarf Jacquas I

20] Capyrighi by Hofimann and Campa Varlag, Hamburg

Sie wählte 234 432. Ihre Finger zitterten an der Scheibe. Bebend nahm die Hand den Hö­rer, und Helli hörte mit klopfendem Herzen das Klingelzeichen. Mit einer unsicheren Stimme sprach sie, worum sie gebeten, wor­den war.

Danke! hörte sie eine Männerstimme kurz antworten. Sonst nichts. Auf der anderen Seite war gleich eingehängt worden.

Den ganzen Weg bis nach Hause ging sie mit sich zu Rate, ob sie ihrem Vater das Er­lebnis berichten sollte. Zunächst erschien ihr das als selbstverständlich. Aber mit der wach­senden Entfernung vom Ausgangspunkt des Erlebnisses wurde sie zusehends unentschlos­sener. Eine Regung begann ln Ihr Oberhand zu gewinnen, jeder Mensch besitze in seinem Innern so etwas wie eine Insel, die zu be­treten niemandem gestattet sei.

Durch einen Zufall, den sie nicht herbeige­führt hatte, war sie Zeugin der Not eines andern geworden. Einen Dritten mit diesen Dingen zu belasten, und sei es selbst der Mensch, dem sie näherstand als jedem an­deren, war nicht statthaft, war ein Vergehen gegen das Gesetz in ihr. Sie hatte kein Recht dazu.

Als sie zu Hause eintraf, war sie entschlos­sen, zu schweigen. Lange noch überlegte sie, wo sie den jungen Mann wohl gesehen haben könnte, doch sie fand keinen, sicheren Anhalt. Uebrigens bewies seine Haft nicht so ohne weiteres etwas gegen ihn; auch Unschuldige wurden manchmal eingesperrt.

Am nächsten Tag, also an einem Sonntag, hatte sie wiederum ein Erlebnis. Es war noch

aufwühlender als das gestrige, denn es war an dieses gebunden und hatte darüber hinaus noch die Eigenart, daß sie den Vorgang nicht verstand und Seine Ursache nicht erkennen konnte.

Unter der Leitung Ihres Amtes fand ein Blumentag statt, an dem in den Straßen künst­liche Margeriten und Veilchen zugunsten ei­nes Kinderspeisefonds verkauft wurden. Auch Helli Born beteiligte sich an dem Verkauf in den Straßen.

Sie stand am Nachmittag am Eingang eines der großen Hotels im Zentrum der Stadt und bot aus einem Körbchen die kleinen Blumen an. Plötzlich sah sie, wie ein Mann, der schon an ihr vorbeigegangen war, sich rasch um­drehte und zurückkam, in die Tasche griff und eine Banknote herauszog.

Zunächst erschrak sie vor der Plötzlichkeit des Vorgangs, nicht weniger aber auch vor der Höhe des Geldscheines, der ihr hingehalten wurde.

Es war ein Hundertmarkschein.

Im Gewoge der Menschen schaute sie sich kaum jeden Geber an. Doch dieser Geldschein bewog sie, die Augen zu erheben. Sie sah einen gutgekleideten dreißigjährigen Men­schen von blondem Typ, hart und schlank gewachsen und mit einem langdh, fettlosen und herben Gesicht, ynd dann beobachtete Helli, wie sich die Züge dieses ausgelaugten Gesichts mit einemmal spannten. Ein Zucken ging durch die Augen, die freudlos unfreund­lich und gequält dreinschauten. Dann ver­zerrte sich das Gesicht, und unvermittelt riß der Mann die Hand zurück, die den Schein hatte geben wollen.

Ueberhastig drehte er sich um und lief da­von, als wollte er fliehen. Er sprang in einen Omnibus hinein, der am nahen Halteplatz überfüllt gerade anfuhr.

Und nun erst, da er zwischen den Menschen verschwunden war, die sich im Omnibus drängten, ward es Helli Born bewußt, daß es

der Mann gewesen war, der sie gestern aus dem Gefängnis heraus angrufen hatte.

Einer Regung folgend, die ihr Inneres bis ins tiefste verwirrte, entfernte sich Helli gleich von der Stelle, an der sie sich bisher aufge­halten hatte.

Sie blieb erst stehen, als eine Litfaßsäule zwischen ihr und dem Ort lag, wo sich die Begebenheit vollzogen hatte. Sie schaute auf die bunten Plakate der Säule, abwesend und aufgescheucht.

Ihr war, als ob aus der Tiefe der Straße heraus die Augen des Mannes durch die Säule hindurch sie anschauten. Aus dem Ausdruck dieser gepeinigten und unliebenswürdigen Augen sprach die Not eines Herzens.

Ein kleiner Schmerz blieb in Hellis Gemüt und verharrte um so hartnäckiger, als sie an der Begebenheit und ihren Zusammen­hängen keinen Sinn erkennen konnte.

Was hatte der Mann gewollt? Weshalb war er geflohen, als erschrecke er vor ihr?

War er vor ihr geflohen? Wäre es möglich gewesen, daß er sie erkannt hätte?... Wes­halb vor mir fliehen? fragte sie sich. Vor mir, die gestern sein Vertrauen hatte und es nicht betrog? War dieser Mann nicht etwa doch ein Uebeltäter? Hatte sie sich für einen Verbre­cher eingesetzt, der gestern noch, von der Um­welt abgeriegelt, im Gefängnis gesessen, viel­leicht mit ihrer Hilfe daraus befreit worden und nun von neuem auf die Mitmenschen los­gelassen war?...

Nun, mein liebes Fräulein, verkaufen Sie mir einige Ihrer Blumen? hörte Helli plötz­lich eine Stimme, die fremdländisch klang. Sie empfand einen raschen leisen Unwillen. Denn die fremde Stimme mischte sich unbe­fugt in die Vorgänge ein, die ihre Vorstel­lungswelt in so schmerzender Spannung hiel­ten.

Ais sie aufblickte, sah sie eine junge, außer­gewöhnlich wirkende Frau vor sich stehen, die groß, von einer biegsamen Schlankheit

war. Unter einem blauen Hütchen sah eine Haarsträhne hervor, so gelb wie Dotterblumen. Irgendwo, wenn auch vielleicht nur auf einem Bild, mußte sie, Helli, dieses Gesicht schon einmal gesehen haben.

Helli hielt eilfertig ihren Korb hin.

Eine Margerite oder ein Veilchen, gnädige Frau? fragte sie lächelnd.

Ich möchte Ihnen für Ihre Kinderspeisung dieses Geld geben Was für Blumen geben Sie mir dafür?

Oh, gnädige Frau, lachte Helli,den gan­zen Korb. Denn die Dame hielt einen Hun­dertmarkschein hin.

In dem nächsten Augenblick aber überlief sie ein Schreck.

Was geschah heute?

Der Mann hatte auch einen Hundertmark­schein geben wollen.

Das Mädchen glaubte, daß auch die Dame das Geld zurückziehen und fliehen würde.

Aber der Hundertmarkschein wurde ihr ge­reicht. Helli fühlte das Papier ihre Finger berühren. Es war diesmal wahr. Sie hatte das Geld in ihrer Hand.

Diese Tatsadie führte sie zur vollen Wirk­lichkeit zurück. In der Freude über die große Spende wurde sie glücklich und liebenswürdig, und sie sagte der Dame, diese Summe reiche ja aus, ein paar Kinder wochenlang zu bekö­stigen, und sie schulde es der Behörde, der Leiterin des Unternehmens, nach dem Namen der Dame zu fragen, damit man ihr noch be­sonders danken könnte.

Meinen Namen? sagte die schöne blonde Frau. Sie schaute an Helli vorbei in die Höhe und wies mit einer Bewegung des Kopfes über sie hinweg auf die Plakatsäule:Da! lächelte Si6

Als Helli Born sich umdrehte und an der Litfaßsäule aufschaute, las sie:

DIE LARA TANZTI

Es war dasselbe Plakat, das sie neulich mit der Freundin gesehen hatte. (Forts, folgt)