S. Jahrgang
MONTAG, 31. AUGUST 195«
Nummer 129
„Oberammergau“ in Oklahoma
Ein amerikanischer Knabe weiht sein Leben den Passionsspielen in seiner Heimat
Die nachstehende Schilderung des Lebenswerkes von Mark Wallock ist ein Beispiel dafür, wie die ergreifenden Eindrücke der Aufführungen in Oberammergau am Fuße des Kofel auch in fernen und fremden Kulturkreisen Wurzeln zu schlagen und das Leben einer ganzen Landschaft zu befruchten vermögen.
Als der Reverend Mark Wallock im Jahre 1924 in der Stadt Lawton in Oklahoma sein geistliches Amt übernahm, schauten ihn die Einwohner verwundert an. Was wollte dieser blasse und gebrechliche Pfarrer hier in dem rauhen Prärie- und Bergland? Wie konnte er kranke Siedler an den Berghängen besuchen oder gar die Comanchen-Indianer in den unwegsamen Hochtälern der Ozark Mountains? Auch Mark Wallock selbst blickte prüfend an den steilen Hängen empor. Würde er die Aufgabe schaffen, die er sich vorgenommen hatte? Er wußte, was Bergsteigen bedeutet, hatte er doch während seiner Knabenjahre mit seinen Eltern lange Zeit in München und Garmisch gelebt, damals, als er sich noch gesund fühlte. Denn jetzt war Mark Wallock schwer herz-
beiden Verbrecher“, sagte er. „Nein“, entschied Wallock, „Du sollst ein Jünger werden!“ Und dieser Mann blieb ein Jünger auch im Alltagsleben.
Das Jahr der großen Prüfungen
Die Bedeutung der Spiele wuchs von Jahr zu Jahr. Zehntausende von Menschen fanden sich ein, um das Spiel von der Passion Christi zu sehen. Doch dann kam das Jahr 1931. Am späten Abend des Ostersamstags brach ein Sturm los, dem Regen und dichter Schneefall folgten, und zehntausend Menschen erlebten fernab von Häusern und Straßen eine furchtbare Schnee- und Sturmnacht. Als am Morgen die Sonne durchbrach, konnten die Spiele nicht stattflnden, denn das Unwetter hatte Aufbauten und Kostüme zerstört, aber die Versammelten knieten in Gebet und Gesang rings um das Kreuz und feierten im Gottesdienst die Auferstehung.
Jene Naturkatastrophe war der Auftakt für
die ernste Krise, die für die Passionsspiele von Lawton heraufbrach, denn in diesem Jahr der schweren wirtschaftlichen Depression gingen Spenden nur kärglich ein. Es sah aus, als könnten die Spiele nicht mehr fortgeführt werden. Doch der Ruf des „Oberammergau von Oklahoma“ war schon über das ganze Land gedrungen. Auch der Kongreß in Washington beschäftigte sich mit dem Werk Wallocks, und schließlich griff die Bundesregierung der Vereinigten Staaten helfend ein. Durch einen Zuschuß von 110 000 Dollar sicherte sie den Fortbestand der Passionsspiele. Es war dies das erste und bisher einzige Mal, daß die amerikanische Regierung Mittel für eine religiöse Veranstaltung zur Verfügung stellte. So konnten die Spiele in den Wichita-Bergen von neuem erstehen. Ihr Ruf und ihre Bedeutung wuchsen. Nicht weniger als 3000 Bürger aus Lawton spielten jetzt mit. Und als am Weihnachtstag 1948 der schwach Körper Mark Wallocks den schweren Anstrengungen erlag, da war es dem Mann, der als Knabe im bayerischen Oberammergau die Anregung für seine Lebensaufgabe erhalten hatte, noch vergönnt gewesen, 300 000 Besucher bei den Oklahoma-Passionsspielen dieses Jahres zu sehen. H. A.
Zehnjähriger wird zum Mörder
Die Sensation der Pariser obersten Zweihundert
krank.
Wenn die Aerzte recht behalten hätten, läge er sogar schon seit Jahren in der kühlen Erde. Ein Jahr nur hatten sie seinerzeit dem jungen Mann gegeben. Er hatte daraufhin beschlossen, Geistlicher zu werden und dieser Aufgabe seine ganze Kraft zu widmen, ohne Rücksicht auf Krankheit und drohenden Tod.
Es gab viel zu helfen und viel zu tun für einen Geistlichen in Lawton. Es war die Zeit der Prohibition, und das Laster blühte sogar in kleinen und abgelegenen Gemeinden. Dem Laster aber folgt die Not. Vor allem kümmerte sich der junge Pastor um die Indianer in den Bergen und weilte oft tagelang in den Reservaten. Wenn er auf diesen Amtsgängen über die einsamen Bergpfade schritt, grübelte er viel darüber nach, wie er die Herzen seiner Gemeinde öffnen, wie er ihnen von seiner eigenen starken Gläubigkeit geben könne.
Wallock erinnert sich an Oberammergau
Eines Morgens blieb er sinnend am Rande eines weiten Talkessels stehen. Im Hintergrund erhoben sich bewaldete Höhen und ein schroffer Bergklotz. Das war doch — ja, das war ein ähnliches Bild, wie er es damals als Knabe gesehen hatte, als er mit seinen Eltern in Oberammergau weilte. Und plötzlich wurde ihm das Passionsspielerlebnis, das ihn in seiner Kindheit so tief erschüttert hatte, wieder gegenwärtig. Vor seinen Augen belebte sich der Talkessel. Auf einem Hügel erstanden die drei Kreuze. Hierher, beschloß er in diesem Augenblick, wollte er seine Gemeinde führen. hier wollte er seinen Mitmenschen zeigen, wie Christus sein Leben für sie gab.
Die Vorbereitungen dauerten zwei Jahre. Die Leute begriffen zunächst nicht, was er wollte. Sie hielten es für töricht, in die unwegsamen Berge zu steigen, um dort „Theater“ zu spielen. Als er endlich fünf Mitwirkende gewonnen hatte, die abwechselnd die Schriftworte sprachen, da waren kaum zweihundert Zuschauer mit hinaufgekommen.
Bereits wenige Jahr später beherrschten die Passionsspiele das Leben der kleinen Oklahoma-Stadt. Mark Wallock fand immer mehr Mitwirkende. Die Wohlhabenden der Stadt spendeten reichlich. Etwa 1000 von den 1200 Einwohnern taten sich zu einer Gemeinschaft zusammen, die alle Ausgaben für Kostüme und Ausstattungen übernahm. Vor allem aber: die Spiele brachten eine innere Wandlung der Menschen. Die Trinker schämten sich ihres Lasters, die Spieler hatten keinen Platz mehr in dieser Landschaft, und unter der Jugend mehrten sich die Zeichen einer tiefen und reinen Religiosität. Eines Tages kam sogar der notorische „Tunichtgut“ des Ortes zu Reverend Wallock und bat. bei den Spielen mit- wirken zu dürfen. „Wenigstens als einer der
Cy. PARIS. Ein paar Zeichen an versteckter Stelle einer Zeitungsspalte waren alles, was die Pariser Oeffentlichkeit von einem Drama in der höchsten Gesellschaft der Seine-Metropole erfuhr. Die unvermeidliche Gerichtsverhandlung war dank einer diskreten Vorbereitung durch die Behörden nahezu unbemerkt über die Bühne gegangen. Um so mehr spricht man davon in den Salons des Fauborg St. Germain und in den mondänen Zirkeln der Hauptstadt von diesem Schauerstück und seinem Helden, einem zehnjährigen Jungen, der zum Mörder wurde.
Erster Akt: Monsieur und Madame de
X. — mehr als veränderte Anfangsbuchstaben werden nicht bekannt — sind im Begriff, sich zu einer Abendeinladung zu Madame de
Y. zu begeben, einer guten Freundin, die überdies mit einer hervorragenden Persönlichkeit nahe verwandt ist. Erst jetzt wird ihnen bewußt, daß sie ihre Hausangestellten bis Mitternacht beurlaubt hatten, und daß sie ihren Jungen, den zehnjährigen Jean, allein zu Hause lassen müssen. Die Mutter redet dem Kind zu, beruhigt es mit dem Hinweis, daß Köchin und Zofe bald, nach Schluß der Kinovorstellung, zurückkommen werden, und stellt zum Ueberfluß den Telephonapparat neben das Bett, mit der Nummer der Gastgeber daneben, die nicht mehr als fünf Autominuten weit wohnen. Gegen 8 Uhr verlassen sie die Wohnung.
Zweiter Akt: Gesellschaft im HauseY. Etwa zwanzig Gäste sind anwesend. Adel, einflußreiche Politiker, Generäle. Madame de X. glänzt im Schmuck ihrer Brillanten. Monsieur unterhält sich mit einem Botschafter. Das Diner ist beendet, die Bridgetische werden aufgestellt. In diesem Augenblick tritt der Kammerdiener ein und meldet der Frau des Hauses, daß Madame de X, am Telefon verlangt werde. „Das kann nur Jean sein“, sagte diese erschrocken, „nur er weiß, daß wir hier sind. Kommen Sie bitte mit, ich bin etwas beunruhigt.“
Die beiden Frauen stürzen zum Telephon. „Du schläfst also doch nicht, Jean, was gibt es denn?“ — „Nein. Mama“, antwortet eine Kinderstimme am andern Ende der Leitung, „bitte, komme sofort heim, es liegt ein toter Mann in der Wohnung.“ — „Bist du von Sinnen, Junge. Du hast Alpdrücken.“ — „Nein, Mama, es ist so, wie ich dir sage, bitte, komme schnell nach Hause.“ Frau de X. aufs höchste beunruhigt, informiert kurz, ihre Freundin: „Wir müssen sofort nach Hause, das Kind kann mit seiner Angst nicht allein bleiben.“
Dritter Akt: Das Ehepaar betritt die Wohnung, der kleine Jean kommt den Eltern entgegen: „Im Arbeitszimmer, Vater!“ Alle Zimmer sind hell erleuchtet. Monsieur de X. stößt die Tür seines Zimmers auf und bleibt wie angewurzelt stehen: neben dem — noch intakten — Kassenschrank liegt ein Mann, einen Schweißbrenner neben sich. Vor dem Gesicht trägt er eine schwarze Maske. Jean erzählt: Die Klingel an der Wohnungstür habe ihn aufgeweckt. Im Glauben, es sei die Köchin, die ihren Schlüssel vergessen habe, sei er aufgestanden, um die Tür zu öffnen. Da habe ein Mann mit einem Revolver vor ihm gestanden und ihm auf den ersten Schrei den Mund zugehalten. Dann habe er die Tür hinter sich zugemacht und sei durch die Zimmer gegangen, bis zum Arbeitskabinett. Dort habe er versucht, mit einer Eisenstange den Kassenschrank aufzubrechen, als dieses nicht gelang, mit einer Lampe, die eine große Flamme ausgestrahlt habe. Ganz in seine Arbeit vertieft, habe der Einbrecher nicht auf seinen Revolver geachtet, den er auf den Tisch gelegt hatte. Da der Brenner ein lautes Geräusch verursacht habe, sei es dem Unbekannten nicht aufgefallen, wie er, Jean, sich langsam dem Tisch näherte und den Revolver an sich nahm.“ Dann habe ich auf ihn gezielt und abgedrückt.“
Vierter Akt: Monsieur de X., im Widerstreit der Empfindungen, die dieser Bericht in ihm auslöst, beugt sich zu dem Unbekannten. Als er dem Toten die Maske vom Gesicht nimmt, stößt Madame einen Schrei des Entsetzens aus.
Fünfter Akt: In diesem Augenblick klingelt das Telephon auf dem Schreibtisch. „Was ist mit Jean?“, meldet sich Madame de Y„ hat er schwer geträumt?“ „Nein“, antwortet Madame de X. mit erloschener Stimme“, es gab wirklich einen Toten, einen maskierten Einbrecher, den Jean erschossen hat, als er den Kassenschrank aufzubrechen versuchte.“ — „Das muß ich den Gästen erzählen“, begeistert sich Madame de Y„ „Jean ist ja ein kleiner Held.“ — „Ja, aber der Unglückliche. den er getötet hat!“ — „Bah, meine Liebe, um einen Gangster ist es nicht schade.“ — „Ach liebste Freundin, Sie ahnen es ja nicht: der Tote ist Ihr Sohn!“
Es war in der Tat der neunzehnjährige de Y„ der auf die Abwesenheit der Freunde seiner Mutter rechnete, um einen Raubzug auszuführen und sich Geld für seine Vergnügungen zu beschaffen.
Magen und Liebe
Erinnerungen des „Fürsten der Gastronomen*
Cy. PARIS, im August 1950. Wieder ein Memoirenwerk, ja — aber keines von denen, die in den Bibliotheken verstauben oder in den Schaufenstern vergeblich die Käufer zu locken versuchen. Erinnerungen eines Lebens, das gelebt wurde, um das Dasein zu erhöhen und zum Fest zu machen. Gewürzt mit 3000 Kochrezepten, gesammelt bei den besten Wirten Frankreichs. Sein Verfasser: Curnonsky, der vor einem Menschenalter von 4000 Köchen zum „Fürsten der Gastronomen“ erkoren wurde und seitdem diesen Ehrentitel unbestritten führt. Amerika hat, vergebens, versucht, dieses Aß der Küchenkunst für sich zu gewinnen. Curnonsky ist nun bald achtzig, von seinen 138 Kilogramm' der Glanzzeit hat er nur noch 84 behalten, und sein Arzt hat ihm eine Diät verordnet, die, im Licht einer solchen Vergangenheit besehen, grausam genannt werden muß. Der alte Mann schickt sich darein und flüchtet in das Paradies der Erinnerungen, aus dem wir bekanntlich nie vertrieben werden können.
Maurice Edmond S a i 11 a n d, wie Curnonsky eigentlich heißt, ist durch Vererbung, solide Ausbildung und einen Schuß Glück zum Weltruhm aufgestiegen. Geboren in Anjou, mitten im Weinland an den Ufern der Loire, wo Frankreich am französischsten ist, die sprichwörtliche „doulce France“, wuchs er auf, zwischen seinen Großeltern und der Köchin Marie, die 47 Jahre im Hause gedient hatte und ihre letzte Ruhe rechtens im Familiengrab fand. Großvater Sailland war ein notorischer Feinschmecker. Wenn er erfuhr, daß es irgendwo in Frankreich etwas Gutes zu essen gab, ließ er anspannen und blieb lange Tage aus, bis er der Sache auf den Grund gegangen war. Weil er für eine gute Mahlzeit 4 bis 5 Francs auszugeben bereit war, galt er allgemein als verrückt, ebenso wie Großmutter Sailland, die sich aufs Latein verstand und mittwochs und samstags eine Badewanne und 12 Eimer heißen Wassers ins Haus gebracht bekam.
In einem solchen Hause mußte der junge Maurice werden, was ihn berühmt gemacht hat. Er hatte das Glück eines guten Einfalls: Gastronomie und Fremdenverkehr zusammenzubringen. Curnonsky hat in Jahrzehnten eifrigster Suche in den entlegensten Winkeln des Landes die Meisterköchinnen entdeckt, die wie die Veilchen im Verborgenen blühten. Sterne im Bädeker künden heute ihren Ruhm.
Vor mehr als 150 Jahren behauptete Talley- rand, seit der Revolution sei es mit der Schönheit des Lebens vorbei. Aber die Raffinessen der Feinschmeckerei haben alle Wandlungen der Zeit überdauert. Solange es Männer gibt wie „Pere Chambre“, Präsident der Lyoner Anwaltskammer, der bei seinen Herrenessen Bedacht darauf nimmt, seinen Gästen nur den linken Schenkel der Schnepfe zu servieren, weil der rechte infolge der Gewohnheit des Vogels, auf dem rechten Bein zu stehen, etwas hart zu sein pflegt, braucht man nicht zu befürchten, die Gourmets im Nachbarlande könnten aussterben. Und wer in die tiefsten Geheimnise dieser menschenfreundlichen Kunst eindringen will, kann sich von Curnonsky belehren lassen, daß man Hasenbraten nur mit Buchenholz, Schinken im Brotteig mit Eiche, alle Arten von Grilladen ausschließlich mit dem Holz der Rebe tafelfertig machen kann.
Curnonsky ist nicht nur ein großer Küchenmeister, sondern auch ein weiser Mann. Deshalb hat er sein Buch „La table et l’amour“ genannt. Für ihn haben Liebe und Kochkunst Rezepte, die sich gleichen. „Die Einfachheit“, lehrt Curnonsky, „ist das Zeichen der Vollkommenheit in der Liebe wie in allen Künsten, wenn sie auch die Wissenschaft nicht ausschließt.“ Und beim König David anfangend, der die schöne Abisag mit Zimt für sich gewann, führt uns der lächelnde Philosoph der Küche die ganze Weltgeschichte vor, die ein einzige Lehre dafür ist, daß die Liebe ein gutes Stück ihres Schicksalsweges durch den Magen geht...
Lenau in Schwaben
Zum 100. Todestag von Nikolaus Lenau am 22. August 1950
Von Gutzkow ist Nikolaus Lenau einmal ein „naturalisierter Schwabe“ genannt worden. Das ist zwar übertrieben, aiber es hat tatsächlich nicht viel gefehlt, so wäre er ganz bei uns eingewurzelt! Ueberaus zahlreich sind die persönlichen Beziehungen des Dichters zum Schwaben- iand gewesen. Sie begannen sozusagen schon in frühester Kindheit, denn, so unwahrscheinlich es klingt bei einem im tiefsten Ungarn Geborenen und Auf gewachsenen: als seine Mutter, nach ihres Gatten frühen Tod, in Budapest wohnte, da beschäftigte sie als Kinderfrau eine ältliche Person, die Walburga — und das war eine Schwäbin! So kam also der künftige Dichter, wie es in einer älteren Biographie heißt, „schon von klein auf in gar anheimelnde Verbindung zum schwäbischen Volksstamm“! Als dann der 16jäh- rige Gymnasist zu den Großeltern nach Stok- kerau bei Wien kam, wurde er in der Stadt in Pension zu einem alten Hauptmann Volz getan — und unsereinem sagt ja schon der Name, daß es sich wieder um einen Schwaben handelte! Das sind natürlich zunächst Zufälligkeiten, aber sie mochten den jungen Dichter doch innerlich auf das schwäbische „Klima“ vorbereitet haben, als er sich im Jahre 1831 — ein nach mehrmaligem Wechsel des Studiums etwas verbummelter Kandidat der Medizin — entschloß, nach Württemberg zu reisen. Der Hauptgrund war: er wollte versuchen, seine inzwischen angesammelten Gedichte in Stuttgart (auch damals schon Hochburg des Buchgewerbes) zu verlegen, d. h. in einer der Metternichschen Zensur etwas entrückten Gegend. Nun: sein Plan gelang über Erwarten gut. Am 19. August 1831 betrat er das Arbeitszimmer von Gustav Schwab, dem literarischen Redakteur des einflußreichen „Morgenblatts für die gebildeten Stände“, dem er kurz zuvor einige Proben seiner lyrischen Muse eingesandt hatte. Schon damals scheinen Schriftleiter sehr beschäftigte Herren gewesen zu sein — Schwab hatte die Carmina des Unbekannten noch gar nicht gelesen! Er holte es jetzt schnell nach, und dann (mit den Worten einer zeitgenössischen Quelle) „verbreitete sich dem Leser jener Glanz über
das Papier, der... aus dem Anlächeln der Muse quillt“! Schwab, bei dem sich zufällig auch der junge schwäbische Dichter Paul Pfizer befand, nahm nun den Ankömmling sehr herzlich auf — und mit diesem Tage begann die „schwäbische Epoche“ in Lenaus Leben, die für seine äußere und innere Existenz dann so bedeutungsvoll werden sollte. Schwab druckte nicht nur seine Gedichte und stellte ihn damit dem literarischen Deutschland" vor, sondern vermittelte ihm auch die csehr lohnende Bekanntschaft mit’dem großen Verleger Cotta und führte ihn in die Stuttgarter Gesellschaft ein. Sehr rasch fühlte sich Lenau in ihr zu Hause, zumal im Kreis der schwäbischen Dichter: bei Uhland in Tübingen, bei Justinus Kerner in Weinsberg, bei Karl Mayer in Waiblingen und beim Grafen Alexander von Württemberg in Eßlingen und auf seinem Schlößchen Serach. Ueberall (höchstens bei Uhland mit einiger Reserve) wurde der schöne ungarische Edelmann mit den feurigen Augen und den weltmännischen Manieren mit offenen Armen aufgenommen. Man kann es sich vorstellen, daß er in der etwas spießbürgerlichen Atmosphäre der einheimischen Poeten fast wie ein Exote wirken mußte! Und wie paßten ja auch seine Verse in eine Zeit, da das ganze literarische Europa von der Kunst Lord Byrons fasziniert war: Lenaus Weltschmerz (nicht immer ohne Koketterie getragen), sein Hang zum Düsteren, Unheimlichen, Dämonischen in Natur und Menschenherz — wie hätte „so etwas“ z. B. nicht den Weinsberger Magier Kerner begeistern sollen?! Obschon dieser nicht blind war gegen die Schwächen des jungen Freundes („es ist völlige Wahrheit, daß in Niembsch“ — Lenaus voller Name war ja: Edler Niembsch von Streh- lenau — „ein Dämon ist, der ihn furchtbar plagt...; solange dieser Dämon nicht aus ihm getrieben ist, ist er furchtbar unglücklich und macht auch andere düster"). Eng war besonders das Verhältnis zu Karl Mayer („einer aber fiel mir zu mit beinah leidenschaftlicher Anhänglichkeit“), und auch zu Graf Alexander (und seiner reizenden Schwester!) knüpften sich herzliche Bande.
Neben wohlmeinenden Freunden fand der Dichter im Schwabenland auch mütterliche Freundinnen fürs Leben. Neben Emma Niendorf ist vor allem die Hofrätin Emilie R e i n b e c k ,
Tochter des Geheimrats Hartmann zu nennen, in deren gastfreiem Hause in der Stuttgarter Friedrichstraße er sozusagen zur Familie gehörte und seine regelmäßige Absteige hatte. Der sich über ein Jahrzehnt hdnziehende Briefwechsel zwischen dieser warmherzigen Frau und Lenau ist fesselnd und aufschlußreich.
Schon der erste Stuttgarter Aufenthalt gewann jedoch für den Dichter seine besondere Bedeutung durch die Begegnung mit Schwabs Nichte, Lotte G m e 1 i n , Tochter eines verstorbenen Oberjustizrates. Ihre beseelte An-mut entflammte rasch sein Herz und „man“ rechnete schon allenthalben mit Verlobung und Heirat. Aber Lenau hätte eben nicht der „wilde Niembsch“ sein müssen, der unstete „Zigeuner“, wenn er es verstanden hätte, das bürgerliche Glück an sich zu fesseln. „Ich habe nicht den Mut, diese himmlische Rose an mein nächtliches Herz zu heften“ — mit solchen Worten einer vielleicht etwas selbstgefälligen Pathetik weicht er aus. Wir verdanken freilich dieser Liebe mit die schönsten Gaben seiner Muse, darunter die berühmten „Schilflieder“ (daher auch die Bezeichnung des Mädchens als „Schilflotte“, unter der sie in die Literaturgeschichte eingegangen ist). Wenn hier eine kleine persönliche Erinnerung gestattet ist: mit „Schilflottes“ Enkel (sie heiratete dann 1840 einen Hartmann) bin ich vor 40 Jahren in die Schule gegangen, und ich entsinne mich noch wohl des ehrfürchtigen Schauders, der mich überlief, als ich zum erstenmal von meinem Kameraden hörte, mit wem ich es zu tun hatte!
Lenau hat bald darauf — es war wohl, neben anderen Gründen, die in seiner phantastischen Natur lagen, eine Flucht vor Lotte — einen abenteuerlichen Plan verwirklicht: er wanderte nach 'Amerika aus. Freilich kam die Ernüchterung über Land und Leute „drüben“ sehr schnell, bereits nach einem Jahr stand er wieder vor den Stuttgarter Freunden! Und die nächsten 13 Jahre, die ihm noch bei gesunden Sinnen zu leben vergönnt waren, sind eigentlich ein beständiges „Pendeln“ zwischen Wien und Stuttgart.
Es leuchtet ein, daß Lenau aus einer Landschaft, die ihm durch oftmaligen Aufenthalt so ans Herz gewachsen war, auch dichterische Impulse empfing. Sein neben den „Drei Zigeunern“ vielleicht populärstes Gedicht „Der Postillon“
(„Lieblich war die Maiennacht“) verdankt seine Entstehung einer nächtlichen Fahrt in der Ba- linger Gegend. Die Wurmlinger Kapelle bei Tübingen hat er gleich Uhland mit unsterblichen Versen umkränzt („Luftig wie ein leichter Kahn / Auf des Hügels grüner Welle, / Schwebt sie lächelnd himmelan, / Dort die friedliche Kapelle“). „Auf ein Faß in Oehringen“ ist der Titel eines beschwingten Hymnus auf den Wein, der auch das nahe „Hesperien Friedrichsruh“ beschwört. „Wie geht es meinen Wäldern / Am frischen Neckarfluß?“, singt er auf See während der Ueberfahrt von Amsterdam nach Baltimore. Auch in die vielen Gedichte an Lotte geistert immer wieder Sueviens Landschaft hinein.
Man weiß durch Lenau selbst, daß er sicher vollends auf schwäbischem Boden seßhaft geworden wäre, hätte ihn nicht in Wien ein Magnet festgehalten: die Frau, die ihm zum Schicksal wurde, mit der ihn eine selig-unselige Leidenschaft verband: Sofie Löwenthal. Ihr, der Geliebten, hat er es einmal klipp und klar geschrieben: „Wenn du nicht wärest, ich bliebe ganz in Württemberg. Das Element ausgezeichneter allgemeiner Achtung, in dem ich hier lebe, hat etwas sehr Erheiterndes und Förderndes“ — aber er fährt dann fort: „Doch die Trennung von dir macht mich zu einem traurigen Stückwerk.“ Im übrigen ist es fast belustigend zu sehen, wie selbst in diese tragische Liebe noch das schwäbisch-alemannische Element hineinspielt, hineinspukt: denn Sofies Vater, Franz Joachim Kleyle, nachmals hoher Hofbeamter in Wien, stammte aus Hausach im Schwarzwald!
Erwähnen wir schließlich noch, daß Lenau, dessen beste Verse Musik im Wort sind und der selber meisterlich Geige und Gitarre spielte, zwei Ideale auf diesem Feld hatte: Beethoven und Johann Rudolf Zumsteeg, den bedeutenden schwäbischen Komponisten, den er den Goethe der Musik hieß. Mit dessen berühmter Tochter, Emilie Zumsteeg, die heute noch im Schwabenland als Komponistin bekannt ist, verkehre er freundschaftlich in seiner „schwäbischen Epoche“. Bleibt als düsterer Abschluß unseres Themas noch die Tatsache, daß Lenau, nachdem er 1844 bei den Stuttgarter Freunden in geistige Umnachtung gefallen war, noch ein Jahr lang in der schwäbischen Anstalt Winnenthal dahindämmerte, bis ihn seine Verwandten in das Irrenhaus Döbling bei Wien holten. Dr. Karl Fuß