«.Jahrgang
Montag, 10. Juli 1950
Nummer 105
Ein Dorf sieht Gespenster
Moloch „Gerächt“ / Schweineschmalzkübei, Zucker und Konserven sehr gefragt
Das Dorf liegt im Süden Deutschlands. Es ist ein entlegener Bergwinkel. Nur eine mit Schotter beworfene Fahrstraße quält sich den steilen Berg zu ihm herauf. Eine kleine Kirche, ein weiß getünchtes Schulhaus, eine Molkerei und zwei Ladengeschäfte reihen sich mit ein paar geschindelten Bauernhäusern zusammen entlang der einzigen „Hauptstraße“, auf der öfters Kühe als Menschen, geschweige denn Fremde aus der Stadt anzutreffen sind. Die übrigen stattlichen Höfe liegen weit über den Bergwiesen verstreut. Ein idyllischer Ort also, so recht abseits der „großen Welt“. Und doch täuscht dieser Eindruck. Auch das kleine abseitige Dorf kann sich dem fiebrigen Herzschlag unserer Zeit nicht entziehen. Tag und Nacht dröhnt der Radio in den getäfelten Stuben. Jeden Morgen bringt der Postbote die Zeitung. Traktoren knattern auf den Wiesen. Und Gerüchte gehen von Mund zu Mund. Manchmal sind die Milch- und Butterpreise die Ursache, ein anderes Mal Muttergottes-Erschei- nungen, ein Hellseher, oder auch ein Zeitungsbericht ...
Ein Phantom wird erzeugt
Ja, da stand es also in der Zeitung schwarz auf weiß, daß Westdeutschland eben doch vielleicht wieder Kriegsschauplatz werden könnte. Was tun. wenn wirklich die Russen kommen? In jedem Hof ist mindestens ein Flüchtling aus dem Osten untergekrochen. Die Bauern wissen Bescheid. Dazu waren sie zum größten Teil selber Soldaten. Ja, was tun, wenn wirklich ...
An solchen Tagen füllen sich die Kirchen wieder. Und die Sektenprediger im nahen Städtchen müssen ihre donnernden Worte zwei- und oft dreimal hintereinander vor dem bis zum Bersten gefüllten Saale halten, um auch wirklich die Schlangen der Anstehenden alle bändigen zu können. Ihre Drohungen fallen auf fruchtbaren Boden. Zutiefst erschrocken lauschen die Versammelten. „Eine Atombombe genügt!“ ruft der Prediger, „und wir sind alle nicht mehr. Schon morgen kann ein Uder von uns vor einem höheren Richter zur Verantwortung gezogen werden. Schon morgen . . .“ Bangen Herzens laufen die Verstörten in der Nacht den weiten Weg wieder heim. Und verkündet am nächsten Tag der Radio nicht dasselbe? Sah Irlmaier nicht die leibhaftige Apokalypse? Steht nicht mit Schlagzeilen in den Zeitschriften „Hitler kommt wieder!“ — „Fliegende Teller aus einer anderen Welt!“ — „Die Erde kentert!“ Ja, und wenn das wirklich . . .
So wird das Phantom erzeugt. Ein Phantom, das wie ein Alpdruck in allen Höfen hockt. Das wie der Leibhaftige nachts in der Tenne rumort und am Wetzstein seine Krallen schleift. Und mit ihm wächst, als kaltes Schaudern, die Furcht, der Haß, der Neid. Die Gier nach Leben bei den einen, Resignation und Verzweiflung bei den anderen. Unausdenkbar, wenn die Arbeit nicht wäre. Aber auch die Arbeit hilft darüber nicht mehr hinweg. Denn wer wird die Früchte ernten?
Der Moloch wächst
Die Anfälligkeit gegenüber „Wundern“ ist auf dem Dorf noch größer als in der Stadt. Gegenüber Wundern himmlischer und teuflischer Art. Oft weiß selbst der Pfarrer nicht mehr, wie er diese Mirakel vor seiner Gemeinde auseinanderhalten soll. Wie es im Falle eines Wunderheilers sich zutrug, der in der Nähe vorübergehend seine Zelte aufgeschlagen hatte. Alle Kranken und Gebrechlichen des Dorfes machten sich auf den Weg. Zu Fuß und mit Sanitätswagen. Fast alle kehrten geheilt, oder zumindest sich spürbar besser fühlend zurück. Ein älterer Bauer, der von den Aerz- ten bereits aufgegeben war, spazierte am helllichten Tage gesund und munter über die Dorfstraße. Der Pfarrer schwieg, als er ihn besuchte. Die Krankenschwester aber murmelte etwas vom „Teufel“, und „daß die Genesung nicht mit rechten Dingen vor sich gegangen sei. Es wäre Sünde...“ Tags darauf mußte sich der Bauer wieder ins Bett legen. Die
Schmerzen kamen wieder. Das Wunder war verraucht.
Unter solchen Begleiterscheinungen wächst der Moloch. Eine Frau aus dem nahen Städtchen kommt aufgeregt in den Laden des Dorfes — 10 Pfund Zucker will sie haben, Schmalz und Konserven noch dazu. In der Stadt würde man schon nichts mehr bekommen. Selbst die Eier wären rar. Mit Windeseile fliegt diese neue Schauermär durch alle Höfe. Schweine werden geschlachtet. Eier in Kalk gelegt. Die alten Versteckplätze aus der Kriegs- und Hamsterzeit inspiziert. „Noch dieses Jahr kommen die Russen!“ So soll der Gendarm gesagt haben. Und der Gendarm trägt schließlich eine Uniform und war im Krieg. Der weiß Bescheid. „Noch dieses Jahr kommt der Weltuntergang!“ hallt es von den Kanzeln der Sektenprediger. Und die Prediger tragen schließlich einen Talar und sprechen nur, wenn der „Geist“ über sie kommt. Und der Geist ist un-
Es gibt im Rahmen der Gemeindeverwaltung wohl kaum eine Behörde, die es in weiten Kreisen der Bevölkerung an Unbeliebtheit mit dem Wohnungsamt aufnehmen kann. Dies scheint auf den ersten Blick ein vernichtendes Urteil für dieses Amt zu bedeuten, freilich nur auf den ersten Blick; denn bei näherem Zusehen enthüllen sich schon gleich ein paar Gesichtspunkte, die ein vernünftig denkender Mensch nicht übersehen kann und die ihm immerhin etwas zu denken geben müssen. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß auch ein besonnenes Urteil noch Anlaß zur Kritik finden kann. Aber fragen wir zunächst einmal, woher diese Unbeliebtheit des Wohnungsamts kommt? Die Antwort ist sehr einfach: Vom Wohnungsmangel, genauer gesagt, von dem ungeheuren Bedarf an Wohnraum für 12 Millionen Vertriebene im Westen Deutschlands, für die bereits 1.7 Millionen zählenden Abwanderer aus der Ostzone, für das „geschlagene“ Heer der Ausgebombten und endlich für alle jene, die in der Aufeinanderfolge der Generationen nachrücken und ihren Platz beanspruchen, und der Unmöglichkeit, diesen Bedarf im Augenblick zu befriedigen.
Das Wohnungsamt ist aus dieser Notlage heraus geboren und hat die Aufgabe, vorhandenen Wohnraum nach Gesichtspunkten zu verteilen, die sich aus der Wohnungsnot selbst ergeben haben, so etwa die Aufnahme jedes Wohnungssuchenden in die „Liste der Wohnungssuchenden“, die bevorzugte Unterbringung einer Reihe als besonders dringend anerkannter Kategorien von Wohnungssuchenden usw. oder auf der anderen Seite beispielsweise die Erfassung von Wohnraum nach feststehenden Richtlinien und die Belegung des erfaßten Raumes. Schon aus dieser Aufzählung geht hervor, daß das Wohnungsamt zwischen zwei einander völlig entgegenstehende Fragenkomplexe gestellt ist, nämlich, wie Wohnraum zugeteilt und welcher Wohnraum in Anspruch genommen werden soll.
Es leuchtet gerade noch ein, daß hier zwei vollkommen verschiedene Interessen aufeinander treffen. Aber schon weniger gern wird die Tatsache begriffen, daß es ohne das Dazwischentreten einer amtlichen Stelle niemals gelingen würde, diese mit oftmals nicht mehr überbietbarer Schärfe aufeinandersto- ßenden Interessen der Wohnungsuchenden und der Wohnungsbesitzer miteinander zu vereinbaren. Es wäre gut, wenn sich jeder, der sich einmal über ein Wohnungsamt geärgert hat, auch klar machen würde, was für eine Lage ohne Wohnungsamt entstehen könnte- Gerade die sozial schwächeren Kreise des Volkes hätten die soziale Katastrophe am ehesten zu spüren, die sich aus dem unumschränkten Gewährenlassen der viel zu weni-
antastbar. „Der dritte Weltkrieg wird der Untergang der Menschheit sein“, steht in den Zeitungen. „Die Muttergottes in Gerolsheim verkündete den Kindern: Tut Buße!“ Und wer wollte gegen die Mutter Gottes zweifeln?
Das kleine Bergdorf liegt abseits der Welt So hat es wenigstens den Anschein. Aber der Schein trügt. Oft liegen diese stillen Dörfer heute mitten im Zentrum. Von hier aus wird efer Moloch gefüttert und gedeiht so prall und rund wie das Vieh in den Ställen. Verdüstert das Leben. Vergällt den Schlaf. Das ganze Dorf ist von einer zunehmenden Unruhe erfüllt. Der Aufruhr schwelt wie ein unsichtbares Feuer und flammt da und dort, angefacht durch ein neues, noch tolleres Gerücht, schreckhaft auf. So sieht es im Dorf aus. So in der Gemeinde, im Landkreis in Westdeutschland, in Europa, auf der ganzen Welt. Der gute Zuspruch allein hilft nichts mehr. Und Wunder allein, wie an dem Beispiel des rückfälligen Bauern ersichtlich wird, tun es auch nicht.
Nur die eine Frage bleibt. Sie läßt das Phantom inj Ungeheuerliche wachsen. Sie füttert den Moloch bei Tag und Nacht: Was tun, wenn wirklich .. . Michael Brant
gen Hausbesitzer ergäbe. Wohl in mancher Stadt hätten beispielsweise Familien mit kleinen Kindern keine andere Wahl, als im Massenlager zu kampieren, von den neu eintreffenden Flüchtlingen ganz zu schweigen.
Will man sich nun darüber empören, daß es anders nicht geht, als mit Hilfe einer Behörde? Wer diese Frage entscheiden will, mag sich klar darüber sein, daß die Wohnung neben der Nahrung und Kleidung ein menschliches Urbedürfnis ist, und daß es, gleichgültig auf welcher Seite es geschieht, auf der Seite derer, die die Befriedigung dieses Bedürfnisses erst erkämpfen, oder jener, die sie verteidigen wollen, immer mit derselben Leidenschaft proklamiert wird. Wenn wir uns erinnern, in welcher Form sich in den vergangenen Hungerjahren die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses abgespielt hat, darf uns auf dem Gebiet des Wohnungswesens vieles nicht mehr wundernehmen. Es hat deshalb wenig Zweck, nach der Moral zu fragen, die der einzelne bei der Geltendmachung seines Wohnbedürfnisses aufbringt; es ist besser, von den Tatsachen auszugehen und die Notwendigkeit des Wohnungsamts anzuerkennen, wobei das Bestreben, die Moral zu heben, selbstverständlich seine Bedeutung als wertvolle Hilfestellung für das Wohnungsamt nicht verliert.
Hat nun das Wohnungsamt bei seinen Maßnahmen immer recht? Diese’ Frage muß natürlich verneint werden, weil auch einmal ein Wohnungsamt mit Menschen besetzt sein kann, die nicht alle vom Geist der Gerechtigkeit durchdrängt sind oder denen es auch bei bestem Willen passieren kann, daß sie irrtümlich eine Fehlentscheidung treffen. Dies mag bedauerlich sein, muß aber in Rechnung gestellt werden. Das Wohnungsgesetz und die dazu ergangenen Vorschriften über die Wohnraumbewirtschaftung geben deshalb all denen, die sich durch eine Maßnahme des Wohnungsamts zu Unrecht beschwert fühlen, das Recht, sich dagegen mit einem Rechtsmittel zur Wehr zu setzen. Es ist auffallend, wie wenig mancherorts von diesen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht wird, jedenfalls dann, wenn man diese Tatsache in ein Verhältnis zu dem gewaltigen Aufwand von Kritik am Wohnungsamt bringen will. Im alten Rom galt der Spruch: „Jura subveniunt vigilantibus“. Man kann dies auf Deutsch, ein wenig zugespitzt, etwa so ausdrücken, daß, wer sein Recht verschläft, auch kein Recht bekommen kann. Tatsächlich gibt es aber gegen jede Verfügung des Wohnungsamts, von der jemand in seinen eigenen Interessen betroffen wird, eine Be» schwerdemöglichkeit, die schon in der Verfügung selbst angegeben sein muß. So ist in dem Bestreben, die Prinzipien des demokra-
Auf Umwegen schneller
Ein Mitteilungsblatt der Fluglinie Skandi- navia Airline hat kürzlich erzählt, daß es in Skandinavien drei Wochen dauere, bis ein Hemd wieder aus der Wäscherei komme. Worauf sich einige Skandinavier entschlossen haben, ihre Wäsche mit der Skandinavia Airline nach New York zu schicken, wo sie in einem Hotel gewaschen und gebügelt und nach drei Tagen im Flugzeug wieder zurückgebracht würde. — Daraufhin aber hat der „New Yorker“ entgegnet, daß es in Amerika an den meisten Orten mindestens zwei Wochen dauere, bis man ein Hemd gewaschen bekomme, und es daher für die Amerikaner am besten wäre, wenn sie die' schmutzige Wäsche mit der Skandinavia Airline nach Skandinavien schickten, mit der Bitte, sie zu der skandinavischen Wäsche für Amerika dazuzutun. Auf diese Weise bekomme man, nachdem sie zweimal hin und zurück über den Ozean geflogen sei, die Wäsche in fünf Tagen statt in zwei Wochen wieder.
tischen Rechtsstaats immer mehr auch in das Wohnungswesen hineinzutragen, neuerdings auch die Beschwerde gegen die Zuweisung einer bestimmten Person in eine Wohnung in beschränktem Umfang für zulässig erklärt worden, nachdem bisher schon in allen Fällen der Erfassung, d. h. der Inanspruchnahme von Wohnraum, Beschwerde hat eingelegt werden können.
Es gibt natürlich ganz Kluge, die behaupten, das Recht zur Beschwerde habe ja doch keinen Wert, weil man eben auch dann nicht Recht bekomme, wenn man vom Beschwerderecht Gebrauch mache. Dagegen kann nur gesagt werden, daß die Beschwerdeinstanz, nämlich das Landratsamt (mit Ausnahme der Städte Ravensburg, Reutlingen, Schwenningen und Tübingen, deren Beschwerden unmittelbar an das Innenministerium gehen), verpflichtet ist, die für das Wohnungswesen geltenden Vorschriften richtig anzuwenden, und daß seine Entscheidungstätigkeit der Aufsicht des Innenministeriums unterworfen ist. Aeußerstenfalls kann jemand, der sich von einer Entscheidung des Landratsamts zu Unrecht betroffen fühlt, im Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde auch noch die Entscheidung des Innenministeriums anrufen.
Wenn heute von mancher Seite der Ruf nach der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch in Wohnungssachen laut wird, so ist dazu nur zu sagen, daß durch die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs die Wohnungslage selbst leider keine Verbesserung erfährt, was bedeutet, daß auch das, Verwaltungsgericht nur auf Grund der sich aus der Wohnungsnotlage ergebenden allgemeinen Folgerungen entscheiden kann; im übrigen aber kann es die Nachprüfung eines bestimmten Falles keinen anderen Gesichtspunkten unterwerfen, als sie auch für die Aufsichtsentscheidung des Innenministeriums maßgebend sind. Wer deshalb von dieser Seite her eine Verbesserung seiner Wohnverhältnisse erwartet, dürfte von einer Enttäuschung wohl kaum verschont bleiben.
Andererseits soll hier selbstverständlich auch keiner wilden Beschwerdefreudigkeit das Wort geredet werden. Jeder, der eine schriftliche Entscheidung des Wohnungsamts in Händen hält, möge die Gründe, die das Wohnungsamt für seine Maßnahme anführt, reiflich überlegen und sich am besten selbst die Frage stellen, ob er als Wohnungsamtsbeamter nicht auch eine solche Maßnahme angeordnet hätte. Nur wer dann noch glaubt, daß ihm ein Unrecht widerfahren ist, oder daß ihm etwas angesonnen wird, was im Vergleich zu den Wohnungsbeschwernissen seiner Mitbürger nicht mehr erträglich erscheint, der möge von seinem Beschwerderecht offen und ohne Zögern Gebrauch machen.
Wer nun auch weiterhin am Wohnungsamt Kritik üben will, möge es tun. aber er mag sich auch die Frage gefallen lassen, ob er nicht zu denen gehört, die ihr Recht verschlafen haben, von jenen ganz zu schweigen, die im Unrecht sind.
Das Wohnungsamt
Von Reg.-Rat Egon Müller-CaroK in Tübingen
Die Marktfrau
Von Claus Back
Als sie auf dem Wagen des Nachbars angefahren kam, glänzte das Marktpflaster vor Nässe. Sie schleppte Kisten und Körbe und baute alles auf ihrem Stand auf. Als die Sonne höherstieg und der Markt hell wurde, setzte sich die Frau auf einen Schemel und legte die Hände in den Schoß. Plötzlich wurde sie unruhig. Sie hob die Augen zum Kirchturm, es ging auf zehn. Noch zwei Minuten, noch eine... die Frau erhob sich. Jetzt schlug die Uhr. Die Frau fuhr sich mit der Hand über die Wange. „Ach Gott!“ flüsterte sie. Der Markt roch ihr auf einmal nach Aether. Sie schnaubte in ihr Taschentuch. Da war der Geruch fort.
Zehn Minuten nach zehn sah die Frau wieder zur Uhr und dachte: „Jetzt sind sie mitten drin! Sie erblickte einen kleinen Engel auf der Ecke des Kirchendachs. „Siehst du mich, liebe Mutter? Ich bin schon hier oben, es ging sehr schnell!“ Die Frau erschrak und preßte die Hände gegen die Brust.
„Guten Tag. Frau Nehring!“ sagte eine weibliche Stimme. Das Engelskind auf dem Dach wurde wieder zu Stein. Die Frau starrte die Käuferin an. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß die Kundin Weißkohl haben wollte. Drei Pfund nur, einen und einen halben Kopf. Die Marktfrau, der die Hände zitterten. griff zum Messer und schnitt. Ganz innen saß das Herz. Die Klinge drang tiefer, berührte es ...
Die Gemüsefrau schrie leise auf. Der Kohlkopf fiel zu Boden. Die Frau sank auf den Schemel und stöhnte: „Ich kann nicht, nein, nein!“ Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Käuferin efschrak: „Um Gottes willen, was ist Ihnen denn?“ Die Marktfrau hob den Kopf und sah, daß die Leute schon ste- henblieben. Da nahm sie sich zusammen und drüdete die Schultern zurück. Ein Blick zur
Uhr hinauf: zwanzig Minuten nach zehn. Nun war wohl schon alles vorbei ...
Die Marktfrau hielt noch zwei Stunden aus, bis alles Gemüse verkauft war. Dann aber eilte sie, was der Atem hergeben wollte, zum Krankenhaus. Sie fragte nach dem kleinen Martin Nehring, der wegen Rippenfellentzündung operiert worden sei. Der Pförtner wies ihr den Weg. Sie rannte die Treppen hinauf. Sie sah ihr Kind. Es war blaß und schwach. Aber es lächelte selig: „Mammi!“
Die Oberschwester im Vorzimmer sagte ernst: „Für ein Kind eine schwere Operation. Wußten Sie das?“ Die Mutter nickte. — „Und da haben Sie währenddessen auf dem Markt gestanden? Das nenne ich tapfer!“ „Aeh“, meinte die Frau, „wer sollte denn sonst das Gemüse verkaufen? Mein Mann ist ja auch auf der Arbeit. Man tut, was man kann.“
Adler, Roß und Rabe
Von G. E. Lessing
Der Rabe bemerkte, daß der Adler ganze dreißig Tage über seinen Eiern brütete. Und daher kommt es ohne Zweifel, sprach er, daß die Jungen des Adlers so allsehend und stark werden. Gut! das will ich auch tun.
Und seitdem brütet der Rabe wirklich ganze dreißig Tage über seinen Eiern; aber noch hat er nichts als elende Raben ausgebrütet.
*
Man fragte den Adler: Warum erziehst du deine Jungen so hoch in der Luft?
Der Adler anwortete: Würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, wenn ich sie tief an der Erde erzöge?
*
Sei auf deinem Flug nicht so stolz! sagte der Fuchs zu dem Adler. Du steigst doch nur deswegen so hoch in die Luft, um dich desto weiter nach einem Aase umsehen zu können.
So kenne ich Männer, die tiefsinnige Wel1- weise geworden sind, nicht aus Liebe zur
Wahrheit, sondern aus Begierde zu einem einträglichen Lehramte.
*
Auf einem feurigen Rosse floh stolz ein Knabe daher. Da rief ein wilder Stier dem Rosse zu: Schande, von einem Knaben ließ ich mich nicht regieren!
Aber ich, versetzte das Roß. Denn was für Ehre könnte es mir bringen, einen Knaben abzusetzen?
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Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre der Götter beraubte und von ihren Opfern mit lebte. Da dachte er bei sich selbst: Ich möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern hat. weil er ein prophetischer Vogel ist; oder ob man ihn für einen prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit de« Göttern zu teilen.
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Ein frecher Fuchs rettete sich auf eine Mauer. Um auf der andern Seite gut hera-b- zukommen, ergriff er einen nahen Dornenstrauch. Er ließ sich auch glücklich daran nieder, nur daß ihn die Domen schmerzlich verwundeten. Elende Helfer, rief der Fuchs, die nicht helfen können, ohne zugleich zu schaden!
Kulturelle Nachrichten
Die „Israelitische Kultusvereinigung Württemberg“ hat die frühere Turnhalle der jüdischen Schule in Stuttgart zu einer provisorischen Synagoge umgebaut. Der zurzeit einzige gottesdienstliche Versammlungsraum der Israelitischen Kultusvereinigung in Württemberg ist am Samstag mit einer religiösen Feier geweiht worden. Die Kultusvereinigung zählt in Stuttgart 650 Mitglieder.
Am 11. und 12. Juli veranstaltet das Freiburger Kunsthaus Pfisterer seine zweite Auktion, die sich im wesentlichen auf antike Möbel und Kunstgewerbe beziehen wird: Porzellane, Fayencen. Zinn des 18. Jahrhunderts und früher, und Orientteppiche. Besonders erwähnenswert sind einige feine französische Golddosen aus der Zeit
Siernennacfit
Endet schon des Tages Leben Und sein ganzes Glück?
Töne und Gestalten schweben In sich selbst zurück.
Zwischen Wachen, zwischen Träumen Trinkt die Seele schon,
Zugeweht aus andern Räumen,
• Leisen Harfenton.
Breite nun, du sternenschöne,
Atemstille Nacht,
Deine Schleier und versöhne,
Wo ein Leiden wacht.
JOHANN GEORG FISCHER
..tuiiiiMiintiiimmiimtinimniiilmiliiittniiiii
Ludwig XVI. und ein seltener Hausmaler-Druck mit Malerei von Abraham Helmhack (um 1700).
Für die württ. Landesbühne, die städt Theater in Ulm, Heilbronn, Mannheim, Heidelberg und Pforzheim, sowie für verschiedene Gemeindetheater im württembergischen und badischen Unterland sollen auf Beschluß des Finanzausschusses des württembergisch-badischen Landtages Theaterzuschüsse in einer Gesamthöhe von 675 000 DM gewährt werden.
Die „Deutsche Akademie der Wissenschaften“ im Sowjetsektor von Berlin, die unter diesem Titel die Tradition der „Preußischen Akademie der Wissenschaften“ fortführen will, feiert am 11. Juli das 250jährige Bestehen. Am 11. 7. 1700 konnte der Philosoph Leihniz seinen Plan, einen Kreis auserwählter Wissenschaftler zu gemeinsamer Forschung zu versammeln, verwirklichen.
Das Faust-Ballett „Abraxas“ von Werner Egk, über das schon im bayerischen Landtag heftig diskutiert worden ist, beschäftigt nun auch den Münchener Stadtrat. In der erregten Debatte sagte der Münchener Oberbürgermeister Thomas Wimmer, es sei zwar ein unverzeihlicher Fehler, kulturelle und politische Dinge zu vermischen, aber man könne sich nicht für oder gegen den bayerischen Kultusminister Dr. Hundhammer entscheiden.